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ERSTE BEILAGE

Vorwärts

Die groß

Feierftunde

Wenn im Winter ein Fremder durch Werder geht, macht sogar der Hahn mit seinen Hühnern, daß er von der Straße kommt. Dann ist glücklich kein Geschöpf mehr in Werder zu sehen. Da haben die Leute in Werder inmitten der Inselstadt eine uralte, verwitterte Mühle stehen. Man braucht nicht einmal neugierig zu sein, um einiges über diese alte Windmühle erfahren zu wollen; aber es ist alles vergebens: niemand kommt oder geht, den man fragen könnte. Wenn in Werder die Uhr am Kirchturm schlägt, folgt das Echo aus allen Gassen, in jeder Stube hört man die Wanduhr schlagen. So still ist dieses Havelstädtchen im Winter und so klein. Als man endlich einen Mann am Rockzipfel erwischte und ihn fragte: Sagen Sie nur, Herr Nachbar, was treiben Sie eigentlich im Winter?", da antwortete er mit gelassener Miene: ,, Was sollen wir denn machen, wir schlafen." Der Winter ist die große Feierstunde der Kleinstadt.

Werder im Winter

Die Rechnung ohne Gäste

Es flang ein wenig nach Bosheit in der Ant­mort des Mannes, aber es ist doch nicht die Schuld der Berliner , wenn in Werder 36 Schankwirte die Vollkonzession haben und jeder dazu wenn mög­lich einen Tanzsaal, in dem ein ganzes Regiment Soldaten sich vergnügen könnte. Das mag für die Baumblütezeit vielleicht gar nicht ausreichend sein, aber jetzt um die Weihnachtszeit ist es etwas zu viel. Man bedenke: Werder hat rund 8000 Einwohner und 36 Bollkonzeffionen. Berlin hat 4 000 000 Einwohner, ist also 500 mal so groß und müßte den Durst einmal ausnahmsweise multipliziert demnach 18 000 Vollkonzessionen haben. Es hat aber nur 12 000. Von diesen 12 000 Gastwirten jammert einer immer mehr als der andere, und es ist in der Tat heute ein schme= res Gewerbe mit Schnaps zu handeln, aber wie ist es nun erst in Werder. Die Tanzsäle dort sind angelegt für den Trubel einer dreiwöchigen Blüte­zeit, zu Pfingsten stimmt die Rechnung bereits nicht mehr, und sie wird vollends zum Rätsel, wenn man meiß, daß jeder zweite Werderaner ja selbst seinen Obstwein im Keller hat. Und einen Wein

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meint der Sattlerlehrling, der den schmalen Gehsteig vor seines Meisters Haus tehrt wie Del, sage ich Ihnen!" So reden in Werder die Lehrlinge: erst vom Keltern , dann vom Sattlern, Schneidern oder Schustern.

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Es hat überdies auch beim Obst in diesem Jahr einen Betriebsunfall gegeben: die Aepfel sind aus­geblieben. Das ist nämlich ein Privileg der Apfel­bäume, Mucken zu haben; nach einem guten Jahr wird erst mal eine Pause eingelegt. Nun hatten wir im vorigen Jahr so viele Aepfel, daß wir sie 34 guter Letzt in die Chauffeegräben geschüttet haben sagte ein Obstzüchter und in diesem Jahr hatten wir dafür kaum einen einzigen." Allerdings kennen die Obstzüchter die Mucken ihrer Apfelbäume, sie können fast an den Fingern ab= zählen, welches die toten Jahre sein werden, aber jedesmal, wenn wirklich die Aepfel rar werden, sprechen die Werderaner davon, als sei eine Natur­Batastrophe erfolgt, etwa als habe ein Erdbeben oder ein tückischer Wirbelsturm das schöne alte Havelstädtchen heimgesucht. Das wäre ungefähr Das gleiche, als wollte man sagen, nirgendwo haben die Frauen so viele Kuchen zum Bäcker getragen als in Werder. Man wird jedoch in Werder sicher nicht mehr Streuselfuchen zum Weihnachtsfest essen als anderswo; wir standen nur so lange vor dem Bäcker und warteten, bis jemand vom Mühlen­berg kommt, uns die Geheimnisse der stillen Mühle zu enthüllen.

Alte Werderaner

Statt dessen kommt der Straßenfehrer über die Gassen. Wenn er nicht fegt, dann zürnt er. Ueber die Aktiengesellschaften. Was haben Ihnen die denn getan, verehrter Herr?"- ,, Ach, ich muß Ihnen das alles mal erzählen. 1881 bin ich zum Militär gekommen, zu den Zwanzigern in Wittenberg . Damals dienten wir noch drei Jahre, Oktober 1884 tam ich los vom Kommiß. Ich war gerade acht Tage zu Hause, ja, acht Tage nur, da fam ich hier in Werder bei der Brauerei an. Da wurde ich Staatskutscher. Ich habe einen feinen Tag gelebt, 27 Jahre lang. Dann wurde unsere Brauerei eine Aktiengesellschaft. Bah, da ist kein richtiger Chef mehr, die Aktionäre, die können kein Bier brauen, und so mußten wir 1911 unfere schöne Brauerei zumachen. Jetzt fege ich die Straßen. Haben Sie auch was mit Obst zutun?" So ist das in Werder: alle Gespräche enden beim Obst. Der eine erzählt ein wenig von seinen Alepfeln, der zweite von seinen Kirschen und der dritte von seinen Erdbeeren. Da wir über Aepfel bereits Bescheid wissen, braucht nur das Folgende hinzugefügt werden: deh Kirschen geht es schlecht, sehr schlecht sogar. Den Bäumen steckt immer noch der 29er Winter nicht in den Knochen, aber im Mart. Viele sind damals erfroren, aber in dieser Burzlebigen, hastenden Zeit hätte es zu lange ge= dauert, auf das Heranwachsen neuer Kirschbäume zu warten. So find an die Stellen der Kirschbäume Erdbeeren gepflanzt worden. Und in dem gleichen Maße wie die Ernten stiegen, santen die Preise. Jetzt sind die Werderaner tief betrübt um ihre Erdbeeren.

In einer kleinen Gasse hat die Frau Olga Eckardt an ihr Hoftor geschrieben:

Zum Wannenbad. Badezeit von 8 Uhr morgens bis 9 Uhr abends. Sonntags geschlossen. Diga Eckardt.

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Das ist die Badeanstalt von Werder . Es kam gerade ein Dungkutscher vorbei, er ging aber eine Gasse weiter zum Schwarzen Adler". Das sind wichtige Persönlichkeiten in Werder, die Dungkutscher. Er erzählte auch feine Sachen. Wenn wir meinte er über Dung mitreden wollen, dann müßten wir erst einmal unterscheiden lernen zwischen Dung und Mist. Dung ist gut, aber wenn er mit Mist in die Obstgärten gefahren fommt, dann machen die Züchter einen Mords­trach, Dung hätten sie bestellt und keinen Mist. Jetzt zwischen November und Weihnachten sei die Hochkonjunktur für Dung: etwa 20 bis 30 Waggons

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kämen jeden Tag auf dem Bahnhof in Werder an. Deshalb stinkt es dort auch zum Gotterbarmen. Entsprechend der Dungkonjunktur sind die Preise hoch, 35 Pfennig kostet der Zentner. Aber fuhr der Kutscher fort diese Preise ständen vor­erst nur auf den Rechnungen. Viele Obstzüchter hätten noch nicht ihren Dung von 1931 bezahlt, wegen der schlechten Obsternte. So waren wir abermals beim Obst, bei den Aepfeln, bei den Kirschen und bei den Erdbeeren.

Inzwischen hat man die munderhübsche Insel­stadt fünfmal durchquert. Man kennt so langsam alles: das Amtsgericht, die Polizeimache, die Ortskrankenkasse, die Fischer­hütten, das Arbeitsamt. Nein, es wäre nicht mehr schön, berichten hier die Arbeitslosen, selbst während der Obsternte ginge die Arbeits­losigkeit nicht sonderlich zurück. Sie, die Werderaner, verlangten während der Obsternte sechs Groschen für die Stunde. Dann kämen aber

Wieder in der Freiheit!

Auch Teichmann und Schmidt zurück

Im Laufe des geffrigen Nachmittags trafen nach Mar Rothe auch die Reichsbannerkameraden Teichmann und Schmidt in Berlin ein. Den beiden jungen Freiheitskämpfern wurde von den Kameraden des Reichsbanners und den Genoffen der Partei eine herzliche Begrüßung bereitet.

wo

Auf dem Anhalter Bahnhof , Teichmann aus dem Zuchthaus in Luckau eintraf, hatte sich eine große Anzahl Wilmers­dorfer Reichsbannerleute in der Bundeskleidung eingefunden, die immer wieder in stürmische Freiheitsrufe ausbrachen. Wieder war auch Paul Löbe erschienen, um dem Befreiten den Gruß

Rothe in der Freiheit

Bei der Ankunft am Anhalter Bahnhof

Der Asphaltprozeß

Die Stadt verurteilt

Im Rutsch asphaltprozeß des Rechts­anwalts Dr. Feblowicz gegen die Stadt Berlin wurde heute mittag vom Verkehrsrichter beim Amtsgericht Mitte das Urteil verkündet. Die Stadt Berlin wurde zur Zahlung eines Schadenersages in Höhe von 78,35 m. nebst 5 Proz. Zinsen seit Dezember vorigen Jahres Jahres verurteilt.

Im übrigen wurde die Klage auf den darüber hinausgehenden Betrag sowie die Widerklage der Stadt abgewiesen. Die Kosten des Prozesses trägt zu vier Fünfteln die Stadt Berlin , zu einem Fünftel Rechtsanwalt Dr. Feblowicz. Das Urteil

der kämpfenden Arbeiterschaft zu überbringen. In bewegten Worten dankte Teichmann für den Empfang.

Inzwischen waren am Görliger Bahnhof mehrere Gruppen des Kreuzberger Reichsbanners aufmarschiert, um den Jungbannermann Schmidt aus Gransee zu empfangen, der aus dem Zentral­gefängnis in Rottbus durch die Amnestie be= freit wurde. Wie bei den anderen Begrüßungen geleiteten nach einer herzlichen Ovation seiner Ka­meraden Dr. Nowad als stellvertretender Vor­sitzender des Berliner Reichsbanners und Rechts­anwalt Joachim den jungen Kameraden aus der Bahnhofshalle hinaus. Schmidt wurde dann zum Stettiner Bahnhof begleitet, um nach Gran­ see weiterzufahren, um dort im Kreise seiner Eltern und Freunde noch den Weihnachtsabend verbringen zu können.

Gebt auch ihn frei!

Eines der furchtbarsten Urteile, das die Sonder­gerichte fällen mußten, betraf den Reichsbanner­mann Klein aus Rheydt . Er wurde wegen eines angeblichen Steinwurfs zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Eine Strafe, die selbst das Gericht für unhaltbar ansah und daher von sich aus sofort bei der Urteilsverkündung ein Gnadengesuch befürwortete. Nach den Be= stimmungen der Amnestie würde Klein jetzt noch eine Strafe von Jahren Gefängnis zu tragen haben. Sein Verteidiger hat seine Be= urlaubung für die Weihnachtszeit beantragt. Es steht zu hoffen, daß dieser Antrag genehmigt und Klein noch der Rest der Strafe durch einen be­sonderen Beschluß auf Grund der neuen Not­verordnung über die Sicherung des inneren Friedens erlassen wird.

wird gegen Zahlung von 1200 M. für vorläufig vollstreckbar erklärt. Die Klage des Anwalts gegen die Stadt ging auf Schadenersatz in Höhe von 117,50 m.

In der Begründung des Urteils, das für die Stadt Berlin wahrscheinlich einen Rattenkönig von Schadenersatzansprüchen nach sich ziehen wird und gegen das es keine Berufung gibt, da das Objekt unter 100 Mark liegt, führte das Gericht aus: Daß die Stadt Berlin den Rutschasphalt selbst für gefährlich halte, ergebe die Tatsache, daß sie auf dem eigenen Betriebsbahnhof eine Proberutschbahn gebaut habe, um ihre Fahrer an das Rutschen zu gewöhnen. Nicht nur der gerichtliche Sachverständige Professor Schent, sondern auch der von der Stadt Berlin gestellte Sachverständige Profeffor Ehlgöz hätten zugegeben,

SONNTAG, 25. DEZ. 1932

die Bauernsöhne aus der Umgegend und machten die Arbeit für drei Groschen in der Stunde. Für diesen Lohn könnten sie, die Werderaner, aber nicht arbeiten.

Derartige Dinge spüren schließlich auch die Handelsleute auf dem Markt. Da steht an jedem Markttag ein alter Bäcker aus Lehnin . Er hat nicht einmal einen Stand, sondern nur eine Bank. Auf dieser Bank liegen am Morgen etma 20, 25 Bauernbrote. Am Ende der Markt­zeit packt der steinalte Herr zehn davon wieder ein. Wie lebt dieser Mann? Oder die Fischfrauen. 30 Pfennig hat das Pfund Barse in der Weih­nachtswoche auf dem Markt in Werder gekostet. Frisch aus der Havel gefischt. Aber es tam faum jemand, der die Barse kaufte. Und wenn solcher­maßen weder Brot noch Barse an den Mann zu bringen sind, wer soll die vielen Hasen kaufen, die dort auf dem Markt feilgehalten werden. Um diese Hasen ist ohnedies schon ein Krach entstanden: die Händler mit den heimatechten Zauche- Hasen denunzieren einige Kollegen, aus der Reihe ge= tanzt zu sein und sich Hasen aus der Zentralmarkt­halle in Berlin besorgt zu haben. Wozu der Lärm? Auch dieser Streit wird den Hasenabsatz nicht sonderlich heben. Erdbeeren und Obstmein sind eben in der Krise eine zu schmale Basis für eine Stadt, mag sie auch nur 8000 Einwohner be= herbergen.

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Sogar die alte Windmühle steht zum Verkauf. Mit samt dem Berg. Denn Korn wächst in Werder nicht mehr eine Handvoll. So bersten langsam die Flügel, die hölzernen Schin­deln halten sich mühsam im Winde, und daß die Mühle selber alle Stürme überstanden hat, ver= dankt sie ihren eichenen Balfen. Ihren Lebens­abend wird sie als Sehenswürdigkeit verbringen. Allein die Tafel mit der Polizeiverordnung, die das Betreten des Mühlengrundstücks verbietet, trägt das Datum vom 10. Juni 1881. Daher kommt es denn, daß selbst die ältesten Leute von Werder kaum etwas über die uralte Mühle aus= zusagen vermögen. Als sie auf die Welt kamen, stand die Mühle von Werder schon da, und wenn sie sterben, wird die alte Mühle noch immer auf der Wacht stehen. Diese Mühle hat die Zeit ver­gessen.

daß der Stampfafphalt rutschgefähr lich sei. Der Einwand der Stadt Berlin , der Fahrer habe so langsam fahren müssen, daß mit Sicherheit ein Zusammenstoß vermieden würde, sei nicht stichhaltig. Es sei nicht der Sinn der Verkehrsordnung, der Stadt die Möglichkeit zu schaffen, Pflasterungen beizubehalten, die für die heutigen Ansprüche nicht mehr geeignet sind. Die Stadt habe durch die Belaffung des Stampf­asphalts ihre Pflicht nicht erfüllt, sie sei daher schadenersatzpflichtig. In vorliegendem Falle habe der Schaden nicht in vollem Umfange anerkannt werden können, da auch den Kläger ein Teil der Schuld treffe.

Auf die schriftliche Begründung des Spruches darf man gespannt sein. Die Stadt Berlin will gegen das Urteil Berufung einlegen.

Berlin am Heiligabend

Mildes und trockenes Wetter, leere Straßen und Kaufhäuser, nur schwachbesezte Lokale, das waren auch diesmal wieder die äußeren Kennzeichen des Heiligen Abends in Berlin . ,, Grüne Weih­nachten" wie im Vorjahr tein Schnee, kein Frost eine Enttäuschung für die vielen Wintersportler und eine Freude für die Hundert­tausende der Arbeitslosen...

Schon in den frühen Nachmittagsstunden herrschte in den Berliner Kaufhäusern nur noch ein recht schwacher Betrieb, der gegen 17 Uhr, als die Pforten geschlossen wurden, noch mehr nach­gelassen hatte. Wieder einmal mehr hat sich ge= zeigt, wie die seit Jahren immer wieder erhobene Forderung nach einem frühen Ladenschluß am Heiligen Abend zu vollstem Recht besteht. Schon in den ersten Abendstunden waren die Straßen bereits auffallend leer. Straßenbahnen, Autobusse und U- Bahnen waren nur schwach besetzt. In der City wurden die Verkehrsposten frühzeitig ein­gezogen und nur die Polizeiautos patrouillierten noch durch die Straßen.

Am ganzen Abend ist es nirgends zu besonderen Zwischenfällen gekommen. Lediglich an 10 Stellen der Stadt bildeten sich kleinere kommunistische An­sammlungen, die meist reibungslos aufgelöst mer­den konnten. Nur in Steglitz , in der Albrecht­straße, geriet ein Beamter in Bedrängnis und feuerte zwei Schreckschüsse ab. 20 Personen wur­den insgesamt festgenommen.

Die nächste Ausgabe des ,, Vorwärts" erscheint nach den Weihnachtsfeiertagen am Dienstag, dem 27. Dezember, früh.

Wer erst nach dem Fest verreisen will, kann sich auch an den beiden Feiertagen die nötigen Fahr­farten und Plazkarten besorgen. Die Berliner MER.- Reisebüros im Potsdamer Bahnhof und Bahnhof Friedrichstraße, Unter den Linden 57/58 und Kurfürstendamm Ecke Joachimsthaler Straße find an beiden Feiertagen von 10 bis 12 Uhr geöffnet.