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BEILAGE

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Wie viele Neujahrsbetrachtungen ringen sich aus den Seelen gequälter Menschen los! Die laute Silvesterfreude ist für viele nur Betäubung, ohne die sie das Leben mcht ertragen würden. Wieder steht ein neues Jahr bevor, unbekannt in seinen Schicksalen und Ereignissen, unheimlich in seiner Bedrohung. Wird es wieder ein Krisen­jahr jein?

Tausend Erinnerungen aus dem vergangenen Jahre bestürmen die Menschen. Heißeste politische Zeiten liegen hinter uns. Das Kulturelle tritt dabei in den Hintergrund. Piccards Stratosphärenaufstieg, der Tod von Künstlern wie Slevogt , die Verdienste der Nobel= preisträger, fie scheinen alle nicht so wichtig zu sein wie die politischen Ereignisse. Gerne flieht der Blick einmal in vergangene Zeiten. Wir sehen dann, daß auch früher schwere" Zeiten waren, und wir gewinnen eine gewisse Größe und Ueberlegenheit über den Jahr­hunderten.

Bor zehn Jahren war das deutsche Land in einer harten und schweren Lage. Am 30. Dezember 1922 notierte der Dollar 7350 Mart, die Gold­marf 1750. Damals waren die weißen nur auf einer Seite bedruckten 300- Marf- Scheine, an die sich viele von uns noch erinnern, im Umlauf.

Vor zehn Jahren

Wie wenig konnten wir uns und den Unsrigen zu Weihnachten davon kaufen! Am 31. Dezember und am 1. Januar fanden teine Notierungen statt, und am 2. Januar stand der Dollar auf 7260, die Goldmark auf 1728. Mancher atmete er= leichtert auf: also fängt das neue Jahr mit einem Hoffnungsschimmer an! Aber die Enttäuschung fam sofort nach: schon der 3. Januar brachte die Notierungen: 7525 bzw. 1792. Und dann ging die Fahrt in den Abgrund los: am 18. Januar stand der Dollar auf 23 025, am 31. Januar auf 49 000 Mart. Es ging dann noch einmal etwas aufwärts, aber der Ruhrein­bruch wurde wirksam und es gab kein Auf­halten mehr.

Poincaré ging aufs Ganze und ließ am 11. Januar die Kommission zur Sicherung der Reparationen, geschüßt durch Tants und schwere Beschütze und den ganzen Armeeapparat, ins Ruhrgebiet einmarschieren. Und dann begann die schwere Zeit des passiven Widerstandes, die Bollgrenze wurde mitten durch das Industriegebiet gelegt, das deutsche Wirtschaftsleben wurde er­drosselt und wir gingen in eines der schwersten Jahre deutscher Geschichte hinein: 1923- wo der Dollar auf 4,20 Billionen stieg ( wobei er an einem Tage, vom 19. bis 20. No­vember von 2,5 Billionen auf 4,2 Billionen hinaufschnellte). Wehe dem, der an diesem Tage jeine Scheine nicht in Sachwerte umgetauscht hatte. Er wachte am anderen Tage doppelt so arm auf. Und wer sein Geld durch irgendeine Kaffe überwiesen bekam, war ganz verloren.

Ich habe jene Jahreswende im Industriegebiet, hart an der Grenze des englischen Brückenkopfes, miterlebt Die ersten Besagungsmonate, wo unsere Butterbrote an der Grenze abgenommen wurden, baren langit vergessen. Wir fühlten uns bei diefer fast unsichtbaren Bejagung ziemlich frei. Run legte sich ein neuer noch festerer Gürtel por

Vorwärts

Jahres vende

uns und hinderte uns völlig, in das freie deutsche Land zu gehen. Ich erinnere mich noch deutlich: Bohwinkel, die letzte von Franzosen besetzte Stadt. Trüber Januarabend, etwa am 20., Nebel und Feuchtigkeit, fast kein Licht, lähmende Trost­losigkeit auf der ganzen Linie Ich gehe in eine Schule, wo die französische Kommandantur mar, ich frage mich durch bis zu einem Unterbeamten in Uniform und frage ihn, ob ich nicht einen Passierschein zu meinem an diesem Abend in Barmen beginnenden Volkshochschulfurfe be tommen tönne. Er ist Elsässer, spricht gnädig deutsch mit mir und sagt, Härte markierend und doch mit einer gewissen Treuherzigkeit: Aus­geschlossen. Hödftens bei Sterbefällen, und da müssen wir die Beweise sehen!" Manchmal prägt sich uns eine Kleinigkeit, ein Tonfall, für alle Zeiten ein, als ob er ein Stück Weltgeschichte in fich trüge. Das süddeutsche ei", mit dem dieser Elsässer das Wort Beweise aussprach, werde ich nie vergeffen. Nein, solche Beweise hatte ich- glücklicherweise! nicht zu bieten. Und so kehrte ich wieder heim in meinen englischen Brücken­topf und telephonierte das ging merkwürdiger weise, da es weder die Reparationen noch die Zollgrenze schädigte", ich telephonierte, daß der Kursus ausfallen müsse.

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Und mie sah es in der Innenpolitik aus? Die Parteien hatten einen Anflug von Zusammen­arbeit gewagt: sie hatten am 24. Oftober 1922, unter der drohenden Katastrophe von außen, durch Mehrheitsbeschluß die Amtszeit des Reichs. präsidenten Ebert bis zum 30. Juli 1925 ver­längert. Es war ein verfassungsänderndes Gesetz, das mit 314 gegen 76 Stimmen durchging. Man hatte also dem Volte eine aufreibende Wahl er­fpart. Es war eine kleine Linterung. Aber eine stetige Politit war doch nicht möglich.

Sind wir heute weiter? Wer vermag es zu jagen? Gewiß: wir stehen nicht mehr so hilflos da mie vor zehn Jahren. Aber der neuen schweren Dinge haben wir die Hülle und Fülle, nicht nur die Arbeitslosigkeit. Gleichwohl: mir mollen ebensowenig verzagen wie damals in härtester Zeit!

Können wir uns noch deutlich vorstellen, mie wir die Wende der Jahre 1907 und 1908 perbrachten? Ich war im Jahre 1907 auf die Universität gekommen. Der Geist der Wissen= schaft hatte mich aufgenommen, aber von den Ereignissen der Zeit spürte ich nicht viel. Um was handelte es sich eigentlich damals? Um nicht mehr und nicht weniger als um die Zu= ipigung der Krise des Imperialis mus. Das Wettrüften war trog aller Bersuche der neunziger Jahre, es aufzuhalten, meiter­gegangen. Die Welt war erschlossen, sie war

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Wende 1907/1908

flein geworden. Nachdem Cecil Rhodes , der große englische Imperialist, den afrikanischen Kontinent, den bis dahin dunklen" an die Zivilisation angegliedert hatte, blieb kaum noch Raum in der Welt für aufstrebende Länder.

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Blicken wir einmal im Telegrammstil um die Erde! Ueberall Erpansion, überall fri: tische Punkte England hatte im abgelaufenen Jahre, also 1907, mit Rußland einen Vertrag geschlossen, wonach Persien in zwei Interessen.

SONNABEND, 31. DEZ. 1932

ver den Zeiten

über

VON HANS HARTMANN

sphären aufgeteilt wurde. Ein fester Stein wurde damit der Entente" eingefügt. England und Rußland wurden reif zur Einigung gegen die Mittelmächte. England wollte unbedingt den Endpunkt der Bagdadbahn , für die sich damals Deutschland so sehr interessierte, und es machte dem Sultan entsprechend den Hafen Koweit in der Nähe der Mündung des Schatt el Arab streitig. Die Fronten formierten sich.

Auch in Marotto friselte es. Der franzö sischen Politik, die immer wieder dort eingriff, fam es zu statten, daß sich im Juni 1907 gegen den Sultan Abdul Asis sein Bruder Mulei Hafid erhob. Um die Jahreswende also entwickelten sich diese Gegensätze, im Verlauf deren die Franzosen dann auf die Seite der Aufständischen rückten.

Im Juli 1907 hatte auch der Kaiser von Korea abdanken müssen, und Japan befand sich in einem fühnen und bald sehr spürbaren Aufstieg. Bereits 1910 fonnten die Mächte nicht mehr hindern, daß es sich Korea ganz einverleibte und damit auf dem asiatischen Fest­lande aktiv wurde.

Eine andere Macht, die ein Dasein mehr im Schatten geführt hatte, sollte bald ebenfalls in die Geschichte eintreten: die Türkei . An der Jahres­mende machten sich die ersten Anzeichen bemerk­

Vor 100 Jahren

bar. In wenigen. Monaten( Juli 1908) erzmang die jungtürkische Bewegung eine völlige Umwäl­zung und damit Modernisierung des Staates.

Aber, damit kein Kontinent vergessen sei, müssen wir noch einen Blick nach dem fernen Westen tun. In Amerika waren die Klagen über die japanische und chinesische Einwande­rung stärker geworden. Es drohte ein Konflikt. Waren die amerikanischen Rüstungen bis dahin, in unvergessener Erinnerung an die von England hart erfämpfte Unabhängigkeit, nur nach Often, also Europa , gerichtet gewesen, jo follte jeßt ein meltgeschichtlich bedeutsamer Umschwung erfolgen. Im kommenden Jahre( also 1908) sollte USA . gewaltige Flottendemonstrationen im Pazifif, dem Stillen Ozean, ausführen, und mehr als das: es sollte von nun an einen großen Teil seiner Flotte dort stationieren. Also auch hier: Auf­marsch, Drohung, Konfliktmöglichkeiten...

Wie haben unsere Boreltern vor hundert Jahren die Silvesternacht zugebracht? Damals war die Welt noch klein: die Zeitung brachte nic viel, Radio gab es noch nicht, ja selbst der Kreis der wissenschaftlichen und künstlerischen Dinge war überschaubar. Damit war nicht notwendig eine Enge des Gesichtskreises verbunden- lebten doch Männer wie Goethe oder Schleiermacher oder Hegel- Männer von ganz großen Di­mensionen, die den anderen Wege wiesen.

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Oder nein Goethe lebte ja nicht mehr. Und das wird vielen in jener Silvesternacht schmerzliche Gedanken bereitet haben. 3war wurde damals alles nicht so laut und aufdringlich der Mitwelt tundgetan wie heute mancher wird kaum Notiz vom Tode Goethes genommen haben. Aber die wenigen, die es zu allen Zeiten gibt. haben in der Stille ihres Heims Schriften von Goethe hervorgeholt und ihm zum Gedenken darin ein wenig gelesen. Sie hatten ihre erze neben sich stehen oder auch ihre Rohöllampe, die Kerzen mußten noch mit der Lichtpußstere geid näuzt werden denn erst in zwei Jahren, 1834, sollten die geflochtenen Dochte erfunden werden, die eine Verkohlung der Kerze, die foge

nannten ,, Schnuppen"( Lichtschnuppen im Gegent faz zu Sternschnuppen) verhinderten. Ganz 31 schweigen von der Petroleumlampe, auf deren Erfindung unsere Borväter von vor hundert Jahren noch 23 Jahre, bis 1855, warten mußten.

Und unser Freund der Literatur las dann am stillen Silvesterabend, ungestört durch Elektrische und Radio, nicht verpflichtet, eine 20 Seiten lange Zeitung zu lesen, in seinem Goethe Indem er vom Lyrischen übers Dramatische zu Wilhelm Meister blätterte, traf er da auf eine Stelle, die thn plötzlich mit Angst erfüllte. Er las sie, las sie aber den Seinen nicht vor, um ihnen das neue Jahr nicht bedenklich zu machen und zu malen. Aber insgeheim wurde er von Goethes prophetischer Schau angesteckt. Er las: Was mich aber drückt, ist doch eine Handelsforge, leider nicht. für den Augenblid nem, für alle Zukunft. Das überhandnehmende Maschinen­wefen quält und ängstigt mid), es wälzt sich heran wie ein Gewitter, langsam, langsam; aber es hat seine Richtung genommen, es wird kom­men und treffen.

Der große Krieg dauerte nun schon 14 Jahre. Nicht überall hatte er Verwüstung angerichtet, aber piele Gebiete werden auf lange Zeit hinaus zu schaffen haben, um sich zu erholen Nun war die Wende von 1632 auf 1633. Dieses Jahr war nun die große Schlacht bei Lützen ge= wesen. Gustav Adolf , den Protestanten der er­sehnte Retter, den Kaiserlichen der einzige wirf liche Feind, war dort gefallen. Was sollte werden? Hoffnungslosigkeit überall. Feinfühlige spürten in jener ganzen Zeit einen Geist der Umwälzung. Die Technik stand vor einem Durchbruch. Seit diesem selben Jahre 1632 arbeitete der bekannte Guericke, Bürgermeister don Magdeburg, an der Luftpumpe einer Sache, die nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch so bedeutsam mar; denn nun war erwiesen, daß die Luft ein Körper war. Später erfand der gleiche Guerice auch die Elektrisiermaschine.

Aber noch stärker rüdte ein Umsturz im Geis stigen heran... Man munkelte von einem Galilei in Italien geheimnisvolle Dinge. Sollte ihn auch das Schicksal Giordano Brunos ereilen, der 1600 verbrannt worden war? Er behauptete ja, die Erde drehe sich um die Sonne. Noch wenig Monate, und er wurde vor das Inquisitionstribunal gestellt, wo er allerdings seine Lehre widerries. Er wollte seine Kräfte für feine Forschungen aufsparen.

In einem Hause in Amsterdam herrschte seit 5 Wochen Freude. Am 24 November war dort der kleine Junge Baruch de Spinoza ge= boren; aus einem portugiesisch- jüdischen Geschlecht. Er sollte einer der größten im Reiche des Geistes werden. Mit seinem Geistesfreunde John Lode zusammen, der in einem englischen Hause zu

300 Jahre zurück

gleicher Zeit in seinen Windeln lag, war er be­rufen, das ganze Denken der Zeit umzugestalten und auf Jahrhunderte hinaus alle hohen Geister zu beeinflussen. Eine neue Zeit stand bevor, erfi jezt brady eigentlich die Neuzeit" an, deren Kinder wir heute noch sind.

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