Morgen- Ausgabe
Nr. 607 A 298 49. Jahrg.
Redaktion und Berlag: Berlin SW 68, Lindenstr. 3 Fernsprecher A7 Amt Dönhoff 292 bis 297 Telegrammabreffe: Sozialdemokrat Berlin
Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
SONNTAG
25. Dezember 1932
Jn Groß Berlin 15 Pf. Auswärts....... 20 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Teils
Abgeordnete unter Kuratel
Der Ober- Dsaf der braunen Fechtbrüder liebt es, nach Cäsarenart ,, Verfügungen“ und„, Befehle" herauszugeben. So hat er neulich für den Be= reich seiner händeküssenden Gefolgschaft nach Gre gor Straßers ,, Bestrafung" eine neue Verfassung verordnet, deren Spitze eine Poli= tische Zentraltommission der NSDAP ." bildet.
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Eine solche Kommission, die ihre Büros und ihre Angestellten hat, muß natürlich auch etwas tun für ihr Geld. Deshalb hat sie jetzt fraft höheren Auftrags den voltserwählten Naziabgeordneten eine Weihnachtsgabe beschert.
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Sämtliche Abgeordneten der NSDAP. in den Länderparlamenten und kommunen werden durch einfache Verfügung unter Kuratel gestellt!
Alle diese Vertreter der alleinseligmachenden Lehre werden ,, verpflichtet", Anträge von der grundsäglicher Bedeutung vor. Ein= reichung sowie die beabsichtigte Stellung- nahme zu Anträgen grundsätzlicher Art anderer Parteien der Reichsleitung vorzulegen. Die nationalsozialistischen Fraktionen des Reichstags, des Preußischen und des Bayerischen Landtags werden dapon nicht berührt, sie unterstehen direkt dem Führer der Bewegung. Für die übrigen nationalsozialistischen parlamentarischen und tommunalen Bertretungen ist die politische Zentraltommission zuständig."
Mit einem Wort: Die Abgeordneten mit den Tressemuniformen und dem echten Hakenkreuz werden für
Das Neueste vom ,, Dritten Reich"
politisch unmündig erklärt
und der Reichsleitung" als dem Berufsvor mund unterstellt. Wehe, wenn sie es wagen sollten, in grundsäßlichen" Fragen ein eigene Meinung auf Grund ihrer besonderen Lokalfenntnisse zu äußern! Das jüngste Gericht des Dritten Reiches wäre ihnen sicher.
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Aber nicht nur den Abgeordneten geht es so. Auch die übrigen Dienststellen" werden an die Kandare genommen. Sie haben jede„ parteiamtliche Berlautbarung", die grundsägliche Fragen berühren, zur Genehmigung erst nach München einzureichen. Denn das bißchen politischer Verstand ist nach Hitlers unerforschlichem Ratschluß in dem dortigen Braunhaus aufgestapelt.
wenn
Die Redakteure der Naziblätter müssen gleichfalls erst in München anfragen, fie ,, Berlautbarungen grundsätzlichen Charakters" veröffentlichen wollen. Erklärungen an die Auslandspresse dürfen nur vom„ Führer" selbst oder mit seiner höchstobrigteitlichen Genehmigung gegeben werden. Inter views müssen schriftlich niedergelegt und osaflich approbiert sein.
Schließlich aber und das ist nach dem Streit bei der BB G. von besonderem Interesse wird die
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Teilnahme an Streifs unter Kontrolle
gestellt. Anträge zur Genehmigung der Teilnahme an Streiks oder Aussperrungen sind der Zentralfommission" zu unterbreiten. ,, Alle anläßlich von
Der Vorwärts" als Prophet
Voraussage über Hitler vor zehn Jahren
Hellseherei, die alle fünftigen Ereignisse vorausjagen tann, gibt es nur in der Vorstellung der Abergläubigsten. Daß aber die margistische Methode, die Dinge zu betrachten, eine gewisse Möglichkeit gibt, große Linien der Entwicklung vorauszusehen, das ist durch mehr als einen Fall bewiesen, vor allem durch die genialen Voraussichten von Karl Marx selbst. Hier soll ein Fall aufgezeigt werden, in dem es dem, Vorwärts" mit Hilfe eben dieser Methode möglich gewesen ist, etwas vorauszusagen, was zehn Jahre später aufs Haar genau eingetroffen ist.
Am 28. Dezember 1922 führte der ,, Borwärts" mit der Kreuz- Zeitung " eine Polemik über den damals noch ziemlich unbekannten Adolf Hitler . Es war elf Monate vor dem Novemberputsch, der den Namen dieses Mannes erst in aller Mund brachte. Damals veröffentlichte die ,, Kreuz- Zeitung " einen Auffay thres Münchener Mitarbeiters, eines gewissen Herrn von L, der sich in schnöselhafter Herablassung mit dem Fall beschäftigte. Dort hieß es: Dieser jetzt 33jährige Oberösterreicher habe sich durch seine Beredsamfeit zum Führer der( damals noch sehr kleinen) Nationalsozialistischen Partei aufgeschwungen. Man sehe in Bayern dieser Partei ihre Auswüchse und ihr ,, manchmal sehr unbequemes und robustes Auftreten" gern nach, da sie bemüht sei, ,, den Arbeiter aus den Klauen des Margismus zu reißen" Hitler , so heißt es weiter, werde von seinen Anhängern für den tommenden Diktator gehalten, aber, so fügte Herr von L. etwas hochräfig hinzu,
Hitler, werde doch als grundehrlicher Mann die Grenzen fühlen, die dem aus dem Niveau des einfachen Handarbeiters Emporgekommenen nun einmal gesetzt sind".
Zu diesem Artikel schrieb der ,, Borwärts" am 28. Dezmber 1922 folgendes:
In deutschnationalen und bayerisch - offiziellen Kreisen hält man diesen Hitler für einen sonder= baren Schwärmer, an dessen Messiaseigenschaft man nicht glaubt. Der Kerl ist Proletarier von Haus aus und als solcher schon an sich mindermertig. Sein Wirtschaftsprogramm betrachtet man als demagogischen Unsinn. Daß seine Knüppeltaftit zu Zusammenstößen, zu Blutver gießen und Berlust von Menschenleben führt, weiß man. Man rechnet taltblütig damit und erhebt dagegen teinen Einspruch. Denn Hitler wird, jo hofft man, die Arbeiter ,, den Klauen der Sozialdemokratie entreißen", und dieser 3wed heiligt jedes Mittel.
Wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hat, wird man ihn schon wieder gehen heißen, und dann werden die Herren von£., von I. und von. kommen und mit dem Monokel im Auge Deutschland regieren, wie es sich gehört." Das schrieb der Vorwärts", wie gesagt, am 28. Dezember 1922. Bor zehn Jahren! Zehn Jahre später bemerkten die Nationalsozialisten, daß, mit Goebbels zu sprechen, über ihren Rücken die feinen Leute in die Amtlichkeit hinaufgeklettert waren.
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Der Vorwärts" hatte diesen Erfolg der nationalsozialistischen Bemühungen schon vor zehn Jahren vorausgesagt.
Die Reichsfinanzen
Kein erfreulicher Weihnachtsausweis
Das Reichsfinanzministerium veröffentlicht jetzt das Ergebnis der Steuer- und Zollein= nahmen fürden Monat November. Die Ge= samteinnahme in den acht vergangenen Monaten des laufenden Rechnungsjahres 1932/33 ( April/ März)) ergibt einen Steuereingang von
Streits oder Aussperrungen beabsichtigten Veröf fentlichungen ebenso. Entwürfe der vorzulegenden Veröffentlichungen sind dreifach auszufertigen. Das Nichterheben von Einspruch bedeutet weder die Uebernahme der rechtlichen Verantwortung, noch der Verantwortung für den sachlichen Inhalt durch den Vorsitzenden der PZK."
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Die Bewegung" zur angeblichen Befreiung Deutschlands wird immer deutlicher zu einer geistigen Versklavung, wie sie selbst das früheste Mittelalter taum tannte.
Knechtische Seelen mögen sich in solcher geistigen Bevormundung wohlfühlen. Aber man soll endlich aufhören, diese Diktatur des Un= verstandes als ,, Befreiung der Nation" aus= zugeben!
Otto Straßer bleibt dabei Er will Nazi- Klage erzwingen
Die Schwarze Front "( Otto Straßer ) teilt mit: ,, Herr Dr. Frid verbreitet eine Berichtigung" der in Nummer 45 der Schwarzen Front " gegebenen Darstellung über die rührselige Szene in der Hitler- Fraktion. Die ,, Schwarze Front " verweigert die Aufnahme dieser Berichtigung, weil sie nachweislich unwahr ist. Sie wird im Gegenteil in vier aufeinander folgenden Nummern eine wörtliche Wiederholung ihrer Darstellung aus Folge 45 bringen, um die HitlerPartei zur gerichtlichen Klarstellung zu zwingen. Die Schwarze Front ", gez. Otto Straßer , Hildebrand."
4455 Millionen, während auf Grund des Voranschlags in dieser Zeit 4976 Millionen hätten eingehen sollen. Das wenig erfreuliche Weihnachtsgeschent, das der Reichsfinanzminister auf den Tisch des Hauses legt, besteht also in einem Einnahme defizit von bisher 521 Mill. Marf.
Die Mindereinnahmen bei den Besitz- und Vertehrssteuern allein betragen sogar 538 Mill. Mt., die sich jedoch um rund 18 Mill. Mt. erhöhte Zolleinnahmen entsprechend verringern.
Die größte Enttäuschung haben die Eingänge aus der Umsatzsteuer gebracht, die bisher nur knapp 900 gegen 1213 Mill. Mt. im Voranschlag brachten. Es muß sehr bezweifelt werden, daß die ab 1. Oktober eingeführte Versteuerung der Kleinstumfäße bis zu 5000 Mt. noch eine wesentliche Besserung der Einnahmen aus der Umsatzsteuer mit sich bringt; wenn auch im November selbst die Umsatzsteuerzahlungen sich verhältnismäßig stark gehoben haben die Steuereinnah
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men lagen mit 119,6 Mill. Mt. nur um rund 10 Millionen unter dem Stande des Oktobers, obwohl in den Monat Oktober ein Quartals termin für die Kleinbetriebe fiel-, so ist dieses vorhandene Defizit doch nicht mehr annähernd auszugleichen.
,, Normaler Abgang"
Wie die Nazis Verluste zugeben
Bei den hessischen Nazis gibt es jeden Tag neue Ueberraschungen. Jetzt wurde der Kreisleiter von Darmstadt , Heß, seines Postens enthoben. Er soll durch den Landtagsabgeordneten Zürß ersetzt
werden.
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Den Mitgliederschwund bei der SA. suchen die Nazis durch die Erklärung zu bemänteln, daß ,, die Abgänge bei der SA. und SS. fich in durchaus normalen Bahnen halten". Noch vor wenigen Tagen las mans im Frankfurter Naziblättchen anders, dort wurden die Abmeldungen bei der hessischen SA. als ein infamer Schwindel der Judenblätter bezeichnet. Jegt müssen die Nazis selbst zugeben, daß Abmeldungen bei der SA. erfolgt sind.
Wirklichkeitsmut!
Notwendige Tugend des Sozialisten Von Oda Olberg
Je trüber und aussichtsloser die Wirklichfeit ist, um so mehr versucht man, ihr zu entrinnen. Wir haben viel mehr Auswege aus ihr, als uns bewußt sind. Wie sich der Körper durch Kleidung vor der direkten Berührung der Luft schüßt, so schützen wir die Seele vor der direkten Berührung mit der Wirklichkeit, und diese seelischen Schutzhüllen sind mindestens ebenso mannigfaltig, wie die der Kleidung.
In der sozialen Eiszeit, in der wir heute leben, würden wir alle seelisch erfrieren, wenn wir unsere Lebenswärme ungehindert ausströmten im Miterleben fremden Leides. Wie wir während des Krieges wir, die Zuhausegebliebenen- die Vorstellung der Menschen im Schüßengraben verdrängten, verdrängen mußten, so verdrängen wir heute die der sozialen Not wir, die wir Arbeit haben und Obdach. Und wie wir uns durch Umhüllen der Seele mit einem schlechten Wärmeleiter, mit einem für das Mitgefühl wenig durchlässigem Material, por seelischem Erfrieren schützen, so suchen wir auch unfern Verstand vor einer allzu direkten Berührung mit der Wirklichkeit zu bewahren.
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Die Wirklichkeitsflucht ist eine alte Begleiterscheinung der großen ge= schichtlichen Krisen. Da erscheint das Bedürfnis nach überfinnlichem Trost und steigt herab zu intellektuell sehr tiefen Stufen, bis zu Geisterbeschwörung und Wunderglauben. Es tun sich dem Intellekt die Notausgänge auf in die gewundenen Wege der Spezialforschung, die möglichst weit wegführen von der Not der Zeit. Man flüchtet in die großen Reize und Spannungen der Gefahr, die eine prickelnde Empfindung der Unwirklichkeit verleihen. Die Wenigen spielen das hohe Spiel mit sich selbst; die Vielen lassen es sich angenehm gruseln beim Wagnis der andern. Oder der Mensch sucht sein Traumland im Schnaps und feineren Rauschgiften, greift das Uebel da an, wo es Bewußtsein wird, im Gehirn, ändert die Welt nicht, aber trübt den Spiegel, in dem sich ihre Unvernunft spiegelt. Die meisten schließlich treten mitten hinein in die Wirklichkeit und schützen sich unbewußt vor ihr durch eine Rüstung wirklichkeitsfremder Vorstellungen, verengen sich den Blick durch das gesenkte Visier ihrer Schlagworte.
Daß sie das tun, ist ein Ausdruck des Bedürfnisses nach seelischem Schutz in dieser Welt des Unverstandes. Aus Schußbedürfnis zieht man die Rüstung an und senkt das Visier. Wer griffe sonst so kritiklos nach standardisierten Vorstellungen und Schlagworten?
Die einen wollen die Welt erlösen durch Beseitigung der Juden. Sie denken die Erlösungsformel gar nicht zu Ende. Der Vorteil der Formel ist gerade, daß sie das Kopfzerbrechen erspart. Die andern wollen die Rückkehr zur guten alten Zeit". Abgesehen davon, daß sie vielleicht nicht so gut war wie sie alt ist, lassen sich in ihr keinerlei Kräfte entdecken, die die Krise bändigen könnten. Sie steht als gute Zeit in der Erinnerung, nicht, weil sie die gesellschaftlichen Kräfte besser lenkte, sondern weil diese ihre heutige Unbändigkeit noch nicht besaßen. Einen kleinen Löwen gibt man in den Kinder300, und die Kinder freuen sich an ihm. Ist einmal der Löwe groß geworden, so genügt der Kinderzoo nicht, um ihn wieder zu einem harmlosen Tierchen zu machen. Dasselbe ist mit dem kapitalistischen System;