Nr. 13 5. Dezember 1926 Mlickin öie Hucherwelt • Beklage öes vorwärts Reisebeschreibungen. Colin Roß : Heute in Indien . 329 Seiten mit 80 Abbil- düngen und einer Karte. Preis 9,50 M. Colin Roß : Das Meer der Entscheidungen: Beider- scits des Pazifik . 333 Seiten mit 97 Abbildungen und 7 Karten- jkizzen. Preis 8,50 M. Carl of Ronalds hay: Indien aus der Vogelschau. 228 Seiten mit 40 Abbildungen und einer Karte. Preis 13 M. William Veebe: Galäpagos, dos Ende der Welt. 332 Seiten mit 95 Abbildungen und drei Karten. Preis 16 M. Sämtlich im Verlag F. A. Brockhaus. Leipzig . Es gibt nicht mehr viel unbedingt Neues in der Welt zu sehen, und der Forschungsreisende hat es nicht so leicht wie seine Vor- ganger. Ihnen standen zwar die Hilfsmittel der Technik nicht so zur Verfügung wie den heutigen, aber dafür drängte sich ihnen eine Fülle neuer Eindrücke auf, die selbst bei nüchternster Registrierung den Reifewerken den Ausdruck des Bedeutsamen verliehen. Die Welt ist heute so viel kleiner geworden, um fremde Länder webt nicht mehr der ungreifbare Zauber wie ehemals. Dampfer, Eisen bahn und drahtlose Telegraphie hoben die Romantik der Entdeckungs reisen— bis auf wenige Ausnahmen— erdrosselt. Was dem zeit genöfsischen Forscher an Extensität seines Betätigungsfeldes abgeht, muß er durch Intensität seiner Betrachtung wieder ausgleichen. Nicht mehr die räumlich weiten Horizonte sind der Richtungspunkt seiner Späherblicke, sondern die Horizonte hinter den Dingen, die großen Zusammenhänge, die Entwicklungsmöglichkeiten, wirtschaftliche und weltpolitische Konstellationen. So reiste Colin Roß durch Gebiete, die uns durchaus kein unbekanntes Land mehr sind: aber er wiederholt deswegen nicht seine Vorgänger, sondern, was er bringt, ist durchaus Eigengewächs, von besonderer Prägung schon durch die Zeit, in der die Zeilen«nt- standen sind. Wer die ältere Literatur über die Gegenden kennt, die Colin Roß bereiste und beschrieb, kann am besten die ungeheuren Veränderungen erkennen, die sich auf dem Antlitz unseres Planeten vollzogen. Gewiß, es liegt so etwas wie Berwesungshauch darüber, und es gehört schon der Wille zur Romantik dazu, in den kulturellen Uebergangsstadien von der volklichen Eigenart mehr oder minder primitiver Kulturstufen zur nivellierenden Eintönigkeit unserer Blech- und Schraubenzeit etwas Appetitlicheres als Zersetzung zu sehen. Aus diesen fermentatwen Prozessen heraus jedoch das Werden des Kommenden zu erschließen, ist das, was den Forscher vom einfachen Beschreiber unterscheidet: gab die Reisebeschreibung einstmals mor- phologische, im besten und seltensten Falle physiologische Darstellung. so erwarten wir heute von ihr, daß sie aus der Erkenntnis der all- gemein biologischen Zusammenhänge uns Kiinweise auf die Zukunft enthüllt, und, entwicklungsgeschichtlicher Gedankengänge gewohnt, er- warten'----- ,'fc~ or"e"!----- �""" über h nicht lehrhaft scheidungen" hat vorwiegend geopolitische Bedeutung. Wirtschaftlich sind die Kapitel über die Mandschurei und China beachtlich. In diesem Zusammenhange muß auf Sven Hedins Buch„Von Peking nach Moskau" hingewiesen werden, dessen handelspolitische Be- deutung nicht genug zu würdigen ist(es erschien gleichfalls im Brockhäus-Verlag).„Heute in Indien " ist eine Auswahl gut gc- sehener Filme aus Insulinde und Hinterindien : Siam und Bali find die Höhepunkte der Darstellung, um so mehr, als die Eigenart beider Länder in kurzer Zeit wohl der Vergangenheit angehören wird. Das Puch des Earl of Ronaldshay über Indien , ab- sichllich nur ein Mosaik, ist eine so geschickte Auswahl aus der un- geheuren Stoffülle, die sich dem Beobachter bot> daß man trotz der Bruchstückhaftigkeit der geschllderten Ausschnitte aus dem Gesamtbild Indien einen ausgezeichneten Ueberblick über das ganze Problem bekommt. Es ist kühler und sachlicher geschrieben, als dies S a u t e r tat, aber es ist frei von den Ressentiments dieses Indiophilen. Ronaldshay hat es verstanden, überall das Charakteristische zu er- kennen und wiederzugeben, gründlich zu sein, ohne sich in Einzel- heiten zu verlieren, und unterhaltend zu bleiben, ohne zu schwatzen. Es ist das Buch eines wohl orientierten englischen Gentleman, der nicht die Mühe scheute, eine höhere Warte zu erklimmen. Bei ollem, was er schildert, vergißt er nie den schöpferischen Zusammenhang der Zeiten, und obwohl er ein Mann des Westens ist, hütet er sich, die Zivilisation Europas mit der Kultur Indiens zu vergleichen. Ein eigenartiger Zauber liegt über B e e b e s Buch„G a l ä- p a g o s": man könnte es mit einer Zeitlupenausnahme vergleichen. Eine Fülle von Einzelheiten überfällt den Leser, eine Lawine von Beobachtungen, insbesondere biologischer Art. Es ist so viel Neues in diesem Buch, so viel noch nicht Gesehenes, daß man glauben sollte, das Werk sei das Resultat jahrelanger Forschungsreisen. In Wirklichkeit wurde alles in noch nicht hundert Stunden Forschungs- arbeit zusammengebracht. Dadurch, daß der Verfasser in liebevollem Eingehen auf Einzelheiten das Letzte aus dem Beobachteten heraus- zyg und auf kleinstem Raum so intensiv wie möglich arbeitete, gelang es ihm, aus strengster räumlicher und zeitlicher Beschränkung eine ganze Welt aufzubauen: eine Welt, die längst versunken schien, fast einen Anachronismus, eine Erinnerung an längst untergegangene Erdepochen. Seit Darwin diese neue uralte Welt entdeckte, hatte sich kein Mensch mehr um die Galäpagosinseln gekümmert, die jahrhundertelang der Schauplatz wüstester Seeräubererlebniss« ge- wesen waren. B e e b e gebührt das Verdienst, dieses Museumsstück halbvergessener Weltuntergangszeiten zu neuem Leben erweckt zu haben._ Cu rt Aiging. Erzählende Likeratur. Zlja Ehrenburg: Dreizehn Pfeifen. Rhein-Verlag, Basel , Preis drosch. 4 M. 263 Seiten. Ilja Ehrenburg erweist sich in dem Buch von den dreizehn Pfeifen als gewandter Schriftsteller, Feuilletonist seiner Zeit. Ernst oder heiter, aber meist mit unerbittlicher Ehrlichkeit zeichnet er Volks- und Menschencharaktere, Völker- und Menschenschicksale, kritisch zu ihnen eingestellt, aber doch ohne Zensuren auszuteilen. Urteile mag der Leser fällen. Das ist die berechtigte Meinung des Feuilletonisten Ehrenburg. Aber es gibt noch einen Dichter Chrenburg. Der horcht auf den Herzschlag der Well, wird von ihm gepackt, mit- gerissen, und aus dem aufmerksamen, aber abseitigen Betrachter wird ein Kämpfer, der sich einsetzt für einen Glauben, für einen Haß und für eine Liebe. In diesem Buche liegt er mit dem Feuilletonisten nicht sellen im Kampf. Manchmal bleibt der unentschieden, bisweilen siegt der Feuilletonist. Um der Geschichten willen, in denen der Dichter Chrenburg frei erscheinen darf, verdient das Buch, geliebt zu werden, verdient es, seinen Weg zu finden in viele Hände und in viele Herzen. Da ist zum Beispiel die Geschichte von der„Fünften Pfeife". Eine Geschichte ohne Inhalt fast. Oder ist es sehr viel, zu erfahren, daß der Franzose Pierre Debois und der Deutsche Peter Waldmann im Kriege in der Nähe von dem zerschossenen Ppern einander tot- schlugen? Pierre und Peter sind aber nicht nur Material, das mit Hurra oder Ergebenheit in den Tod oder in Schlimmeres geht, sie sind auch Manschen. Jetzt im Kriege freilich nicht lange, nur gerade soviel Zeit, wie nötig ist, um eine kleine Soldatcnpfeist— nicht einmal bis zu Ende— zu rauchen. Doch diese kleine Pfeife wird zu einem furchtbaren, gewaltigen Ankläger gegen die, die aus den Menschen das„Material" schufen, das sich gegenseitig umbringen und verstümmeln mußte. Diese vom Lehm der Schützengräben ver- schmierte Pfeife, die mit schlechtem Tabak gefüllt von den beiden „Feinden" Pierre und Peter gemeinsam geraucht wird, nimmt für eine kleine Weile den Bann von ihnen, der sie in Soldaten ver- zauberte, und läßt sie das sein, was sie in Wirklichkeit sind: friedliche Menschenbrüder, die einander bisher kein Leid taten noch künftig tun wollen, die sich nicht kennen, aber die sich aus der Gemeinsamkeit ihres Seins heraus beinahe lieben. Doch da die Pfeife ausgeht, ist wieder Krieg, die beiden sind Material, das von hüben und drüben in das nächtliche, leichendurchdüngte Niemandsland bei Vpern ausgeschickt wurde, um sich totzuschlagen. Die kleine Pfeife bleibt übrig, um über die erschlagene, betrogene Menschlichkeit zu klagen. Um erschlagene, betrogene Menschlichkeit klagt auch die„Zweite Pfeife", aus der der kleine vierjährige Kommunekämpfer Paul Rone Seifenblasen, nichts als bunte, schillernde Seifenblasen aufsteigen ließ. Diese Geschichte hat auch einen richtigen Inhalt. Vielleicht nur darum, weil der Leser hier auch mit dem Angeklagten bekannt gemacht werden muß— was bei der Geschichte von der„Fünften Pfeife" nicht mehr notwendig ist. Der Dichter Ehrenburg macht aber auch hier von dem Inhalt weiter kein Aufheben. Für dreiundzwanzig Jahre Geschichte— von den Iulitagen des Jahres 1848 in Paris bis zur Kommune im Winter 1870/71— sind kaum zwanzig Buch- feiten nicht viel. Aber in diesen wenigen Seiten werden Zeitbilder von unerhörter Lebendigkeit gezeichnet, werden Gesellschaftsklasien mit unerbittlicher Treue gespiegelt. Die Knechtung des arbeitenden, die Ueberheblichkeit des besitzenden Standes überlebt die Revolution von 1848 und die Kämpfe um die Kommune 1871, und bis �u den beiden Soldaten bei Ppern führt von hier ein gerader Weg. Idiotische Furcht und kaltherziger Egoismus löschte damals das kurze Leben des kleinen vierjährigen Communard Paul aus: er mußte an der- selben Krankheit sterben, die einige vierzig Jahre später in dem Nie- mandsland bei Ppern Pierre und Peter als Opfer forderte und mit ihnen die Millionen Menschenbrüder im Norden, Osten, Süden, Westen, zu Land, auf dem Wasser, in der Luft. Trude E. Schulz. Gustav Frenssen : Otto Babendick.(Roman ). Grote'sche Verlagsbuchhandlung, Berlin . Ein autobiographischer Roman, ein Gewebe aus Wahrheit und Dichtung, in dessen bunt verschlungenem Muster das Materiol des ein- zetnen Fadens kaum mehr festzustellen ist.— Die Geschichte eines früh verwaisten Jungen, dem der lungenschwach« Vater seinen siegenden Optimismus, die schwermütige Mutter den gesunden Körper mitgab, und der mit diesem Erb« sich durch einen düsteren Sumpf von Ge- meinheit und Unverstand zu festem Land, in dem er Boden schaffen kann, durchschlägt. Sowohl in der Iugendgeschichte wie auch in der Zeichnung einzelner Figuren gemahnt der Roman oft an Dickens , und Fritz Hellebeck ist sicher ein rechter Vetter James Steerforths, so wie auch„Tante Lene" in Betry Trotwood eine erhabene Vorgängerin hat. Aber nicht, daß die Figuren des Frensienschen Romans lösch- papierne Abzüge Dickensscher Gestalten wären: jeder dieser Menschen lebt und spricht seine eigene, nur ihm zugehörige Sprache: doch die innere Verwandtschaft zwischen beiden Dichtern läßt beide auch in der gleichen Technik arbeiten, so daß sich bei der Zeichnung ähnlicher Charaktere diese Verwandtschaft oft verblüffend klar offenbart, um so mehr, als auch das Geschehen des Frensienschen Romans vielerlei Analogie zu der Geschichte David Copperfields aufweist. Erst da, wo die Geschichte unserer Zeit in das Getriebe des Romans«ingreift, tritt«in ganz neues Element auf, wir erleben die Entwicklung dieser vertrauten Menschencharaktere durch den Krieg, zum Führer, Spion, zum Schieber, sehen, wie sich durch die Inflation die reiche und stolze Tante zum Fischweib zurückentwickelt und über- großer Wille an den Schranken des Mangels zerbrechen muß. Und so ist denn trotz äußerer und innerer Aehnlichkeit der Roman Frensfens doch von eigenstem, blutmarmem Leben erfüllt. Er gleicht einer farbigen, blühenden Sonnenwiese, über der wärmend und vergoldend das Sonnenlicht eines gemütvollen Humors liegt, der selbst aus einem nz g« w L h nl i chen Mistkäfer einen metallisch glänzenden, herrlich ge» winkten Skarabäus hervorzaubert. ! o s e Ewald. Sigrid llndset: Jenny. Verlag Unioersitos, Berlin . 366 Seiten. Ein Roman von stiller, vornehmer Kultur. Jenny Winge, die Heidin,, zerbricht an dem Problem der Lieb«. Drei Männer lieben sie, doch keiner gewährt ihr die restlos« Erfüllung, weil ihr Verstand dauernd den Genuß analysiert, weil sie selbst nicht weiß, was sie will, und als sie keinen Ausweg sieht, nimmt sie sich das Leben. Patina hat sich um diese Menschen gelagert, sie stick» dünnblütig und möchten doch gern den Eindruck erwecken, als ob sie voller Kraft strotzten, sie haben sich von der Erde gelöst und leben in einer intellektuellen Atmosphäre, sie haben die Unmittelbarkeit des Erlebens verloren. � Jenny Winge faßt sich jeden Augenblick an den Kops und gibt sich Rechenschast über das, was sie empfindet. Man kennt diese feinen, blutarmen Problematiker und Sezierer aus Geyerstom, aus Schnitzler und Hosmannsthal. All« Menschen, die Sigrid Undstet schafft, sind in sich zerbrochen« Naturen, romantische Wesen, die zu dem Leben nicht das richtige Verhältnis gewinnen, darüber disku- tieren. Tat und Genuß vergessen, und denen die Liebe zum Problem wird, weil sie zu lange gewartet haben. Nur ungern rütteln sie an dem Gegebenen, sie fürchten sich vor dem Neuen, Helge Gram gibt lieber die Braut auf, als daß er die lästigen Beziehungen zu seiner Verwandschaft löst. Menschen und Situationen werden zu stark aus literarischer Perspektive betrachtet. Bereits das Milieu verstimmt. Warum Rom ? Warum nur Künstler mit der Pos« der Dekadenz? Aber was sind uns heute diese nervösen und über- sensiblen Stimmungsmenschen, die wehmütig lächelnd und resigniert vor dem Leben stehen? Sind sie noch Menschen unserer Zeit? Ist die Mechanik ihrer Seele nicht zu zerbrechlich? Alles weist auf die Vergangenheit hin, die Zeit genug fand, das Selbstverständliche problematisch zu nehmen. Der Mensch ist widerstandsfähiger ge- worden, und der Wille der Gegenwart strebt fort von innerer, roman - tischer Zerrissenheit. Und deshalb ist dieser Roman trotz der Feinheit seiner Psychologie, trotz seines starken Stimmungsgehaltes und seines. vollendeten Ausbaues nicht mehr Geist von unserem Geiste. _ Felix Scherret. Geschichte. Weltgeschichte der neuesten Zeil, 1890—1925. Herausgegeben von Prof. Dr. Paul Herr e. 2 Teile. Ullstein, Berlin . Paul Hcrre, bekannt als vielgeschästiger und anpassungsfähiger Herausgeber, gibt mit diesem kompendiösen Werke eine Fortsetzung und den Abschluß der vor dem Krieg erschienenen sechsbändigen Weltgeschichte, von Pflugk-Harttung. Der Herausgeber und seine aus zum Teil recht entgegenstehenden Anschauungen herkommenden Mit- arbeiter haben sich die Ausgabe gestellt,„die Ursachen darzulegen, aus denen der Völkerkamps hervorgewachsen ist: der Vorgeschichte und der Geschichte des Weltkrieges im einzelnen nachzugehen: die Kräfte zu schildern, die Träger des großen Ringens gewesen sind: den Ausgang und seine Folgen zu würdigen". Es gehörte schon allerlei Mut dazu, im Hinblick auf die fast unlösbaren Streitfragen und die Unzulänglichkeit wichtiger Quellen, heute schon eine alle Weltmächte einschließende Gcsamtbetrachtung zu unternehmen. Zwar ist es gelungen, für die Bearbeitung der ein- zelnen Länder führende Spezialforscher zu gewinnen, so Rachfahl für die Bismarckzeit, Hötzsch für den Osten, Solomon für England, Paul Arndt und Emil Ledcrer für Wirtschaftsfragen. Daneben stehen SONNABEND DEN 27. MOV. BIS MONTAG DEN 6.DEZ. 1926 VON 4 UHR MITTAGS BIS lOUHR ABENDS IN DEN GESAMTRÄUMEN OES berun 50 GEWERKSCHAFTS HAUSES EINTRITT, 25 Pf. SC G E G F
Ausgabe
43 (5.12.1926) 13
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