Abend- Ausgabe
Nr. 46 B 23 50. Jahrg.
Vorwärts
BERLINER
VOLKSBLATT
FREITAG
27. Januar 1933
Jn Groß Berlin 10 Pf. Auswärts...... 10 Pf. Bezugsbedingungen und Anzeigenpreise fiehe Morgenausgaba
Mehr Macht- wem?
Vor der
Entscheidung des Aeltestenrats
Im Reichstag fizen der Haus. haltsausschuß und der Auswär tige Ausschuß, und um 3 Uhr nachmittags will der Aeltestenrat tagen, wenn er nicht wieder, wie am vorigen Freitag, um Stunden vertagt wird.
Es heißt aber, daß jetzt Schleicher selbst weitere Verschleppungen nicht dulden will, sondern die Entscheidung fordert. Nachdem sich Nationalsozialisten und Deutschnationale gegen ihn erklärt haben, scheint, wenn es zu Reichstagsverhandlungen kommt, ein Mißtrauensvotum gegen ihn gewiß. Der Reichspräsident fann dann den Reichstag auflösen und Neuwahlen ausschreiben. Er tann den zurückgetretenen Kanzler wieder ernennen, er fann mit oder ohne Reichstagsauflösung einen neuen Kanzler ernennen, er fann ebensogut auch ohne Reichstagsauflösung Schleicher wieder ernennen und ihn mit einem leicht veränderten Kabinett nochmals vor den Reichstag treten lassen. Er fann auch noch verschiedenes anderes, was ohne Staatsstreich über die Schwierigkeiten des Augenblicks hinweghilft.
Gegenüber einem Reichstag, der sich rein negativ verhält, alle Regierungen stürzt und feine duldet, besitzt der Reichspräsident eine unbeschränkte Macht. Es gibt für ihn zahlreiche Varianten von Lösungen, ohne daß darum alles durcheinander gebracht und in Trümmer geschlagen werden müßte.
Die treibenden Kräfte von rechts wollen aber gar nicht die Rückkehr zu einer vernünftigen Ordnung. Sie wollen grundsäglich die Unordnung, weil sie dann besser im trüben fischen können. Nachdem es ihnen mit kom munistischer Unterstützung gelungen ist, das parlamentarische System kampfunfähig zu machen, arbeiten sie mit gleicher Emsigkeit daran, auch das Amt des Reichspräsidenten völlig zu entwerten. Sie haben solange geschrien: Mehr Macht dem Reichspräsi denten ", bis er sie hatte. Jetzt aber wollen sie sie ihm wieder nehmen, denn sie wollen sie für sich!
Ein Reichspräsident, der sich von ihnen zwingen ließe, Papen wieder zu holen oder Hitler zu ernennen, wäre im politischen Spiel nur noch eine Nebenfigur.
Die Herren von der ,, nationalen Rechten" wollen Hindenburg zwingen- sie wissen nur nicht wozu. Die Nazis wollen unter allen Umständen ihren Adolf als deutschen Faschingskanzler. Die Deutschnationalen wollen ihn nicht. Kurz und gut, im Lager der Antimarristen ist der Krieg aller gegen alle um Macht und Futterkrippe in vollem Gange. Ein Staatsstreich mit Reichstagsauflösung ohne Neuwahlen ist da kein Ausweg. Er führt nur noch tiefer in die Wirren hinein.
Da oben immer sichtbarer die feste Hand fehlt, kann die Lösung nur von unten fommen. Sie wird in dem Augenblick da sein, in dem das Volk selbst der Mißwirtschaft der nationalen Rechten ein schneidendes Mißtrauensvotum erteilt. Das kann nur durch freie Wahlen und Boltsabstimmungen geschehen. Wer sie unterbinden will, begeht ein Verbrechen an der Nation.
Das Bolk hat durch die Wahl von Gegnern seiner demokratischen Rechte sich selbst entmachtet und alle Macht den kapitalistischen Klüngeln und Cliquen gegeben. Die Lösung muß jezt lauten: Reine Macht den Klüngeln und Cliquen; alle Maht dem Volte!
Milliarden, die sich berflüchtigen
Preußen fordert Verkürzung der Arbeitszeit und andere Verteilung der Arbeit
Heute besprach der Haushaltsausschus des Reichstags im Rahmen seiner großen finanzpolitischen Debatte die Fragen der Arbeitsbeschaffung und der Steuergutscheine.
Der Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung Dr. Gereke mit seinem Stabe, neben ihm das Arbeitsministerium, das Wirtschaftsministerium und Finanzministerium ſizen am Regierungstisch.
Die Debatte wurde durch eine längere Rede des Abg. Reinhardt( Nsoz.) eingeleitet nach den tiefen Worten, daß die Armut von der Poverteh herkomme: die Verminderung der Arbeitslosigkeit
wird morgen 80 Jahre alt
Am morgigen Sonnabend vollendet unser hessischer Veteran Carl Ulrich , schon im Kaiserreich von Freund und Feind scherzhaft ,, der rote Großherzog" genannt, womit seine ungewöhnliche Popularität im Hessenlande gekennzeichnet wurde, sein 80. Lebensjahr in förperlicher und geistiger Frische. Wie fast alle unsere alten Führer ist auch Ulrich im besten Sinne des Wortes ein selbstgemachter Mann". Aermlichen Verhältnissen entsprungen, hat ihm nur die Volksschule sein geisti
ges Rüstzeug auf den Lebensweg gegeben, als Schlosser und Dreher ging er Anfang der siebziger Jahre auf die ,, Walze" und schon im Jahre 1875, als 22jähriger, übernahm er die Redaktion des sozialdemokratischen Neuen Offenbacher Tageblattes", dem er von 1879 an als Geschäftsführer vorstand. In den Stürmen des Sozialistengesetzes bekam auch er sein Teil ab, unter vielen Freiheitsstrafen heben wir nur die neummonatige Gefängnishaft hervor, die ihm 1866 im Freiberger Sozialistenprozeß gemeinsam mit Bebel und Auer zudiktiert wurde. Er büßte sie mit ihnen in Zwickau ab, und alle drei sind lebenslängliche Freunde geblieben. Seine parlamentarische Tätigteit begann er 1885 in der zweiten hessischen Ständekammer, sie dauerte hier an, bis die Revolution dieses petrefakte Institut begrub. Inzwischen führte er als Offenbacher Stadtverordneter seine scharfe Klinge und 1890 zog er zum ersten Male in den Deutschen Reichstag ein, dem er mit der kurzen Unterbrechung von 1903 bis 1907 36 Jahre lang angehörte. Als die Umwäl= zung 1918 die Sozialdemokratie in die erste Linie rückte, wählte ihn der Arbeiter- und Soldatenrat und später die Volkskammer zum Ministerpräsidenten des hessischen Volksstaates mit dem Titel ,, Staatspräsident", und so fonnte er auch hier noch einmal ein Jahrzehnt hindurch der Arbeiterklasse dienen.
Aus dem Reichstag ist Ulrich erst im Jahre 1930 ausgeschieden, die Fortführung seiner Arbeit jüngeren Händen überlassend. Aber noch heute gehört jeder Gedanke des Alten der Bewegung, die sein ganzes Leben erfüllt hat. Wir wünschen ihm an seinem 80. Geburtstag, daß er den neuen Aufstieg dieser Bewegung weiter in voller Frische mit erleben möge.
könnte nur durch Vermehrung von Arbeit beseitigt werden, die Nachfrage nach Gütern und Leistungen könne nur steigen, wenn das Lohnkonto der Volkswirtschaft wachse. Die Kaufkraft müsse gehoben werden, wenn die Produktion steigen solle.
Als positive Vorschläge seiner theoretischen Darstellung unterbreitete er in Ergänzung von anderen Anträgen Initiativgesehentwürfe. Ihr ge= meinsamer Sinn ist, daß die Steuergut. scheine ebenso wie bares Geld behandelt werden sollen, aber nur an denjenigen Unternehmer ausgegeben werden dürften, der den Nachweis zufäglicher Beschäftigung erbringe. Eine Inflation werde dabei nicht eintreten.
Unter großer Aufmerksamkeit des Haushaltsausschusses nahm dann für die preußische verfassungsmäßige Regierung der Ministerialdirektor Dr. Brecht das Wort. Er erklärte, daß er im Namen der preußischen Regierung seine Ausführungen zur Arbeitsbeschaffung mache.
Brechts Betrachtung ging davon aus, daß die Größe der finanziellen Leistungen und die Belastung infolge der Arbeitslosigkeit immer unterschätzt werden, weil diese
Ausgaben in Höhe von 3 Milliarden Mark nicht mit realen Größen, die jedermann bekannt seien, verglichen würden. Die gesamten direkten Steuern des Reichs stellen eine geringere Größenordnung dar als jene 3 Milliarden. Ebenso seien die gesamten 3olleinnahmen, Bierund Tabaksteuereinnahmen und Verbrauchssteuern weniger als jene Ausgaben!
So richtig selbstverständlich Arbeitsbeschaffung sei, sie ändere aber grundsätzlich nichts. Im Gegenteil, die Belastungen des Reichshaushalts, der Länder- und Gemeindeetats würde damit für die Zukunft sogar noch größer. So sprechen eine ganze Reihe von Gründen gegen die Annahme, daß mit Arbeitsbeschaffung ernsthaft etwas geändert werden könne. Nur durch rationelle Verteilung der normalen Arbeit, durch eine andere Einteilung der Arbeit würde ein ernsthafter Einfluß auf den Arbeitsmarkt ausgeübt werden können. Die
Verkürzung der Arbeitszeit müsse gesetzlich vorgenommen werden.
Nur so könnten in Wirklichkeit die heutigen Milliardenkosten für die Arbeits= losen erspart werden. Dabei müsse man, wenn es notwendig werde, auch über die Kürzung zur Vierzigstundenwoche noch hinaus gehen.
Das alles habe die preußische Regierung in einem seinerzeit so wenig beachteten Schreiben als
Erweiterter Bezirksvorstand
Heute, 19 Uhr, Sitzung im Sitzungssal des Bezirksverbandes
politisches Dokument ihrer Auffassung schon vor dreiviertel Jahren der Reichsregierung mitgeteilt.
Abg. Hertz( Soz.)
begründet die sozialdemokratische Forderung nach Beseitigung der Steuergutscheine als Steuergeschenke und für Einstellungsprämien. Der Regierungsplan zur Arbeitsbeschaffung habe viele Hoffmungen erweckt, aber bisher keine erfüllt. Der Reichskanzler von Papen habe seinerzeit angekündigt, daß in kurzer Zeit 1% Millionen Menschen in Arbeit gebracht werden würden. Nicht einmal von den Ein= stellungsprämien ist eine merkbare Beeinflussung des Arbeitsmarktes erfolgt. Zu allem übrigen komme, daß heute auch die 3 ahl der Arbeitslosen nicht mehr genau festgestellt werden könne. Die Zahl der unsichtbaren Arbeitslosen habe schon eine Größe von 2 Millionen erreicht. Der Redner der
sozialdemokratischen Fraktion verlangt von der Regierung genaue Auskunft:
1. Wie viele Arbeitslose haben durch die befannten Notverordnungsmaßnahmen ihren Anspruch auf Unterstützung verloren,
2. Wie viele Wohlfahrtsunterffügungsempfänger werden deswegen nicht mehr als Arbeitslose gezählt, weil sie älter als 60 Jahre find,
3. Wie steht es mit der tatsächlichen Ausgabe von Steuergutscheinen, zahlenmäßig getrennt für beide Arten?
Die Regierung nenne ständig größere Summen für Arbeitsbeschaffung als auch bei optimistischer
Burlin Bleibt 204 Sonntag,
29.Januar 14% Uhr
Lustgarten
Nachrechnung sich ergeben. Der Wirtschaftsmini ster habe von über einer Milliarde Mark gesprochen, die jeßt für Arbeitsbeschaffung bereit gestellt sei, während es höchstens 680 bis 730 Millionen sind. Durch ihre fortgesetzten propagandistischen Veröffentlichungen
erzeugt die Regierung falsche Hoffnungen. Man bekomme von ihr mehr Reden als Taten. Die Sozialdemokratie fordere die ernsthafte Finanzierung der Arbeitsbeschaf= fung durch Auflegung einer Prämienanleihe, um damit das gehortete Geld zu nüzlicher Verwen dung zu bringen und, soweit die Prämienanleihe nicht ausreiche, werde eine 3 wangsanleihe notwendig sein. Das ergäbe sich überdies schon aus den Bemerkungen des Vertreters der preußischen Regierung, der auf die riesen. haften zukünftigen Belastungen des Reiches, der Länder und Gemeinden hingewiesen habe. Man dürfe nicht warten, bis erst die schwersten Erschütterungen sich auswirken. Die Arbeitsbeschaffung auf dem Wege der Kreditschöpfung ist viel beschränkter als der sozialdemokratische Vorschlag, der eine Kapitalmobili sierung darstellt.
Der Wohnungsbau habe noch 1929 rund 330 000 Wohnungen erstellt und 1,5 milliarden seien dafür aufgewendet worden. Diese Zahl ist jetzt so weit zusammengeschrumpft, daß eine
neue Wohnungsnot sich deutlich bemerkbar mache.
Deswegen gehört der Bau von Kleinst moh= nungen zu erträglichen Mieten auch in das Programm für Arbeitsbeschaffung.
Ungeheuerlich ist die Belastung der öffentlichen Haushalte des Reichs, der Länder und Gemeinden durch die Arbeitslofenfummen. Es ist eine Illusion des Finanzministers, wenn er die Zufunftsmöglichkeiten der Steuerscheine so darstellt,