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BEILAGE

Vorwärts

Hermann Wendel : Stendhal

Zu seinem 150. Geburtstag am 23. Januar

Als Stendhal oder, wie er mit seinem bürgerlichen Namen hieß, Henri Beyle , einmal nach seinem Beruf gefragt wurde, erwiderte er stodernft: Beobachter des menschlichen Herzens. Das war keiner der Scherze, mit denen er den Sipeßbürger zu verblüffen liebte, denn was er immer im Leben mar: 1800 bis 1802 Dragonerleutnant, 1805 bis 1806 Kaufmann, 1806 bis 1812 Militärbeamter und gar von 1830 ab französischer Konsul irgendwo in Italien , jede dieser Tätigkeiten übte er nur lässig und mie nebenbei aus. Ohne sich durch große Kriegstaten auszuzeichnen, ohne Pulver auch nur richtig ge= rochen zu haben, warf er den Helm mit dem Roß­haarschweif in die Ecke, weil der Säbel den Geist töte; mit Gott Merkur hatte er sich nur einge­lassen, um einer angeschwärnten Schauspielerin nach Marseille folgen zu können; als Intendantur­beamter bekümmerte er sich in den Ländern, die die Große Armee durchzog, weit mehr um Ge= mälde, Musik und Frauen als um Proviant und Rationen, und das Amt eines fleinen Diplomaten empfand und behandelte er nur als lästige Fron. Ja, nicht einmal Schriftsteller im Sinn eines Be­rufes war der Verfasser zweier der unsterblichsten Romane der Weltliteratur, der ,, Kartause von Parma " und von Rot und Schwarz ". In all dem Dilettant, war er wirklich

Fachmann nur als Betrachter, Belauerer und Beschreiber

des menschlichen Herzens.

Weil er sich gern in sich selber verkroch und gegen seine Epoche absperrte, sprach man wohl von der Zeitlosigkeit feines Wesens. Aber da der zeitlose Dichter ebenso ein Unding ist wie die wurzellose Pflanze. hing auch Sten­ dhal , der die Unabhängigkeit über alle Güter der Erde stellte, mannigfach von seiner Zeit ab. 23. Januar 1783 in Grenoble Welt

Wieviel sychologische Beute brachte dieser Er­fenntnisjäger" heim, die die Psychoanalyse unserer Tage mit ihren vervollkommneten Waffen zu er= legen stolz iſt!

ziehen, baute er zu einer Lehre, der des ,, Ego= nicht einmal im stillen Kämmerlein eingestanden! tismus, aus. Alle seine Bücher, ob es Romane und Novellen oder Reisebriefe und Kunstberichte waren, schrieb er als Stüde seiner Selbstbio­graphie, als Beiträge zur Beichichte seiner Seele. Da nur das eigene Ich für ihn Bedeutung hatte, erkannte er feinerlei Kollektiv an, mochte es nun Baterland oder Nation Partei oder Klasse heißen, und selbst die Ehe erklärte er für eine widernatürliche Bindung. Aber auch dieser un­beirrbare Fanaticmus der Selbstbespiegelung, Selbstentblößung und Selbstdarstellung offenbarte die Zeitgebundenheit Stendhals Die Selbst­biographie als eine der stärksten Formen der Ich­Betonung ist

ein Erzeugnis des bürgerlichen Zeitalters;

der mittelalterliche Mensch kam sich noch nicht in­teressant vor, und vollends zerkrümelte erst die Revolution von 1789 die überlieferten Stände und Kasten in eine Unzahl von Individuen, deren jedes auf sich gestellt war. Hinzu traten bei Sten= dhal angeborene Ueberemfindlichkeit. nervöse Reizbarkeit und Belastung mit Minderwertigkeits­vorstellungen, um seinen 3ch Kult in steilste Höhen hinaufzutreiben und zu einer schöpferischen Tugend werden zu lassen. Denn do er sich, diesem Ich- Kult hingegeben, unablässig belauerte, da er in sein Gemütsleben eindrong wie ein Forscher in einen Urwald, da er in unaufhörlicher Gewissens­prüfung wahnsinnig indiskret gegen sich selber war, da er die eigenen Gefühle beschlich wie ein Indianer den Feind, so wurde er in der Wissenschaft vom menschlichen Her 3en" ein großer Meister und verdienter Bahn­brecher. Welche geheimen und geheimsten Regun­gen enthüllte dieser kühle Vivisektor, die sich andere

Wenn Ironie und Skepsis der Bodensaz aller Empfindungen Stendhals maren, fo ver­stummte sein Spott doch vor einem: der Ener= gie; er trug sich mit dem Plan, eine Ge= schichte der Energie in Italien " zu schreiben, und einen ,, Professor der Energie" nennt ihn ein bekanntes Wort Auch hier liegen die Fäden zutage, die ihn mit seiner Zeit verbinden. Die Revolution bedeutete den Durchbruch der bürgerlichen Energie durch die Decke der feudalen Gesellschaftsordnung; eines ihrer Mittel, die Begeisterung mächtig zu entzünden, war die Losung: Dem Talente freie Bahn!, im Zeichen der feierlich verkündeten Gleichheit stand jedem Bauernjungen der Weg zur höchsten Macht und zum höchsten Glanz offen: der kleine Artillerie­leutnant, der es bis zum Kaiser brachte, wirkte mie ein Sinnbild. Die bourbonische Restauration aber verstopfte die Quelle dieser Energie, indem sie die gehässigen Vorrechte der Geburt wieder aufrichtete. Darum zeichnete Stendhal im Julien Sorel seines Romans ,, Rot und Schwarz " einen Ple­bejer, der mit Energie und Ehrgeiz geladen wie ein überheizter Dampfkessel, mi allen, mit allen Mitteln hoch will; da dieser urgeitüme Streber wegen eines Mordanschlages auf seine frühere Ge­liebte vor einer Geschworenenbank entrüsteter fatter Bürger steht, schleudert er ihnen ins Gesicht: Sie wollen in mir jene Klasse junger Leute be­strafen und für immer entmutigen. die, in einer niederen Klasse geboren und unterdrückt durch die Armut, das Glück haben, sich eine gute Erziehung

MONTAG, 23. JANUAR 1933

zu beschaffen und die Kühnheit, sich in das einzu­drängen, was der Dünkel der Reichen die Gesell­schaft nannte."

Das flingt fast wie eine soziale Anklage, aber Stendhal

fühlte sich nicht als sozialen Ankläger;

er wollte nur sich. Immerhin mar die poli= tische Neugier" in ihm start genug, um ihn vom Selbstmord zurückzuhalten. Auch in seinen politischen Anschauungen fehlte es bei dem Gegner Napoleons , der zum Anbeter Napoleons wurde und lieber einem Chamäleon als einem Rindvieh gleichen wollte, nicht in dicken Wider­sprüchen, aber der die Große Revolution stürmisch bejahte, die Jakobiner der Schreckensherrschaft billigte und sich für die Gleichberechtigung der Frau aussprach, stand gewiß nicht auf der Seite der Barrikade, wo rostige Waffen für verschimmelte Borrechte stritten; nicht von ungefähr verdächtigte ihn ein Spielbericht der österreichischen Behörden in der Lombardei als irreligiösen unmoralischen und gefährlichen Feind der Legitimität". Denn er haßte die Jesuiten und Priester, verachtete die Bourbonen, liebte die poetischen und publizisti­schen Bekämpfer der Restauration Béranger und Courier, und seine Bewunderung gehörte den namenlosen Arbeitern, die sich unter dem Juli­fönigtum mit Schrotflinten und ohne Kanonen gegen eine zwanzigfache Uebermacht des Militärs für ihre republikanische Ueberzeugung schlugen und niedermezeln ließen.

Sein

Er hatte es nicht nötig, zu beteuern, daß er mehr Bürger als Unterton sei. Werk zeugt für ihn. Wenn sein Erkenntnisdrang auch nur das menschliche Herz, nicht die mensch­liche Gesellschaft besser durchschauen half, diente auch das der Verbreitung der Wahrheit und mittel­bar der Emanzipation der Menschheit. Sten= dhal nannte einmal die Schriftsteller die ,, Hu­faren der Freiheit, die plänkelnd manchmal zu­rückwichen und doch jeden Tag ins Feuer gingen. Stendhal selbst war ein solcher Husar der Freiheit.

tommen, war er nicht nur dem Geburtschein nach J Amdurski Schubert: Der Egoist und die Gemeinschaft

ein Kind des 18. Jahrhunderts sondern verdankte auch den großen Materialisten dieses Säculums sein ganzes philosophisches Reisegepäc; als seine Bibel betrachtete der Sechzehnjährige des Ca= banis ,, Beziehung zwischen dem Physischen und dem Moralischen ", und Helvetius hielt er stets für den größten Philosophen der Franzosen . Dieser Materialismus, der alles auf ein fast maschinenmäßig arbeitendes Ver­hältnis von Ursache und Wirkung zurück­führte, machte ihn zu dem unbedingten Gottes­leugner, der er bis zu seinem jähen Tode am 23. März 1842 blieb, und stieß ihm das Tor zur Erkenntnis der Welt auf Im Bann dieses Materialismus wollte er in seinem berühmten Buch ,, Ueber die Liebe" sogar das von einer Frau vermittelte Sinnengli nach Einheiten messen, wie man eine Flüssigkeit nach Litern mißt. Aber mit Recht bemerkt der französische Sozialistenführer Léon Blum in seiner geist­reichen und scharfsichtigen Etudie über Sten­ dhal , daß bei diesem widerspruchsvollen Schrift­steller

zwei verschiedene Strömungen des 18. Jahr­hunderts in ein Bett zusammenfließen: der Mechanismus eines Helvetius, der alles aus dem Verstand heraus erklärt, und der ro­mantische Individualismus eines Rousseau, der statt der Vernunft das Gefühl, die Leiden­schaft, das Außer- sich- Sein über alles preist. In der Großen Revolution, deren Höhepunkt Beyle als Knabe miterlebt hatte, suchte die Menschheit über sich selbst hinauszugelangen, das Unbedingte zu erreichen, nach den Sternen zu greifen; ein Rausch des Enthusiasmus schüttelte die Seelen; Stendhal telber bekannte als 3wanzigjähriger, daß ihn ein Fieber verzehre, ,, auf den Spuren der großen Männer auszu­schreiten, die, Schöpfer der Revolution, von ihrem eigenen Werk verschlunnen worden waren". Aber wenn in der napoleonischen Aera noch etwas von diefer ungeheuren Seelenspannung nachschwang, so stürzte nach Waterloo die Welt wieder ins All­tägliche, in die platteste Nüchternheit zurück. und noch trostloser wurde unter Ludwig Philipp. die Elle des Krämers zum Maß aller Dinge. Die bittere Enttäuschung einer ganzen Generation auszudrücken, wurde Stendhals Aufgabe. Fühlte er sich von dem angewidert, was er ,, la bassese bourgeoise", die ,, bürgerliche Gemeinheit" nannte, empfand er ähnlich wie Heinrich Heine :

O daß ich große Laster säh'. Verbrechen blutig, folossal, Nur diese satte Tugend nicht Und zahlungsfähige Moral!

Und nichts erschien ihm häßlicher als der Zug um den Mund eines Bankiers, der Verluste be­fürchtet.

Aber weit war er davon entfernt, bewußt seine Zeit zu spiegeln. Er hatte nur das eine Pro­gramm ,,, mit Wahrheit und Klarheit zu erzählen was sich in meinem Herzen begibt". Von der ganzen Welt war im Grunde nur Stendhal für Stendhal interessant; sich fühlte er als Mittelpunkt der Schöpfung; alles auf sich zu be

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,, Arrigo Beyle Milanese"- lauten die ersten Worte von Stendhals selbstverfaßter Inschrift auf dem Grabstein eines Pariser Friedhofs. Den legten Anstoß, seinen Bornamen sozusagen übers Grab hinaus zu italianisieren und sich lieber als Mailänder, der er eigentlich nie war, denn als Franzose zu bezeichnen, gab ihm angeblich sein Aerger über die Politik Louis Philippes. Stendhal verabscheute die vielfach nachgiebige Fric enspolitik des Bürgerfönigs. Die Arbeit am ruhigen, materiellen Aufbau Frankreichs erschien ihm unwürdig und geisttötend. Er verglich sie mit dem Schwung und dem leidenschaftlichen Totalein­faz der napoleonischen Aera . Aber nicht nur die bürgerliche Geschäftigkeit des juste- milieu war ihm ein Greuel, auch für den langsam wiedererstarken­den demokratischen Geist des vormärzlichen Frankreich hatte er nur Spott übrig; Napoleon : die Gewaltnatur, der Herrenmensch er allein könne der Zeit ein Vorbild sein.( Und Stendhal hielt dennoch daran fest, obwohl er auch das Komödiantentum des Korsen durchschaute und selbst zugab, daß unter dem Druck Napoleons . nur Mittelmäßigkeit hatte gedeihen können... Aber das war nur einer der unzähligen Widersprüche bei Stendhal , die er bewußt bestehen ließ.)

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Stendhal predigte die härteste und rücksichts­loseste Selbstbehauptung und Energieentfaltung. Nur ein vom Machtwillen geleitetes und seine Ziele bedenkenlos eroberndes Leben trage einen wirklichen Wert in sich. Nietzsche war beglückt, bei Stendhal Vorläufer seiner eigenen Herren­moral und seines ,, lebermenschen" zu finden. Die französischen Nationalisten moderner Prägung( den deutschen im ungenierten Aneignen von geistigen Ahnenschaften nicht unähnlich) er­klärten ihn zu ihrem Lehrmeister. Sehr zu Un­recht: denn Stendhal lehnt den nationalen Chauvi­nismus ebenso entschieden ab wie die Sinnlosig= keit der staatlichen Grenzen, und aus seinem rein egoistischen, mur auf die Steigerung der Erlebnis­lust eines einzelnen bedachten Willenskult läßt sich ehrlicherweise feine nationalistische Jdeo­logie ausmünzen. Eine solche Ideologie ist über­haupt ohne die Elemente der Bindung, der Au­torität nicht denkbar; Stendhal aber verwirft alles, was nach einer gesellschaftlichen Institution, nach einer bindenden Moral oder allgemeingültigen Regel aussieht.

In seiner Areligiosität und im Autoritätenhaẞ Erbe des 18. Jahrhunderts, verflocht Stendhal den aufklärerischen Materialismus mit seiner Schwär­merei für die kraftstrogende italienische Renaissance zu einer wunderlichen Weltanschauung, dem Beylismus". Er glorifizierte selbst die Ge­walttaten und die Sittenlosigkeit der Renaissance, denn nur so meinte er, habe dieses Zeitalter einen Raffgel und einen Benvenuto Cellini hervorbringen können. Dank dem grundsäglich rebellischen und anarchischen Zug seiner Philo sophie ist Stendhal zum Leidwesen auch der nicht­nationalistischen französischen Programmatifer als ..geistiger Vorgänger" und als Stüße zum melt­anschaulichen Sichemporranken durchaus unge­eignet.

Eigenschaft nur eine( gleichgültig, ob eine begrün­dete oder ungerechtfertigte) Forderung der Nach melt an einen Dichter. Es besagt nichts über die

etwas abseitige und einsame Höhe der schrift:

stellerischen Tat Stendhals, in dem 30la, unser aller Bater" und André Gide den größten Romancier Frankreichs erblickten. Die vor ihm in der schönen franzöfifchen Literatur nie dagewesene und auch später faum übertroffene Schärfe und Tiefe der analytischen Seelenforschung, der erste Querschnitt durch den gesamten Gesellschaftsbau einer Zeit und die Wucht seiner formvollendeten Konstruktionen( ,, Rot und Schwarz ", Die Karthause von Barma") haben Stendhal die Un­sterblichkeit gesichert. Aber zum Ahnherrn des modernen Romans haben sie ihn nicht gemacht, troß der Versicherungen der Verehrer seines Genius, trotz Taine und Bourget. Der ,, Beylist" in Stendhal trübte seine dichterische Hell­sichtigkeit für die Umwelt; der Welt- Erdichter engte den Sichtkreis des Welt- Beschauers ein. Zwar hat Stendhal die Gesellschaft in sein Werk ein­zubeziehen vermocht, aber er begriff sie nicht. Die Wirklichkeit seiner Zeit blieb ihm fremd, und ihre Gestaltung durch ihn war vielfach eine Verzerrung. Erst Balzac hat die zeitgegebene Einstellung zum sozialen Phänomen des Lebens gefunden.

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Genealogisch setzte Stendhal das Werk von Beaumarchais fort. Nach Figaro , dem Ein­läuter der Großen Revolution, kam Stendhals Julien Sorel, ein Vorbote der Julitage. Beau marchais stritt dem Feudaladel fast alle gesell­schaftlichen Tugenden: Gemüt, Intelligenz, Recht­schaffenheit ab und verlieh sie dem echten Sohn des Volkes, Figaro. Aber nach einem Attribut des Feudalismus wagte der revolutionäre Dichter nicht zu greifen: nach der Würde. Die war noch ein Vorrecht des Grafen Almaviva, während Figaro ein Lakai blieb Stendhal war noch radikaler, er entriß dem Adel für seinen Plebejer Sorel auch; dieses Vorrecht, und er überspitzte es sogar in ein renaissancehastes ,, sentiment d'honneur". Doch ist bei Stendhal diese Eigenschaft nicht zum Ge meingut des Volkes geworden, sondern sie blieb dem egoistischen Hasardeur, dem beŋlistischen" Herrenmenschen vorbehalten. 3war begrüßte Stendhal , aus reiner Freude an Auflehnung über­haupt, die Julirevolution, sein Idealtyp aber, Sorel, verachtete neben dem Geburtsadel gleich­mäßig alle Volksklassen. Er verabscheute alles, was das eigentliche Leben und die Sorgen seines Volkes ausmachte. Sich schlagen, woher auch immer erbeutete Renten verpulvern und die höchste Lust des ,, beylistischen" Mannes!- Frauen erobern: dies allein war den Schweiß des neuen Edelmenschen wert. Das Volk, die Gesellschaft waren dazu kaum als Kulisse zu gebrauchen. Und angewidert schob Stendhal diese Kulisse möglichst weit weg. Er war ebenso asozial mie amoralisch, und sein Verhältnis zur Umwelt war das eines( allerdings sehr scharfzüngigen, galligen und daneben auch kunstliebenden) untätig gewordenen napoleonischen Kondottiere.

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In seiner Studie ,, leber die Liebe" hat Stendhal eine der unvergänglichsten Analysen des Doch ist das Borhandensein einer derartigen menschlichen Herzens gegeben. Seine Kristalli­

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sationstheorie der Liebe ist zum literarischen Al­gemeingut geworden. Der Beŋlismus" tritt in diesem Werke in den Hintergrund; doch seine Wir­fung ist noch stark genug, um die ganze Liebes­theorie mit einer Abstraktion statt mit der Wirk­lichkeit zu unterbauen. Die Gefühlswelt ist bei Stendhal von ihrer sozialen Seite fast völlig los­gelöst, seine Liebe schwebt unwirklich in einer von ihm gewollten Welt, in der sie das vornehmste Tun ist. Und wieder war es erst Balzac , der die realen Voraussetzungen des modernen Daseins flarer erkannte und der auch das Liebesgefühl wahrhaft konkret gestaltete.

Stendhals dichterischer Genius hat sich selbst ein ehernes Denkmal errichtet. Stendhals Welt­anschauung hat dieses Denkmal mit einem wunder­lichen Gitterwerk umfriedet, welches der Nachwelt eine von Henri Beyle selbst kaum gewollte Distanz gebietet.

Ein Vorgänger Stendhals

Montaigne 1533-1592

Die anderen bilden den Menschen, ich stelle ihn dar, wie er ist, und zwar führe ich einen ein­zelnen vor, der sehr übel gebildet ist. Wenn ich ihn neu gestalten könnte, würde ich etwas ganz anceres aus ihm machen. Was ich hier darlege, ist ein gewöhnliches Leben ohne allen Glanz. Man kann die ganze Moralphilosophie ebensogut an einem gemeinen Privatleben entwickeln wie an einem Leben von reichstem Gehalt. Jeder Mensch trägt alle Seiten des menschlichen Lebens in fich. Die Schriftsteller, die sich ans Publikum wenden, pflegen irgendeine Spezialität hervorzukehren, die mit ihrem Wesen weiter nichts zu tun hat. Ich als erster mit meinem Wesen, das ich mit allen gemein habe, als Michel de Montaigne , nicht als Grammatiker oder Dichter oder Rechtsgelehrter. Beschweren sich die Leute, daß ich zuviel von mir spreche, so teschwere ich mich darüber, daß sie nicht einmal an sich selbst denken.

Jede Regung enthüllt uns. Es ist dieselbe Seele Cäsars, die sich im Plan zur Schlacht von Phar­falus offenbart, und die zutage tritt, wenn es Feste gibt, die der Muse und der Liebe gewell; 1 find. Man beurteilt ein Pferd nicht nur danach, wie es Karriere läuft, sondern auch, wie es im Schritt geht, ja wie es ruhig im Stall steht. Unter den Betätigungen der Seele gibt es auch solche gewöhnlicher Art. Wer die Seele nicht auch da sieht, hat sie noch nicht ganz fennengelernt. Bielleicht beobachtet man sie da am besten, wo sie sich einfach gehen läßt. Warum sollte ich mir über Aleganter nicht ein Urteil bilden danach, wie er bei Tisch sitzt und plaudert und tüchtig zecht oder wie er Schach spielt? Gibt es eine Seite des Geistes, die dieses nichtssagende Spiel nicht zum Erflingen brächte?( Ich hasse und meide es, weil es nicht Spiel genug ist und uns zu ernsthaft in Anspruch nimmt: da schäme ich mich, so viel Aufmerksamkeit darauf zu wenden mie auf eine Sache, die es mert ist.) Jedes Teil­chen seines Lebens, jegliche Art seiner Betätigung zeigt den Menschen, wie er leibt und lebt.