BEILAGE
Vorwärts
Als Stendhal oder, wie er mit seinem bürgerlichen Namen hieß, Henri Beyle , einmal nach seinem Beruf gefragt wurde, erwiderte er stodernft: Beobachter des menschlichen Herzens. Das war keiner der Scherze, mit denen er den Sipeßbürger zu verblüffen liebte, denn was er immer im Leben mar: 1800 bis 1802 Dragonerleutnant, 1805 bis 1806 Kaufmann, 1806 bis 1812 Militärbeamter und gar von 1830 ab französischer Konsul irgendwo in Italien , jede dieser Tätigkeiten übte er nur lässig und mie nebenbei aus. Ohne sich durch große Kriegstaten auszuzeichnen, ohne Pulver auch nur richtig ge= rochen zu haben, warf er den Helm mit dem Roßhaarschweif in die Ecke, weil der Säbel den Geist töte; mit Gott Merkur hatte er sich nur eingelassen, um einer angeschwärnten Schauspielerin nach Marseille folgen zu können; als Intendanturbeamter bekümmerte er sich in den Ländern, die die Große Armee durchzog, weit mehr um Ge= mälde, Musik und Frauen als um Proviant und Rationen, und das Amt eines fleinen Diplomaten empfand und behandelte er nur als lästige Fron. Ja, nicht einmal Schriftsteller im Sinn eines Berufes war der Verfasser zweier der unsterblichsten Romane der Weltliteratur, der ,, Kartause von Parma " und von Rot und Schwarz ". In all dem Dilettant, war er wirklich
Fachmann nur als Betrachter, Belauerer und Beschreiber
des menschlichen Herzens.
Weil er sich gern in sich selber verkroch und gegen seine Epoche absperrte, sprach man wohl von der Zeitlosigkeit feines Wesens. Aber da der zeitlose Dichter ebenso ein Unding ist wie die wurzellose Pflanze. hing auch Sten dhal , der die Unabhängigkeit über alle Güter der Erde stellte, mannigfach von seiner Zeit ab. 23. Januar 1783 in Grenoble Welt
Wieviel sychologische Beute brachte dieser Erfenntnisjäger" heim, die die Psychoanalyse unserer Tage mit ihren vervollkommneten Waffen zu er= legen stolz iſt!
ziehen, baute er zu einer Lehre, der des ,, Ego= nicht einmal im stillen Kämmerlein eingestanden! tismus“, aus. Alle seine Bücher, ob es Romane und Novellen oder Reisebriefe und Kunstberichte waren, schrieb er als Stüde seiner Selbstbiographie, als Beiträge zur Beichichte seiner Seele. Da nur das eigene Ich für ihn Bedeutung hatte, erkannte er feinerlei Kollektiv an, mochte es nun Baterland oder Nation Partei oder Klasse heißen, und selbst die Ehe erklärte er für eine widernatürliche Bindung. Aber auch dieser unbeirrbare Fanaticmus der Selbstbespiegelung, Selbstentblößung und Selbstdarstellung offenbarte die Zeitgebundenheit Stendhals Die Selbstbiographie als eine der stärksten Formen der IchBetonung ist
ein Erzeugnis des bürgerlichen Zeitalters;
der mittelalterliche Mensch kam sich noch nicht interessant vor, und vollends zerkrümelte erst die Revolution von 1789 die überlieferten Stände und Kasten in eine Unzahl von Individuen, deren jedes auf sich gestellt war. Hinzu traten bei Sten= dhal angeborene Ueberemfindlichkeit. nervöse Reizbarkeit und Belastung mit Minderwertigkeitsvorstellungen, um seinen 3ch Kult in steilste Höhen hinaufzutreiben und zu einer schöpferischen Tugend werden zu lassen. Denn do er sich, diesem Ich- Kult hingegeben, unablässig belauerte, da er in sein Gemütsleben eindrong wie ein Forscher in einen Urwald, da er in unaufhörlicher Gewissensprüfung wahnsinnig indiskret gegen sich selber war, da er die eigenen Gefühle beschlich wie ein Indianer den Feind, so wurde er in der Wissenschaft vom menschlichen Her 3en" ein großer Meister und verdienter Bahnbrecher. Welche geheimen und geheimsten Regungen enthüllte dieser kühle Vivisektor, die sich andere
Wenn Ironie und Skepsis der Bodensaz aller Empfindungen Stendhals maren, fo verstummte sein Spott doch vor einem: der Ener= gie; er trug sich mit dem Plan, eine„ Ge= schichte der Energie in Italien " zu schreiben, und einen ,, Professor der Energie" nennt ihn ein bekanntes Wort Auch hier liegen die Fäden zutage, die ihn mit seiner Zeit verbinden. Die Revolution bedeutete den Durchbruch der bürgerlichen Energie durch die Decke der feudalen Gesellschaftsordnung; eines ihrer Mittel, die Begeisterung mächtig zu entzünden, war die Losung: Dem Talente freie Bahn!, im Zeichen der feierlich verkündeten Gleichheit stand jedem Bauernjungen der Weg zur höchsten Macht und zum höchsten Glanz offen: der kleine Artillerieleutnant, der es bis zum Kaiser brachte, wirkte mie ein Sinnbild. Die bourbonische Restauration aber verstopfte die Quelle dieser Energie, indem sie die gehässigen Vorrechte der Geburt wieder aufrichtete. Darum zeichnete Stendhal im Julien Sorel seines Romans ,, Rot und Schwarz " einen Plebejer, der mit Energie und Ehrgeiz geladen wie ein überheizter Dampfkessel, mi allen, mit allen Mitteln hoch will; da dieser urgeitüme Streber wegen eines Mordanschlages auf seine frühere Geliebte vor einer Geschworenenbank entrüsteter fatter Bürger steht, schleudert er ihnen ins Gesicht: Sie wollen in mir jene Klasse junger Leute bestrafen und für immer entmutigen. die, in einer niederen Klasse geboren und unterdrückt durch die Armut, das Glück haben, sich eine gute Erziehung
MONTAG, 23. JANUAR 1933
zu beschaffen und die Kühnheit, sich in das einzudrängen, was der Dünkel der Reichen die Gesellschaft nannte."
fühlte sich nicht als sozialen Ankläger;
er wollte nur sich. Immerhin mar die poli= tische Neugier" in ihm start genug, um ihn vom Selbstmord zurückzuhalten. Auch in seinen politischen Anschauungen fehlte es bei dem Gegner Napoleons , der zum Anbeter Napoleons wurde und lieber einem Chamäleon als einem Rindvieh gleichen wollte, nicht in dicken Widersprüchen, aber der die Große Revolution stürmisch bejahte, die Jakobiner der Schreckensherrschaft billigte und sich für die Gleichberechtigung der Frau aussprach, stand gewiß nicht auf der Seite der Barrikade, wo rostige Waffen für verschimmelte Borrechte stritten; nicht von ungefähr verdächtigte ihn ein Spielbericht der österreichischen Behörden in der Lombardei als irreligiösen unmoralischen und gefährlichen Feind der Legitimität". Denn er haßte die Jesuiten und Priester, verachtete die Bourbonen, liebte die poetischen und publizistischen Bekämpfer der Restauration Béranger und Courier, und seine Bewunderung gehörte den namenlosen Arbeitern, die sich unter dem Julifönigtum mit Schrotflinten und ohne Kanonen gegen eine zwanzigfache Uebermacht des Militärs für ihre republikanische Ueberzeugung schlugen und niedermezeln ließen.
Sein
Er hatte es nicht nötig, zu beteuern, daß er mehr Bürger als Unterton sei. Werk zeugt für ihn. Wenn sein Erkenntnisdrang auch nur das menschliche Herz, nicht die menschliche Gesellschaft besser durchschauen half, diente auch das der Verbreitung der Wahrheit und mittelbar der Emanzipation der Menschheit. Sten= dhal nannte einmal die Schriftsteller die ,, Hufaren der Freiheit, die plänkelnd manchmal zurückwichen und doch jeden Tag ins Feuer gingen. Stendhal selbst war ein solcher Husar der Freiheit.
tommen, war er nicht nur dem Geburtschein nach J Amdurski Schubert: Der Egoist und die Gemeinschaft
ein Kind des 18. Jahrhunderts sondern verdankte auch den großen Materialisten dieses Säculums sein ganzes philosophisches Reisegepäc; als seine Bibel betrachtete der Sechzehnjährige des Ca= banis ,, Beziehung zwischen dem Physischen und dem Moralischen ", und Helvetius hielt er stets für den größten Philosophen der Franzosen . Dieser Materialismus, der alles auf ein fast maschinenmäßig arbeitendes Verhältnis von Ursache und Wirkung zurückführte, machte ihn zu dem unbedingten Gottesleugner, der er bis zu seinem jähen Tode am 23. März 1842 blieb, und stieß ihm das Tor zur Erkenntnis der Welt auf Im Bann dieses Materialismus wollte er in seinem berühmten Buch ,, Ueber die Liebe" sogar das von einer Frau vermittelte Sinnengli nach Einheiten messen, wie man eine Flüssigkeit nach Litern mißt. Aber mit Recht bemerkt der französische Sozialistenführer Léon Blum in seiner geistreichen und scharfsichtigen Etudie über Sten dhal , daß bei diesem widerspruchsvollen Schriftsteller
zwei verschiedene Strömungen des 18. Jahrhunderts in ein Bett zusammenfließen: der Mechanismus eines Helvetius, der alles aus dem Verstand heraus erklärt, und der romantische Individualismus eines Rousseau, der statt der Vernunft das Gefühl, die Leidenschaft, das Außer- sich- Sein über alles preist. In der Großen Revolution, deren Höhepunkt Beyle als Knabe miterlebt hatte, suchte die Menschheit über sich selbst hinauszugelangen, das Unbedingte zu erreichen, nach den Sternen zu greifen; ein Rausch des Enthusiasmus schüttelte die Seelen; Stendhal telber bekannte als 3wanzigjähriger, daß ihn ein Fieber verzehre, ,, auf den Spuren der großen Männer auszuschreiten, die, Schöpfer der Revolution, von ihrem eigenen Werk verschlunnen worden waren". Aber wenn in der napoleonischen Aera noch etwas von diefer ungeheuren Seelenspannung nachschwang, so stürzte nach Waterloo die Welt wieder ins Alltägliche, in die platteste Nüchternheit zurück. und noch trostloser wurde unter Ludwig Philipp. die Elle des Krämers zum Maß aller Dinge. Die bittere Enttäuschung einer ganzen Generation auszudrücken, wurde Stendhals Aufgabe. Fühlte er sich von dem angewidert, was er ,, la bassese bourgeoise", die ,, bürgerliche Gemeinheit" nannte, empfand er ähnlich wie Heinrich Heine :
O daß ich große Laster säh'. Verbrechen blutig, folossal, Nur diese satte Tugend nicht Und zahlungsfähige Moral!
Und nichts erschien ihm häßlicher als der Zug um den Mund eines Bankiers, der Verluste befürchtet.
Aber weit war er davon entfernt, bewußt seine Zeit zu spiegeln. Er hatte nur das eine Programm ,,, mit Wahrheit und Klarheit zu erzählen was sich in meinem Herzen begibt". Von der ganzen Welt war im Grunde nur Stendhal für Stendhal interessant; sich fühlte er als Mittelpunkt der Schöpfung; alles auf sich zu be
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,, Arrigo Beyle Milanese"- lauten die ersten Worte von Stendhals selbstverfaßter Inschrift auf dem Grabstein eines Pariser Friedhofs. Den legten Anstoß, seinen Bornamen sozusagen übers Grab hinaus zu italianisieren und sich lieber als Mailänder, der er eigentlich nie war, denn als Franzose zu bezeichnen, gab ihm angeblich sein Aerger über die Politik Louis Philippes. Stendhal verabscheute die vielfach nachgiebige Fric enspolitik des Bürgerfönigs. Die Arbeit am ruhigen, materiellen Aufbau Frankreichs erschien ihm unwürdig und geisttötend. Er verglich sie mit dem Schwung und dem leidenschaftlichen Totaleinfaz der napoleonischen Aera . Aber nicht nur die bürgerliche Geschäftigkeit des juste- milieu war ihm ein Greuel, auch für den langsam wiedererstarkenden demokratischen Geist des vormärzlichen Frankreich hatte er nur Spott übrig; Napoleon : die Gewaltnatur, der Herrenmensch er allein könne der Zeit ein Vorbild sein.( Und Stendhal hielt dennoch daran fest, obwohl er auch das Komödiantentum des Korsen durchschaute und selbst zugab, daß unter dem Druck Napoleons . nur Mittelmäßigkeit hatte gedeihen können... Aber das war nur einer der unzähligen Widersprüche bei Stendhal , die er bewußt bestehen ließ.)
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Stendhal predigte die härteste und rücksichtsloseste Selbstbehauptung und Energieentfaltung. Nur ein vom Machtwillen geleitetes und seine Ziele bedenkenlos eroberndes Leben trage einen wirklichen Wert in sich. Nietzsche war beglückt, bei Stendhal Vorläufer seiner eigenen Herrenmoral und seines ,, lebermenschen" zu finden. Die französischen Nationalisten moderner Prägung( den deutschen im ungenierten Aneignen von geistigen Ahnenschaften nicht unähnlich) erklärten ihn zu ihrem Lehrmeister. Sehr zu Unrecht: denn Stendhal lehnt den nationalen Chauvinismus ebenso entschieden ab wie die Sinnlosig= keit der staatlichen Grenzen, und aus seinem rein egoistischen, mur auf die Steigerung der Erlebnislust eines einzelnen bedachten Willenskult läßt sich ehrlicherweise feine nationalistische Jdeologie ausmünzen. Eine solche Ideologie ist überhaupt ohne die Elemente der Bindung, der Autorität nicht denkbar; Stendhal aber verwirft alles, was nach einer gesellschaftlichen Institution, nach einer bindenden Moral oder allgemeingültigen Regel aussieht.
In seiner Areligiosität und im Autoritätenhaẞ Erbe des 18. Jahrhunderts, verflocht Stendhal den aufklärerischen Materialismus mit seiner Schwärmerei für die kraftstrogende italienische Renaissance zu einer wunderlichen Weltanschauung, dem Beylismus". Er glorifizierte selbst die Gewalttaten und die Sittenlosigkeit der Renaissance, denn nur so meinte er, habe dieses Zeitalter einen Raffgel und einen Benvenuto Cellini hervorbringen können. Dank dem grundsäglich rebellischen und anarchischen Zug seiner Philo sophie ist Stendhal zum Leidwesen auch der nichtnationalistischen französischen Programmatifer als ..geistiger Vorgänger" und als Stüße zum meltanschaulichen Sichemporranken durchaus ungeeignet.
Eigenschaft nur eine( gleichgültig, ob eine begründete oder ungerechtfertigte) Forderung der Nach melt an einen Dichter. Es besagt nichts über die
etwas abseitige und einsame Höhe der schrift:
stellerischen Tat Stendhals, in dem 30la, unser aller Bater" und André Gide den größten Romancier Frankreichs erblickten. Die vor ihm in der schönen franzöfifchen Literatur nie dagewesene und auch später faum übertroffene Schärfe und Tiefe der analytischen Seelenforschung, der erste Querschnitt durch den gesamten Gesellschaftsbau einer Zeit und die Wucht seiner formvollendeten Konstruktionen( ,, Rot und Schwarz ",„ Die Karthause von Barma") haben Stendhal die Unsterblichkeit gesichert. Aber zum Ahnherrn des modernen Romans haben sie ihn nicht gemacht, troß der Versicherungen der Verehrer seines Genius, trotz Taine und Bourget. Der ,, Beylist" in Stendhal trübte seine dichterische Hellsichtigkeit für die Umwelt; der Welt- Erdichter engte den Sichtkreis des Welt- Beschauers ein. Zwar hat Stendhal die Gesellschaft in sein Werk einzubeziehen vermocht, aber er begriff sie nicht. Die Wirklichkeit seiner Zeit blieb ihm fremd, und ihre Gestaltung durch ihn war vielfach eine Verzerrung. Erst Balzac hat die zeitgegebene Einstellung zum sozialen Phänomen des Lebens gefunden.
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Genealogisch setzte Stendhal das Werk von Beaumarchais fort. Nach Figaro , dem Einläuter der Großen Revolution, kam Stendhals Julien Sorel, ein Vorbote der Julitage. Beau marchais stritt dem Feudaladel fast alle gesellschaftlichen Tugenden: Gemüt, Intelligenz, Rechtschaffenheit ab und verlieh sie dem echten Sohn des Volkes, Figaro. Aber nach einem Attribut des Feudalismus wagte der revolutionäre Dichter nicht zu greifen: nach der Würde. Die war noch ein Vorrecht des Grafen Almaviva, während Figaro ein Lakai blieb Stendhal war noch radikaler, er entriß dem Adel für seinen Plebejer Sorel auch; dieses Vorrecht, und er überspitzte es sogar in ein renaissancehastes ,, sentiment d'honneur". Doch ist bei Stendhal diese Eigenschaft nicht zum Ge meingut des Volkes geworden, sondern sie blieb dem egoistischen Hasardeur, dem beŋlistischen" Herrenmenschen vorbehalten. 3war begrüßte Stendhal , aus reiner Freude an Auflehnung überhaupt, die Julirevolution, sein Idealtyp aber, Sorel, verachtete neben dem Geburtsadel gleichmäßig alle Volksklassen. Er verabscheute alles, was das eigentliche Leben und die Sorgen seines Volkes ausmachte. Sich schlagen, woher auch immer erbeutete Renten verpulvern und die höchste Lust des ,, beylistischen" Mannes!- Frauen erobern: dies allein war den Schweiß des neuen Edelmenschen wert. Das Volk, die Gesellschaft waren dazu kaum als Kulisse zu gebrauchen. Und angewidert schob Stendhal diese Kulisse möglichst weit weg. Er war ebenso asozial mie amoralisch, und sein Verhältnis zur Umwelt war das eines( allerdings sehr scharfzüngigen, galligen und daneben auch kunstliebenden) untätig gewordenen napoleonischen Kondottiere.
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In seiner Studie ,, leber die Liebe" hat Stendhal eine der unvergänglichsten Analysen des Doch ist das Borhandensein einer derartigen menschlichen Herzens gegeben. Seine Kristalli
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sationstheorie der Liebe ist zum literarischen Algemeingut geworden. Der Beŋlismus" tritt in diesem Werke in den Hintergrund; doch seine Wirfung ist noch stark genug, um die ganze Liebestheorie mit einer Abstraktion statt mit der Wirklichkeit zu unterbauen. Die Gefühlswelt ist bei Stendhal von ihrer sozialen Seite fast völlig losgelöst, seine Liebe schwebt unwirklich in einer von ihm gewollten Welt, in der sie das vornehmste Tun ist. Und wieder war es erst Balzac , der die realen Voraussetzungen des modernen Daseins flarer erkannte und der auch das Liebesgefühl wahrhaft konkret gestaltete.
Stendhals dichterischer Genius hat sich selbst ein ehernes Denkmal errichtet. Stendhals Weltanschauung hat dieses Denkmal mit einem wunderlichen Gitterwerk umfriedet, welches der Nachwelt eine von Henri Beyle selbst kaum gewollte Distanz gebietet.
Ein Vorgänger Stendhals
Montaigne 1533-1592
Die anderen bilden den Menschen, ich stelle ihn dar, wie er ist, und zwar führe ich einen einzelnen vor, der sehr übel gebildet ist. Wenn ich ihn neu gestalten könnte, würde ich etwas ganz anceres aus ihm machen. Was ich hier darlege, ist ein gewöhnliches Leben ohne allen Glanz. Man kann die ganze Moralphilosophie ebensogut an einem gemeinen Privatleben entwickeln wie an einem Leben von reichstem Gehalt. Jeder Mensch trägt alle Seiten des menschlichen Lebens in fich. Die Schriftsteller, die sich ans Publikum wenden, pflegen irgendeine Spezialität hervorzukehren, die mit ihrem Wesen weiter nichts zu tun hat. Ich als erster mit meinem Wesen, das ich mit allen gemein habe, als Michel de Montaigne , nicht als Grammatiker oder Dichter oder Rechtsgelehrter. Beschweren sich die Leute, daß ich zuviel von mir spreche, so teschwere ich mich darüber, daß sie nicht einmal an sich selbst denken.
Jede Regung enthüllt uns. Es ist dieselbe Seele Cäsars, die sich im Plan zur Schlacht von Pharfalus offenbart, und die zutage tritt, wenn es Feste gibt, die der Muse und der Liebe gewell; 1 find. Man beurteilt ein Pferd nicht nur danach, wie es Karriere läuft, sondern auch, wie es im Schritt geht, ja wie es ruhig im Stall steht. Unter den Betätigungen der Seele gibt es auch solche gewöhnlicher Art. Wer die Seele nicht auch da sieht, hat sie noch nicht ganz fennengelernt. Bielleicht beobachtet man sie da am besten, wo sie sich einfach gehen läßt. Warum sollte ich mir über Aleganter nicht ein Urteil bilden danach, wie er bei Tisch sitzt und plaudert und tüchtig zecht oder wie er Schach spielt? Gibt es eine Seite des Geistes, die dieses nichtssagende Spiel nicht zum Erflingen brächte?( Ich hasse und meide es, weil es nicht Spiel genug ist und uns zu ernsthaft in Anspruch nimmt: da schäme ich mich, so viel Aufmerksamkeit darauf zu wenden mie auf eine Sache, die es mert ist.) Jedes Teilchen seines Lebens, jegliche Art seiner Betätigung zeigt den Menschen, wie er leibt und lebt.