Einzelbild herunterladen
 

Abend- Ausgabe

Nr. 604 B 294 49. Jahrg.

Rebattion und Berlag, Berlin SW 68, Lindenstr. 3

Fernsprecher A7 Amt Donhoff 292 bis 297 Telegrammabreffe: Sozialbemotrat Berlin

Vorwärts

BERLINER

VOLKSBLATT

FREITAG

23. Dezember 1932

Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts...... 10 Bf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe Morgenausgabe

Bentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

Knechtische Seelen

-

Gestern noch die ,, deutsche Eiche" Heute eingestampfte Leiche. Deutsche Mannhaftigkeit, Bürgerſtolz, Rittertruß, aufrechte Gesinnung diese seit dem Novemberverbrechen verloren gegange­nen Tugenden des freien Mannes sind es, welche die Helden des Hakenkreuzes die jetzt an den Straßeneden betteln gehen- dem gesunkenen deutschen Volke wieder­bringen sollen. Die letzten Wochen haben einige herrliche Beweise dafür gebracht, wie diese Vorsätze der Männlichkeit in die Tat umgesetzt werden und wie der neue Bastillen­ſturm der Nazis gegen die Schleicher- Feste in Szene gesetzt wird, lohnt es sich, sie den staunenden Volksmassen immer wieder in Erinnerung zu rufen.

"

, Gradlinigkeit, Mannhaftigkeit und Treue, das sind die Grundzüge seiner Wesensart"- so wurde Gregor Straßer noch am 8. Dezem­ber im ,, Illustrierten Völkischen Beobachter" gefeiert, so haben sie ihn in tausend Ber­jammlungen angehimmelt, so war das Glaubensbekenntnis all dieser Helden.

,, Der treulose Hund, der Straßer! Unserem Führer solches Leid zuzufügen",- tönte die robuste Stimme eines Reichstagsabgeord­neten, als die weinende Korona am Abend des 9. Dezember um den weinenden Führer versammelt war und legte damit Zeugnis ab für die Treue und Mannhaftigkeit", wie fie in jenen Kreisen dem gefallenen Kame­raden gegenüber geübt wird.

-

Wenn unser Führer einen zum preußi­schen Ministerpräsidenten bestimmt hat, dann ist die Sache für uns erledigt und fein anderer kommt mehr in Frage" sicherte der nicht minder stolze Urpreuße Kube, als Hitler seinen Liebling Göring an Straßers Stelle zu setzen gewillt war.

ver=

Preußen den Breußen", lautete ihre Parole da kommt der Charlatan aus Braunau in Niederösterreich , der Regierungs­rat von Braunschweig , der umwechselnd in München oder in Berchtesgaden residiert und befiehlt einen Ministerpräsidenten und 162 preußische Naziabgeordnete sinken in die Knie und beten im Chor ,, Herr, dein Wille geschehe!" Mannhaftigkeit und Ritterstolz, mie er nicht herrlicher sich offenbaren kann. Sie ist ein Charakterbild aller Diktatur: gläubigen, die hoch über den waschlappigen Demokraten stehen nicht nur auf der Rechten, nein, vollkommen ebenbürtig auch auf der Linken.

-

In Elmshorn hat ein fommunistischer Stadtverordneter und Reichstagsabgeord­neter Jürgensen der Name hätte fast einen unserer festesten schleswig - Holsteinischen Genossen in Mißkredit gebracht- es ge­wagt, in der Stichwahl zwischen einem bürgerlichen und einem sozialdemokratischen Bürgermeisterkandidaten dem letzteren den Vorzug und die Stimme zu geben. Kaum war die Sünde begangen, da erhob sich der Sturm im Lager jener, die täglich von der ,, Einheitsfront aller Arbeiter" lügen, und Herr Jürgensen, der aufrechte Mann im Lager der Rötesten erließ jene de- und wehmütige Abbitte, die wir schon erwähnten, die aber im Wortlaut genossen werden muß, um die ganze Selbstschändung dieser Gesellen zu ermessen. Herr Jürgensen von den Kom­munisten erklärt:

,, Bei der Bürgermeisterwahl in Elmshorn am Sonnabend, dem 10. Dezember 1932, habe ich im zweiten Wahlgang für den Vorschlag der So zialdemo! ratischen Partei, für den Stadt­rat Petersen, meine Stimme abgegeben

Meine Haltung bei dieser Abstimmung war politisch falsch und widersprach der politischen Linie der Kommunistischen Partei, deren Durch­führung allein den Intereffen der Arbeiterklasse

entspricht.

Reine falsche Haltung bei der Ab­

Protest gegen fünftliche Teuerung

Gewerkschaftliche Spitzenverbände gegen Beimischungspläne

Die Vorstände des ADGB., des AfA­Bundes und des Allgemeinen Deutschen Beamtenbundes haben gemeinsam an den Reichskanzler folgendes Telegramm

gesandt:

Die unterzeichneten gewerkschaftlichen Spizenverbände erheben hierdurch schärfsten Protest gegen jede Kon

tingentierung der Einfuhr von

Margarinerohstoffen, gegen

jeden Beimischungszwang zur Margarine, sowie gegen alle die Mar­garine als wichtiges Volksnahrungsmittel verteuernden oder verknappenden Maßnahmen.

Spiel mit zahlen

Die Winterhilfemaßnahmen der Reichsregierung- Verlängerung und Erweite­

Rothe, Teichmann, Schmidt frei!

Haftentlassung vom Gericht angeordnet

unter

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat sich die frühere Sondergerichtskammer Borjih des Landgerichtsdirektors Iolf mit der Frage befaßt, ob der Reichsbannermann Mag Rothe unter die Amnestie fällt. Es hat diese Frage mit 3a beantwortet. Es fiel dies der Kammer unter dem Borjih des Landgerichts­direktors Tolk um so leichter, da Landgerichts­direktor Tolf die gesamte Prozeßmaterie guf fennt und unter seinem Borsih seinerzeit das Zuchthausurteil gegen Rothe gefällt wurde.

Rothe hat von Anfang an bis zum letzten

Augenblid feine Unschuld beteuert. Er war, empört über das Urteil, das er für ungerecht hielt, in den Hungerstreit getreten. Allein die Ueberzeugung, daß seine Freunde draußen nicht aufhören würden, den Kampf um ihn zu führen, konnte ihn veranlassen, den Hungerstreik aufzunehmen. Die dank der Sozialdemokratie durchgeführte Amnestie hat jetzt ihm die Freiheit wiedergegeben. Der Entlassungsbefehl ist bereits telegraphisch nach Cudau über­wiesen. Möglicherweise dürfte er bereits in den Abendffunden in Berlin einfreffen.

In den frühen Nachmittagsstunden fiel auch die Entscheidung der Tolf- kammer über die Ange­legenheit der Reichsbannerleute Teichmann und Schmidt, die zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt waren. Auch in diesen Fällen wurde die Freilassung beschlossen.

Die Entscheidung der Kammer im Fall Rothe wurde von der Staatsanwaltschaft mit einer gemiffen Spannung erwartet. Sie hat grundsätzliche Bedeutung. Es gibt mehrere Fälle, die ähnlich gelagert find wie dieser Fall. In gewissen Fällen wird nun die Staatsanwalt schaft von sich aus Entscheidungen treffen, die durch

stimmung entsprach dem Wunsch, noch besser als bisher den sozialfaschistischen Charakter dieser Politik der SPD. entlarven zu können und stellt keinerlei Vertrauensvotum für die SPD dar. Aber auch dieser Gesichtspunkt war falsch....

Elmshorn , 15. Dezember 1932.

Reinhold Jürgensen ." Ich will es nie, nie wieder tun, wimmert die Heldenseele in einer Erbärmlichkeit, die nur noch bei den Nazis ihresgleichen hat.

Wahrlich, diese Herrschaften sind berufen, sich ihres Mutes und ihrer Tapferkeit im Gegensatz zu den Sozialdemokraten zu rühmen. Wenn das Ekki oder der große Adolf winkt, die Zentrale" oder das Braune Haus befiehlt, dann liegen sie plati auf dem Bauch, wie es der erbärmlichste Spießer zu Wilhelms Zeiten nicht jämmer licher zu tun vermochte. Und die Gesellschaft will die Welt durch Mannhaftigkeit erlösen.

-

Weitere Haftentlassungen

die Entscheidung der Kammer unter Borsiz des Landgerichtsdirektors Dr. Tolf gewissermaßen vor­weggenommen sind.

Die Zahl der Entlassenen hat sich unter­dessen wieder um ein beträchtliches vermehrt. Aus dem Zellengefängnis sind jetzt bereits 50 Straf­

rung der Frisch fleisch und Kohlenver billigung für Erwerbslose fosten nach amt­licher Darlegung 23,5 Millionen gegen 11,5 Mil­lionen im vorigen Winter.

Daß die Zahl der Hilfsbedürftigen in diesem Winter unvergleichlich höher ist. wird bei dieser amtlichen Mitteilung einfach außer Betracht ge­laffen. Wie unzulänglich die., Berbilligung" im einzelnen ist, haben wir hier mehrfach dargelegt.

gefangene entlassen, aus Tegel etwa 90; weitere 50 Entlassungen stehen bevor, aus Plötzensee 55. Die Zahl der aus den Zuchthäusern Luckau und Brandenburg Entlassenen wird morgen früh fest­stehen.

3

Bei der Berliner Gefangenen fürsorge machten sich bereits heute morgen die Auswirkun= gen der Amnestie bemerkbar. Etwa 20 hilfe= suchende Strafentlassene mußten be­treut werden. Es ist jedoch anzunehmen, daß eine große Zahl von Entlassenen sich direkt an die Wohlfahrtsämter gewandt hat, deren Fürsorger ihnen von früher her bekannt sind.

Baul Boncours Mehrheit

Zahlenmäßig vergrößert- Innerlich gefestigt

Paris , 23. Dezember. Zahlreiche Abgeordnete haben, wie das in Frankreich möglich ist, ihr Votum nachträg­lich geändert, so daß die Ziffer des Journal Officiel" lautet: 379 für und 166 gegen. Die ge­samte Rechte und die rechte Mitte, mit Ausnahme der katholischen Demokraten, die sich gespaltet haben, und einige 60 Abgeordnete, die sich der Stimme enthielten, haben gegen die Regie­rung gestimmt. Die Regierungsmehrheit ist also eine

reine Linksmehrheit, zum Unterschied von den Mehrheiten, die Herriot in den meisten Fällen erhielt und die einen Teil der rechten Mitte umfaßten.

Ob diese homogene Mehrheit zusammenhält, wird von den Finanzplänen der Regierung, die sie im Januar einzubringen gedenkt, und von der Gestaltung ihrer Abrüstungspolitik ab­hängen. Die Rechtspresse ist mit dieser Entwick­lung der Dinge nicht zufrieden und kündigt der unter dem Einfluß der Sozialisten stehenden Regierung den schärfsten Kampf

an.

Sie hofft darauf, daß der Senat dieser Re­gierung, die nur das Vorspiel zu einem Kabinett Léon Blum sei, bald ein Ende machen werde.

*

Die gewaltige Mehrheit, die der Regierung Paul- Boncour das Vertrauen ausgesprochen hat, entspricht durchaus dem parlamentarischen Stim­menverhältnis zwischen rechts und links. Wenn nun trotzdem vielfach versichert wird, daß dieses Kabinett nicht von langer Dauer sein kann, so liegt das daran, daß noch nie ein Ministerpräsident sich so start an die Sozialistische Partei angelehnt und um ihre Unterstützung ge= worben hat wie Paul Boncour . Sicher ist er dabei nach dem Geschmack der demokratischen Mittelgruppen, die ihn einstweilen unterstützen, und sogar mancher Radikalen etwas weit ge= gangen. Die Sozialisten haben durch den Mund Leon Blums die grundsäglichen Bekennt­niffe des neuen Ministerpräsidenten zu ihrem Programm und zu ihren Ideen mit Genugtuung begrüßt. Aber vielleicht wird gerade bei dieser demonstrativen Sympathiekundgebung der Sozia listen für ihren ehemaligen Mittämpfer manchen

bürgerlichen Lintstreifen bereits etwas unheimlich zumute gewesen sein. Das demokratische Bürger­tum Frankreichs will zwar links, aber nicht zu sehr links regiert werden.

Gestern konnte zwar dieses Gefühl noch nicht zum Ausdruck kommen, aber sehr bald dürfte der Druck der kapitalistischen Kreise, der Banken, der Schwerindustrie, der Handelskammern, der Armee und überhaupt der besseren Gesellschaft" einsetzen und sich in täglichen Angriffen der großen Pariser Presse verstärken, bis schließlich Konflikte im Ka­binett selbst entstehen und Paul Boncour vor der Alternative steht: entweder die Unterstützung der Sozialisten zu verlieren oder den Rechtsabmarsch eines Teils feiner bürgerlichen Linksmehrheit in Kauf zu nehmen.

Wann und bei welcher Gelegenheit dieser Konflikt entstehen wird, läßt sich noch nicht voraus= sehen. Oft sind es gerade solche Regierungen, denen die kürzeste Lebensdauer prophezeit wird, die sich am längsten halten. Die finanziellen Sanierungsmaßnahmen, die Paul Boncour und sein Finanzminister Chéron vorhaben, sind noch nicht präzisiert worden. Aber ihre Bekanntgabe

in den ersten Wochen des kommenden Jahres dürfte die erste große Belastungsprobe für die neue Regierung sein.

Bei aller Sympathie, die Léon Blum dem neuen Regierungschef bezeugt hat, zeigte er sich gerade in diesem Punkte zumindest skeptisch und abwartend. Denn er kennt die Stärke der tapitalistischen Gegenkräfte, die gerade bei ent­scheidenden Finanzmaßnahmen gegen alle fort­schrittlichen und sozialen Lösungen eingesetzt werden und schon manche Linksregierung zum Rückzug gezwungen haben.

Schon jetzt aber verdient festgehalten zu werden, daß Paul Boncour Worte über die Bedeutung der organisierten Arbeiterschaft im demokratischen Staat gefunden hat, wie noch nie zuvor ein französischer Staatsmann. Der Mann, der einst als Anwalt die Interessen des allge­meinen franzöfifchen Gewerkschaftsbundes vor Ge­richt vertrat, als Millerand dessen Auflösung betrieb, hat damit bewiesen, daß er kein Renegat ist. Er hat auch ein grundsätzliches Bekenntnis zu den großen Reformen abgelegt, die die Sozialistische Partei in ihrem Aktionsprogramm vor Jahresfrist gefordert hat. Allerdings hat er ihre Durchführbarkeit im jezigen Augenbli