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Awei Lebende und ein Toter
Nach dem Choral sprach der Pfarrer mit tiefer Innerlichfeit.
,, Wir sind eine große Schar Leidtragender", sagte er ,,, die mit der Gattin und dem Söhnchen des treuen Verstorbenen hier zu= sammen stehen. Da scheint die Frage uns natürlich: Herr, mußte dies geschehen? War dies notwendig? War es nicht möglich, daß er weiter unter uns Lebenden hätte wandeln dürfen? Herr, sein Lächeln war uns noch nötig, seine Freundlichkeit war uns nötig. Herr, warum muß seine junge Gattin so jäh und unerwartet ohne ihren Versorger, ihren Freund und Beschüzer stehen? Warum muß sein Sohn aufwachsen ohne den Vater, den er so bitterlich vermissen wird?
Ja so fragen wir Menschenkinder. Gottes Weisheit aber ist uns verborgen. Wir wissen nicht, was er mit uns im Sinne hat. Wir wissen nicht, was dem Verstorbenen vielleicht erspart geblieben ist. Und Jesus Christus selber hat gesagt: Noch be greifst du nicht, was ich an dir tue, aber es kommt die Zeit, da du es begreifen wirft.
Auch unser teurer Verstorbener wird es einst begreifen. Dann wird es ihm flar werden, daß es notwendig war. Daß es ihm zum besten diente.
Und eines wissen wir: Wir fennen seinen Tod; wir wissen, daß er in Ehren fiel auf dem Posten, der ihm von Gott bestimmt
,, D Erif", brach es aus ihr heraus. Barum hat er's nicht gemacht wie du!" Und plötzlich lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und meinte wie ein Kind.
Es dauerte nur einen Augenblick. Aber es mar, als rufe sie nach Schutz- oder Verständnis oder Ruhe oder Hilfe.
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Der Auftritt versezte Berger in hilflose Verwirrung. Auf dem ganzen Heimweg waren er und Helene schweigsam und fanden nicht den Mut, sich in die Augen zu sehen.
an
Ist sie getränkt? fragte er sich erstaunt. In tiefer Erschütterung dachte er Esther Quisthus. Er sah sie vor sich, lebend wie im Traum. Sah, wie fie vornüberge beugt in der Kapelle saß. Und wie sie am Grabe stand und erst Helene und dann ihn anjah.
Auch die Worte, die sich ihr entrangen, ein Bormurf, nicht gegen ihn, nein gegen den Toten: Warum hat er's nicht gemacht wie du!
Sie war der erste und einzige Mensch, der diese Worte gesagt hatte. Aber war sie nicht auch die einzige, die ihre Bedeutung fannte, die volle und fürchterliche Bedeutung?
Als sie zu Hause angekommen waren und Helene noch immer stumm und verschlossen in ihrer Getränktheit verharrte, folgten die Worte ihm wie eine heilende Gnade.
Die Abendzeitungen brachten ausführliche Beschreibungen der Beerdigung. Sie lasen sie beide, aber keiner sprach darüber. Sie erwähnten überhaupt das Geschehene mit feinem Wort. Nicht vor dem nächsten Abend. Als Berger nach Haus fam, merfte er gleich, daß etwas in der Luft lag. Irgendwas erinnerte ihn an Sonnabend. Es machte ihn unruhig, aber er fragte nicht. Beim Abendessen jaß er nur immer und martete, daß es fäme. Wartete und fürchtete sich; denn er mußte ja, oder hatte einen Berdacht, was es war.
Blöglich sah sie auf und ihr Gesicht war bleich und verbittert. Sie fonnte nicht länger an sich halten. ,, Hast du's gelesen? Esther hat tausend Kronen bekommen von der Stadt. Und Lüdersen hat eine Gabe gefriegt eine Ehrengabe. Fünfhundert."
Er nickte furz. Ja", antwortete er schüch tern. ,, Aber tu mir die Liebe und sprich nicht davon."
Da glitt ein halb furchtsamer, halb herausfordernder Zug über ihr Gesicht. ,, Warum denn nicht? Du mußt dir schon gefallen lassen, daß man drüber spricht."
"
,, Gut also. Wenn du willst", antwortete er müde.
Der Elfte
Etwas in seiner Stimme machte sie verstummen. Etwas Ersticktes und Bürgendes, als ob er es nun bald nicht mehr aushielte. Aber in ihr arbeitete etwas Böses und wollte heraus. Es war ihr nicht mög lich, es zu verdrängen. Sie litt darunter- und litt doch noch mehr, weil es nun heraus mußte.
Berger stand mit einem stummen Nicken vom Tisch auf. Als er sein rastlos erregtes Wandern durchs Zimmer wieder aufge= nommen hatte, tam der kleine Leif ihm nachgelaufen. Er sah den Vater erstaunt und besorgt an: ,, Bist du wieder frank, Bati?"
Berger blieb stehen und mürgte an einer Qual, die ihm die Kehle zuschnürte. ,, Nein", sagte er freundlich. Wie kommst du darauf?"
"
,, Weil du so aussiehst, so- anders." Da lächelte der Bater. Aber das Kind merkte, wie wie müde dies Lächeln mar. Instinktiv fühlte der Junge, daß der Vater Trost brauchte. Und er nahm ihn sanft bei der Hand und suchte ihn abzulenken. ,, Komm, ich zeig dir was Hübsches."
Aber gerade da kam die Mutter. ,, Schnell ins Bett!" sagte sie kurz.
Der Junge sah den Vater voll Mitleid an und lächelte tapfer ein verunglücktes Lächeln, um ihn zu erheitern. Dann trollte er sich ins Bettchen. Aber im Nachthemd fam er nochmal zum Gutenachtsagen. Eine lange Angelegenheit war das, die mit dem ge= wohnten Zubettgeh- Ritual endete. Dann wurde im Schlafzimmer das Licht gelöscht. Die Tür durfte aber noch offen bleiber. ( Fortsetzung folgt.)
meinem Balkon aus fonnte ich dort Menschen herummimmeln sehen, Insekten ähnlich: das waren die Einlaßbegehrenden.
Am nächsten Morgen öffneten wir diesen Phantomen die Tür, die die zauberhafte Sage des
war. Als die Bflicht ihm gebot, das Leben Erzählung aus einem Sanatorium/ Von Henri Barbusse uses aus allen Teilen der Welt herbeilodte und
einzusehen, zauderte er nicht. Er tat, was für einen ehrliebenden und pflichttreuen Mann das einzig Rechte und Natürliche ist: Er verteidigte seinen Posten. Er setzte sein Leben ein und gab es hin."
Der Pfarrer sagte noch anderes, aber Berger hörte nichts mehr. Ihm war etwas geschehen, und nun saß er da, noch hilfloser und ärmer als er gekommen war.
Beim ersten Teil der Rede hatte er noch Helenes bangen Druck gegen seinen Arm gefühlt. Als aber die Worte über Quisthus' Tod tamen, fühlte er, wie der Druck fich langsam lockerte und dann erstarb. Die Hand glitt vorsichtig zurüd, machte sich frei und lag leblos in ihrem Schoß.
In Bergers Gesicht regte sich feine Linie, Er sah der Hand nicht nach. Erstarrt und reglos ließ er es geschehen, während seine Augen den Geistlichen unverwandt ansahen. Aber er hörte die Worte nicht mehr. Er war anderswo. Er war nirgendwo.
Ihn weckte ein plögliches und heftiges Weinen. Da konnte er das Gesicht wenden und er sah Esther Quisthus vornübergebeugt in ihr Taschentuch schluchzen zwischen den zwei schwarzbehandschuhten Händen. Ihr ganzer mädchenhafter Körper schüttelte sich unter einem hemmungslosen und krampfhaften Schluchzen.
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Bon da an ließen seine Augen sie nicht mehr. Er sah sie fizzen halb sinnlos vor Berzweiflung- ohne zu hören, ohne dabei zu sein. Der Gefang und das Niederlegen der Kränze gingen auch an ihrer beider Bewußtsein vorbei.
Dann trug man den Sarg zum Grabe. Berger und Helene gingen wie zwei Fremde nebeneinander. Sie sah mit einem vergrämten und verschlossenen Gesicht vor sich nieder. Er ging und dachte an die Gestalt dort drinnen in der Kapelle und an Quisthus, den sie da an der Spize des Zuges trugen. Es zehrte an ihm unruhig, und ein weher und schwindelerregender Gedanke drängte sich vor: Das hätten wir sein fönnen.
Da entdeckte er dicht vor sich Lüdersens rötlichbraunen Kopf mit dem Verband. Da fiel etwas in ihm zusammen und er wurde ruhiger und bittrer. Ihm war mit einem Male, als ob der da vor ihm der eigentliche Feind wäre, der Haupturheber all des Bösen, was über ihm zusammengeschlagen war.
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Als sie den Sarg hinabsentten, brach Frau Quisthus abermals zusammen. Sie weinte laut und jammernd, während sie den Kleinen heftig an fich drückte. Als sie die drei Handvoll Erde hinabgeworfen hatte, wurde fie ruhiger. Mit dem Knaben ließ sie sich auf den Bretterstieg über dem Erdhügel führen und wunderlich einsam und verlassen stand sie da und starrte in die Tiefe hinab, in die sie ihn gesenkt hatten.
Mechanisch nahm sie die Beileidsbemeise entgegen ohne die Vorübergehenden an zusehen oder zu erkennen.
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Auch Bergers gingen zu ihr heran, erst Helene. Da war es, als ob etmas in Frau Quifthus erwache. Sie sah plöglich. Fra gen und verzweifelt, so daß die andere ihre Augen abwenden mußte.
Dann stand Berger vor ihr, entblößten Hauptes und mit ausgestreckter Hand. Da geschah etwas. Sie nahm seine Hand zwischen ihre beiden, und während ihr die Tränen über die Wangen strömten, hob sie das vergrämte Gesicht zu ihm auf.
Bei der Morgenvisite blieb der Chef, der ein bleiches Gesicht und schneeweißes Haar hatte, und dessen Brillengläser feierlich funfelten, plöglich vor meinem kleinen Tisch am Eingang des Saales 28 stehen und geruhte mir mitzuteilen, daß ich von nun an die Aufnahme der zehn Armen zu leiten hätte, die allmonatlich im Krankenhaus gastliche Unterkunft fanden. Dann schritt er, umgeben von der eifrigen Schar seiner Jünger, so groß und bleich weiter, daß diese eine berühmte Büste von Saal zu Saal zu tragen schienen.
Ich stotterte ein paar Dankesworte, die er nicht mehr hörte. Mein fünfundzwanzigjähriges Herz zitterte voll stolzer Freude bei dem Gedanken, daß ich auserwählt war, einer der edelsten Traditionen unseres Hauses zu dienen, in dem ich doch nur ein bescheidener Anfänger und wenig beachtet war unter den vielen Kranken von Rang und Ansehen.
Am Ersten jeden Monats wurde nämlich das pomphafte Sanatorium das Paradies von zehn Bagabunden. Dann öffnete sich eine der äußeren Türen, um die zehn zuerst Angekommenen hereinzulassen, ganz gleich, wer sie waren, woher ste tamen oder entronnen waren. Und einen ganzen Monat lang genossen diese zehn menschlichen Trümmer die Gastfreundschaft des feenhaften Sanatoriums genau so wie die vornehmsten Patienten des Chefs, wie die Erzherzöge und die Milliardäre. Ihnen gehörten die hohen Säle mit den blendend weißen Wänden, die korridore von der Breite von Straßen, die Sommer und Winter die milde Wärme des Frühlings ausstrahlten. Ihnen gehörten die riesigen Blumenbeete inmitten der grünsamtenen Rasenflächen, die wie zauberhaft große Buketts anmuteten. Ihnen gehörten die fernliegenden, unübersteigbaren Mauern, die den weiten Raum schütten vor den ziellosen Wegen draußen, vor den Ebenen, die sich erst am Horizont verlieren. Dreißig Tage lang taten die Flüchtlinge nichts anderes als Nichtstun. Ihre einzige Arbeit war das Essen, sie hatten keine Angst vor dem Morgen und dem Unbekannten. Jene, die Gewissensqualen peinigten, lernten die
Von Künstlern und fo Signatur
Ein Kunsthändler hatte ein Bild von Trüb ner hängen, ein gutes Bild, aber ohne Trübners Namenszug; wäre es figniert gewesen, hätte er einen viel höheren Preis dafür verlangen können. Er schickte also eine Photographie des Bildes an Trübner und bat um nachträgliche Signierung. Trübner antwortete: Jawohl, das Bild stamme von ihm, er verlange aber für die Signierung eine gewisse Summe. Der Kunsthändler verzichtete höflich: er habe sich erlaubt, den Brief Trübners auf die Rückseite des Bildes zu kleben.
Die Aehnlichkeit
Ein amerikanischer Millionär, der im Rufe stand, sein großes Bermögen in nicht einmandfreier Art erworben zu haben, ließ sich von einem berühmten Maler malen und hängte das Bild in seine Galerie Als er einem Besucher das Bild zeigte, fragte er ihn, ob er das Bildnis, das den Millionär mit den Händen in den Taschen darstellte, charakteristisch und und ähnlich fände. ,, Nein", meinte der Besucher. Warum denn nicht?", fragte der Millionär zurück. Der Besucher:„ Es wäre das erstemal, daß Sie die Hände in Ihren eigenen Taschen hätten."
H. Sch.
Dinge vergessen, jene, die eine Trauer bedrückte, lernten die Menschen vergessen.
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Begegneten sie einander zufällig, so konnten sie sich rasch abwenden. Spiegel, in denen sie ihren bösen Traum wiedergefunden hätten, gab es auf Befehl des Chefs- nicht im Hause. War der Tag vorüber, so empfing fie der Schlafsaat, ruhig und still wie ein Friedhof- aber ein guter Friedhof, wo man nicht tot ist, sondern wartet wo man lebt, ohne es gewahr zu werden. Am Ersten des folgenden Monats, früh um acht Uhr, gingen die zehn wieder fort, einer nach dem anderen, in die Welt hineingestoßen wie in das Meer. Zehn andere rückten an ihre Stelle, die ersten einer langen Reihe, die seit dem vorhergehenden Abend an die Mauer des Hauses bran dete wie die Wellen an die Ufer einer Insel. Her ein kamen die zehn Ersten, nicht mehr, nicht weniger niemals Bergünstigungen, Ausnahmen, ungerechtigkeiten. Nur eine einzige Regel galt: niemand wurde ein zweites Mal zugelassen. Sonst wurde nichts von den Anfömmlingen verlangt, nicht einmal die Bekanntgabe ihres Namens.
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Und so öffnete sich am Ersten jeden Monats, immer genau zur gleichen Zeit, die kleine Pforte, die die Armen einließ.
Ein dichtes Knäuel von Menschen drängte sich gegen die Mauer und die Tür. Kaum knirschte die Angel, so stürzte sich der zerlumpte Haufen, wie von einem Magnet angezogen, herein.
Der Gehilfe mußte sich ihnen entgegenstellen, um ein wenig Ordnung in diesen zügellosen Einfall zu bringen. Mit Gewalt mußte man jeden einzelnen der Belagerer, die Seite an Seite, Ellbogen an Ellbogen, zusammengeflumpt waren, aus der Masse herausreißen, in der sich einer verzweifelt an den anderen gehängt hatte. Der achte trat ein, der neunte der zehnte. Die Tür schloß sich wieder schnell und doch nicht schnell genug, als daß ich nicht, einen Schritt von mir entfernt, jenen noch gesehen hätte, dem sie vor der Nase zugeschlagen wurde: den elften, den Pechvogel, den Ausgestoßenen.
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Es war ein Mann von unbestimmtem Alter mit farblosen, welken Zügen und dunkel um= schatteten Augen. Verzweifelt blickte er mich an. Ich zuckte zusammen, so unvermittelt traf mich diese maßlose Enttäuschung, dieser schmerzvolle Ausdruck des stummen Gesichts. Im Augenblid - während sich die Tür wieder schloß erkannte ich, welche ungeheure Anstrengung er auf sich genommen hatte, um hierher zu kommen, sei es selbst zu spät, und wie sehr es ihm notgetan hätte, aufgenommen zu werden.
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Ich mußte mich mit den anderen beschäftigen, aber es ließ mir teine Ruhe: sobald ich Zeit fand, öffnete ich die Tür wieder, um zu sehen, ob der Mann noch da war: feine Seele mehr draußen. Die drei oder vier Ulebriggebliebenen -undeutlich wahrgenommene zerlumpte Geſtal ten hinter ihm maren alle wieder in die pier Winde zerstreut, verweht wie melte Blätter auf den Wegen. Ein Schauer pacte mich: etmas mie die Trauer dieser nom Schicksal Besiegten.
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Abends, im Bett, mußte ich wieder an fie denken, und ich fragte mich, warum sie pohl bis zum legten Augenblid ausharrten, wo sie doch mußten, daß schon zehn an der Tür warteten Was hofften sie? Nichts. Und dennoch hofften fie etwas mit diesem armseligen Wunderglauben, der dem menschlichen Herzen eigen ist.
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Es war im März. Am letzten Tage des Monats schlug gegen Abend ein etwas drohendes Gemurmel von der Straßenseite her, dort, wo die fleine Eingangstür war, an mein Dhr. Bon
die, um bis zu uns zu gelangen, auferstanden, wieder ans Licht gekommen waren aus den furchtbarsten irdischen Schlupfwinkeln... Wir nahmen die zehn, die zuerst eintraten, auf, wir waren angewiesen, den elften wieder ins Leben hinauszujagen unbeweglich stand er vor uns, auf der anderen Seite der Tür. Ich sah ihn an und senkte die Augen. Er sah schrecklich aus mit seinem hohlwangigen Gesicht, seinen mimperlosen Augenlidern. Es ging von ihm ein Vorwurf von un= erträglicher Selbstverständlichkeit aus.
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Als sich die Tür für immer zwischen uns ge= schlossen hatte, fühlte ich ein maßloses Bedauern, am liebsten hätte ich sie wieder geöffnet... Fast vorwurfsvoll wendete ich mich den anderen zu, die sich entzückt ins Haus begaben, und konnte nicht von dem Gedanken loskommen, daß jener andere, mehr als diese hier, der Pflege beðurst hätte.
Und so war es immer. Jedesmal wurde mir die Schar der Eingelassenen, der Zufriedenen gleichgültiger, und jedesmal fonnte ich meine Blicke nicht von jenem losreißen, den man nicht retten wollte... Und jedesmal erschien gerade er mir der Erbarmungswürdigste, und ich selbst fühlte mich in dem Verurteilten getroffen.
Im Juni war es eine Frau. Ich sah, wie sie begriff und anfing zu meinen. Ich zitterte, als ich sie verstohlen musterte. Die weinenden Augen der Frau schienen blutig wie frische Wunden.
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Im Juli war das gezeichnete Opfer besorders beklagenswert megen seines hohen Alters, und feiner war so jämmerlich wie der, den man im nächsten Monat zurückstieß so rührend jung war er. Ein andermal beschwor mich jener, den man gewaltsam aus der Schar der Auserlesenen entfernen mußte, mit flehentlich erhobenen Hän den, die aus den zerlumpten Hemdsärmeln hervor= lugten wie aus Scharpie. Jener, den das Schicksal im nächsten Monat ausschied, bedrohte mich mit der geballten Faust. Die Bitte des einen flößte mir Angst, die Drohung des anderen Mitleid ein..
Den elften vom Monat Oktober hätte ich beinahe um Verzeihung gebeten, so versteinert stand er da, mit seiner grauen Halsbinde, die sich wie ein Verband ausnahm, und so skeletthaft mutete er an in seinem Rock, der wie eine Fahne im Winde wehte... Was aber hätte ich dem Aermsten sagen können, der dreißig Tage später auf ihn folgte? Er errötete, stammelte eine schüchterne Entschuldigung und zog sich zurück, nachdem er sich mit einer tragischen Höflichkeit verbeugt hatte, die wohl ein leberrest aus besseren Tagen war...
So verging ein Jahr. Zwölfmal ließ ich die megmüden Wanderer, die Arbeiter die zu keiner Arbeit mehr fähig waren, die Verbrecher, deren Widerstand besiegt war, eintreten, zwölfmal ließ ich einige von jenen herein, die sich an die Steine anflammerten wie Schiffbrüchige an die Riffe der Küste. Zwölfmal mies ich andere, ähnliche, zurüd, die ich vielleicht lieber eingelassen hätte als die Begünstigten,
Ein Gedanke marterte mich: der der furchtbaren Ungerechtigkeit, an der ich mitschuldig wurde. Es war wahrhaftig tein Grund vorhanden, alle diese Armen so in Freunde und Feinde einzuteilen! Es gab dafür nur einen millfürlichen, ausges flügelten Grund: eine Zahl, ein Zeichen. Das mar feineswegs gerecht oder auch nur logisch.
Bald konnte ich diese Kette von Irrtümern nicht mehr ertragen. Ich suchte den Chef auf und bat ihn, mich von diesem Amt zu befreien, damit ich nicht jeden Monat dieselbe schlechte Handlung zu begehen brauchte...
( Autorisierte Uebersetzung aus dem Französischen von Sina Frender)