Morgen- Ausgabe
Nr. 7 A 4 50. Jahrg.
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Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
DONNERSTAG
5. Januar 1933
Jn Groß Berlin 10 Bf. Auswärts....... 15 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe am Schluß des redaktionellen Seile
Der Aeltestenrat stimmte für Reichs. tagseinberufung am 24. Januar. Die Nazis stimmten nicht mit ab.
Die deutschen Wähler haben am 6. November 196 nationalsozialistische Abgeordnete in den Reichstag gewählt und damit den Anhängern Hitlers einen entscheidenden Einfluß auf die deutsche Politik eingeräumt. Sie wollten, daß die so oft angekündigten grundstürzenden Vorschläge und Reformen für die deutsche Wirtschaft und Politik endlich energisch in Angriff genommen werden.
Was aber tun die 196 Abgeordneten mit dem ihnen anvertrauten Mandat? Sie gehen spazieren! Sie verhindern den Zusammentritt des Reichstages. Sie hindern auch die Arbeit anderer Fraktionen, indem sie ihre 196 Stimmen gegen die Aufnahme der parlamentarischen Arbeit in die Wagschale werfen.
Sie haben in den Ausschüssen Anträgen für eine weitergehende Winterhilfe zugestimmt aber sie verhindern, daß der Reichstag ihnen Gesezeskraft gibt. Sie haben die Aufhebung voltsfeindlicher Notverordnungen im Ausschuß gebilligt aber sie verhindern durch Nichteinberufung des Reichstages, daß sie wirklich aufgehoben
werden.
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Sie kündigen jeden Tag fürchterliche Abrechnung mit Schleicher und seinem Kabinett an, aber sie sorgen durch Abwesenheit ihres Präsidenten und und durch Ablehnung der Reichstagseinberufung dafür, daß das Kabinett Schleicher ungestört weiter regieren fann. Sie versprechen ihren Anhängern täglich den Sturz der Regierung- und halten sie am Leben, indem sie die Einberufung des Parlaments und damit die Abstimmung über die Mißtrauensvoten verhindern.
Das ist das Resultat der gestrigen Sitzung des Aeltestenrats, von dem man die endliche Einberufung des Reichstags erwartete. Der nationalsozialistische Präsident Göring war der Sigung einfach ferngeblieben, um sich allen Weiterungen zu entziehen und nicht an seine früheren Zusagen erinnert zu werden. Ferngeblieben waren auch die Fraktionsführer Dr. Frid, Stöhr und Goebbels . Mit dem peinlichen Rückzugsgefecht wurde ein politisch gänzlich unerfahrener Abgeordneter, Dr. Fabricius, beauftragt, neben dem in goldenem Schweigen der Brecher der Zinstnechtschaft, Herr Feder, Platz genommen hatte, sonst war von den acht Naziältesten feine Seele zu sehen.
Sozialdemokraten und Kommunisten beantragten, den Reichstag auf Montag, den 9., oder Dienstag, den 10. Januar, einzuberufen alle anderen Parteien, einschließlich der Nazis, lehnten das ab und hüllten sich wegen eines anderen Termins in Schweigen. Auf die energische Anzapfung des Genossen Löbe, ob sie den Reichstag denn überhaupt nicht einberufen wollten, rückte Dr Bell vom Zentrum mit dem Vorschlag des 24. Januar heraus, während der Nationalsozialist Fabricius erklärte, das bliebe ja nun dem abwesenden Präsidenten Göring überlassen, der sich nach seinem Wiederauftauchen in der Deffentlichkeit noch einmal mit dem Aeltestenrat auseinandersetzen möge Gegen diese Auffassung setzte sich mit aller Entschiedenheit Genosse Breitscheid, der Kommunist Torgler , aber auch der Abgeordnete Leicht von der Bayerischen Volkspartei zur Wehr. Genosse Breitscheid wies darauf hin, daß dieses
Die Nazifraktion in der Schleicher- Front- Goering drückt sich
Verfahren im traffen Gegensatz zu allen Ver sprechungen und Ankündigungen der Nationalsozialisten stehe, daß es praktisch auf eine Tolerierung der Regie rung Schleicher hinausliefe und den Reichstag an jeder Einflußnahme hindere.
Die Deutschnationalen erklärten sich durch einen Zwischenruf des Abgeordneten Oberfohren an der ganzen Frage der Einberufung für desinteressiert, ihretwegen könne fie ganz unterbleiben. Bei der nun folgenden Abstimmung nahmen die beiden Nationalsozialisten den gleichen Standpunkt ein, sie stimmten auch nicht für die Einberufung am 24. Januar! Hätten Sozialdemokraten und Kommunisten nicht im letzten Augenblick noch für diesen Termin gestimmt, nachdem alle früheren, auch der 12. und der 17. Januar, abgelehnt waren, dann wäre es überhaupt zur Anfeßung feines Termins für den Wiederzusammentritt des Reichstags getommen. Denn mit den Deutschnationalen weigerten sich auch die Nationalsozialisten, dem dod) weit genug liegenden 24. Januar zuzustimmen.
Die gestrige Sigung des Aeltestenrates hat also die volle Entlarvung der Nationalsozialisten gebracht. Im ,, Angriff", im Sport palast, im ,, Völkischen Beobachter" toben sie gegen die Schleicher- Regierung, im ReichsHerr tag verhindern sie ihren Sturz. Goebbels wütet draußen wie ein Berserker, Herr Göring verduftet sich, damit die Drohungen seines geschwäßigen Brüderleins
nicht in die Tat umgesetzt zu werden brauchen. Mit 230 Abgeordneten vom Juli haben die Nazis einen Reichstag arbeitsunfähig gemacht, mit 196 gehen sie spazieren und vertagen das Parlament.
Erst wenn diese hilflosen und arbeitsunwilligen Parlamentarier wieder eine bedeutungslose Gruppe sind, wird es wieder eine vom Bolke beeinflußte deutsche Politik geben.
Staatssekretär Dr. Plant gab für die Reichsregierung erneut die Erklärung ab, daß sie bereit sei, im Reichstag ihr Programm zu entwickeln und eine Klärung der politischen Lage herbeizuführen.
In einem Bericht der ,, Telegraphen- Union" wird es so dargestellt, als ob die Ankündigung nationalsozialistischer Mißtrauensanträge erfolgt sei. Das ist nichts als eine Entlastungsoffensive für die Nationalsozialisten. Dr. Fabricius hat keinen eige= nen Mißtrauensantrag angekündigt, sondern sich nur mit der Abstimmung über die Mißtrauensanträge der anderen Parteien nach dem nächsten Reichstagszusammentritt einverstanden erklärt. Wann der sein soll darüber hüllte er sich in vielsagendes Schweigen.
Gerüchte aus dem Naziladen
Je unsicherer die politische Haltung der Nationalsozialisten wird, um so lebhafter schwirren die Gerüchte auf.
Gerücht Nr. 1: Reichsfanzler Schleicher hat
Parteitag 1933 12. März in Frankfurt a. M.
Der Parteivorstand beruft hiermit den diesjährigen Parteitag zum 12. März und folgende Tage nach Frankfurt a. M. ein. Tagungslokal: Zoologischer Garten. Als vorläufige Tagesordnung ist festgesetzt:
1. Marx und die Gegenwart. Aufruf zum Sozialismus. Referent: Rudolf Hilferding .
2. Die Politik der Sozialdemokratie.
Politischer Bericht des Parteivorstandes und der Reichstagsfraktion. Referent: Otto Wels .
3. Krisenüberwindung durch sozialistische Güter- und Menschenökonomie. Referent: Siegfried Aufhäuser .
4. Wirtschaftliche und politische Völkerverständigung. Referent: Rudolf Breitscheid .
5. Parteiorganisation und Parteifinanzen. Geschäftsbericht des Parteivorstandes.
a) Organisation. Berichterstatter: Hans Vogel .
b) Kasse. Berichterstatter: Siegmund Crummenerl .
c) Frauenbewegung. Berichterstatterin: Marie Juchacz .
d) Sozialistischer Kulturbund. Berichterstatter: Adolf Grimme .
6. Bericht der Kontrollkommission.
Berichterstatter: Klemens Hengsbach.
7. Wahl des Parteivorstandes und der Kontrollkommission.
8. Erledigung der Anträge, soweit sie durch die vorstehende Tagesordnung nicht erledigt sind.
Der Parteitag setzt sich zusammen aus den in den Bezirksverbänden gewählten Delegierten, der Vertretung der Reichstagsfraktion, den Mitgliedern des Parteivorstandes, des Parteiausschusses und der Kontrollkommission.
Anträge für die Tagesordnung des Parteitages werden nur behandelt, wenn sie von Parteiorganisationen gestellt und spätestens bis zum 8. Februar 1933 beim Parteivorstand eingereicht sind, damit sie laut Organisationsstatut§ 13 Absatz 2 spätestens am 13. Februar veröffentlicht werden können.
Zum Parteitag gestellte Anträge müssen, jeder für sich auf einem besonderen Blatt Papier , einseitig beschrieben und mit der Angabe, zu welchem Punkt der Tagesordnung gehörig, versehen sein.
Im Anschluß an den Parteitag findet eine Frauenarbeitstagung statt, deren Tagesordnung noch bekanntgegeben wird.
Wegen Wohnungsbeschaffung müssen. sich die Delegierten rechtzeitig beim Lokalkomitee melden. Adresse: Conrad Broßwitz , Frankfurt a. M., Bürgerstr. 69-77. Gastkarten für den Parteitag werden von dem Lokalkomitee in Frankfurt a. M. ausgegeben; Zutrittskarten für die Berichterstatter der Presse nur vom Parteivorstand, Berlin SW 68, Lindenstr. 3. Der Parteivorstand
Gregor Straßer versprochen, ihn zum Bizekanzler zu machen, wenn er ihm die Unterschriften von 25 Abgeordneten aus der nationalsozialistischen Fraktion bringe, die bereit sind, ihn zu unterstüzen. Straßer soll bereits mehr als diese Anzahl Unterschriften gesammelt haben.( Wer glaubt's?)
Gerücht Nr. 2: Herr Röhm sei dieser Tage bei Herrn Reichskanzler Schleicher gewesen, um dort seinem Herzen über den schwankenden Hitler Luft zu machen. Zweck: Straßer , Röhm und Schleicher sollen gemeinsam Hitler in die Schere nehmen und zur Vernunft bringen.
Dieses Gerücht stammt aus der„ Schwarzen Front " Otto Straßers, was unseren Zweifel an der Echtheit der Nachricht nicht vermindert.
Die Garde
Brinz Heinrich: Aber fage mir, Hans, wessen Leute sind das, die, hinter uns dreinkommen?
Falstaff: Meine, Heinz, meine. Prinz Heinrich: Zeitlebens sah ich teine so erbärmlichen Schufte. Sir John Falstaff , die unsterbliche Gestalt des großen Dichters Shakespeare , ist ein gewaltiger Aufschneider und Renommist. Aber soweit läßt Shakespeare seinen Falstaff doch nicht gehen, daß er etwa die von ihm angemorbene sprichwörtlich gewordene Falstaff- Garde als die Elite des englischen Volkes bezeichnet hätte. Derartiges blieb dem größten Renommisten der Neuzeit, blieb Adolf Hitler , vorbehalten. Der ,, Borwärts" hat am Mittwochmorgen eine schier endlose Liste der Verbrechergestalten aus Hitlers brauner Armee gebracht. Und doch wird jeder Kenner der Verhältnisse bestätigen, daß es fich nur um einen winzigen Auszug der Liste handelt, die eine im Besitz aller Vorstrafenregister befindliche Behörde aufstellen könnte.
Ist das Zufall? Ganz und gar nicht. Die Erscheinung liegt in der geistigen Struktur einer Truppe begründet, in der planmäßig Verbrechen angestiftet und ausgedacht werden. Wir erinnern an den Fememord an Hentsch, wir erinnern an die planmäßigen Sprengstoffferien in Holstein, wir erinnern an die im Zusammenwirken ganzer Stürme unternommenen Attentate der Wahlnacht in Ostpreußen. in Schlesien usw. Wer die Psyche des Verbrechers tennt, der weiß, daß Zirkel, in denen Verbrechen ausgeheckt und die Täter planmäßig beschützt werden, auf ihn magische Anziehungss traft ausüben.
Dabei spielt auch der zweite Punkt, der Schug nach der Tat, eine große Rolle. In mehreren Fällen ist einwandfrei festgestellt, daß eine be= sondere Organisation bei den Nazis besteht, um straffällig gewordenen Mitgliedern der SA. über die Grenze zu helfen. Zum ersten Male trat die Organisation vor zwei Jahren in die Erscheinung, als sie den Mördern der Reichsbannerkameraden Schneider und Graf über die österreichische Grenze half. Jetzt sind die Mörder des Hentsch ins Ausland expediert worden, und ebenso ist daran zu erinnern, daß von den Angeflagten des holsteinischen Bombenprozesses, die eine unglaublich vertrauensselige Gerichtsbehörde auf freiem Fuß beließ, mehr als die Hälfte spurlos verschwunden ist. Wer uns etwa einreden möchte, daß hier individuelle Fluchtafte vorlägen, den widerlegen wir mit der Tatsache, die jeder Italientourist tennt, wie außer= ordentlich schwer selbst dem harmlosesten Vergnügungsreisenden der Eintritt nach Mussolinien gemacht wird. Außerdem läßt sich auch eine solche Flucht einschließlich der Aufenthaltskosten in Italien - nicht ohne erhebliche Geld mittel durchführen.
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