Er lebte darauf zurückgezogen in der Vcndse, bis ihn die Stadtrathswahlen vom Juli 1871 als Vertreter des Viertel Clignancourt wieder in das öffentliche Leben zogen. Sein Mandat wurde 1874 erneuert und seine Kollegen wählten ihn zum Vizepräsidenten und dann zum Präsidenten des Stadtraths. Er trat in seiner Stellung besonders für die Laisation(Verweltlichung) des Unter- richts und für die kommunalen Rechte mit Einschluß der Selbst- Verwaltung ein, bekämpfte die Ausnahmestellung, welche die Versailler Regierung Paris bereitete. Er zeigte sich wiederum bei Fragen der städtischen Verwaltung und Organisation als eine ausgezeichnete Kraft, dabei ist aber wiederum auffällig, welch vcrhältnißmäßig geringen Raum die ökonomischen Fragen in seinem Programm einnahmen. 1876 wählte ihn Montmartre als Deputirten und damit trat er endgiltig in das parlamentarische Leben ein. In seiner ersten Rede forderte er die Amnestie dcrKvm- munarden und erwies sich als glänzender und gediegener Redner. Er gehörte zu den Republikanern, welche die Abwehr des Staatsstreiches vom 16. Mai vorbereiteten, in Paris und der Provinz republikanische Gruppen grün- beten, Vertheidigungskomitees organisirten und Waffen auskauften. Um die Entschlüsse der republikanischen Gruppen schneller und entscheidender zur Ausführung zu bringen, wurde das Exekutiv-Komitee der„Achtzehn" ernannt, unter deffen Mitgliedern sich Clemenceau befand. Die Vorbereitungen zum energischen Widerstand er- stickten Mac Mahon's staatsstreichlcrische Gelüste im Keime. Die Republik war gerettet, allerdings zunächst zu Gunsten einer politischen Fraktion, derjenigen der konservativen oder gemäßigten Republikaner, die sich daran genügen ließen, die Stelle der Monarchisten einzunehmen und nach der alten Taktik mit den alten Mitteln weiter zu regieren. Die konservativen Republikaner konnten sich nicht einmal bis zur allgemeinen Amnestie über ihre Erbärmlichkeit erheben, sie erschöpften sich in einer tollen Jagd nach Macht und Würden als Mittel zu schneller Bereicherung. Das ganze politische Leben erschöpfte sich in den Fraktionsstrcitigkeiten und Ränken um die fettesten Bisten vom Nationalknochen; von einer demokratischen Ausgestaltung der staatlichen Formen war keine Spur zu bemerken. Für diese Zeit gebührt Clemenceau das Verdienst, inmitten des Parlaments das mit Füßen getretene Banner der Demokratie ergriffen und hochgehalten zu haben. Er ward der Mittelpunkt einer Fraktion, in der sich alle bürgerlichen Politiker sammelten, in welchen der Rausch der schrankenlosen Herrschaft ihrer Klasse nicht den demokra- tischen Geist erstickt hatte. Clemenceau und seine Parteigänger vertraten mit Ernst und Nachdruck die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie, welche an die große Revo- lution anknüpfte, nur die politische Seite in Betracht zog und die ökonomischen Fragen unterschätzte. Die allge- meine Amnestie, welche systematisch verworfen ward, diente als Agitationsmittel, welches das ganze Land in den Strom des politischen Lebens zog. Clemenceau und die Radikalen begnügten sich nicht nur mit parlamentarischen Forderungen und Anträgen, welche in der Nation einen Widerhall fanden, sondern sie erhielten mit großer Zähigkeit die sogenannten„gesetzwidrigen" Kandidaturen, wie die von Blanqui , Trinquet:c. aufrecht. Es war dies ein ausgezeichnetes Mittel, die Masse aufzurütteln und leben- dig zu erhalten, sie in Bewegung zu setzen, so daß endlich die Kammer eine erzwungene Großmuth üben und die Amnestie votireit mußte. Diesem Schritt nach vorwärts folgte der Kamps gegen die heimliche Diktatur, die Gambetta ausübte. Der Gründer des Opportunismus hielt in Wirklichkeit die Macht in der Hand, wußte aber mit klugem Geschick zu vermeiden, daß�cr offiziell die Verantwortlichkeit derselben zu tragen hatte. Zum Zweck seines persönlichen Vortheils verschanzte er sich hinter einer anscheinenden Zurückhaltung, die seinem Rufe förderlich war, dazu benutzt wurde, die Böcke Anderen zur Last zu legen und sich nur mit den Erfolgen zu brüsten. Die Minister waren einfach Strohmänner, welche die Fehler und Verbrechen der opportu- nistischen Politik abzubüßen hatten und die von Gambetta im geeigneten Moment bei Seite geschleudert und vernichtet wurden. Die meisten Politiker wurden in dem Kampf aufgebraucht oder unmöglich gemacht, die Verwaltung mit feilen Stellenjägern bevölkert, Jntriguen aller Art waren an der Tagesordnung und die Gewalt, welche die Diktatur in gewöhnlichen Fällen begleitet, war durch unbändige Heuchelei ersetzt. Clemenceau warf dem mäch- tigen und gefiirchteten Gambetta den Fehdehandschuh hin und unterhielt durch Jahre ein wahres Duell mit demselben. Er ward nicht müde, die Fäden, welche hinter den Couliffen spielten, zu verfolgen und zu zerreißen, bei Allem und Jedem Gambetia's Hand zu zeigen, ihm den unverdienten Lorbeer von der Stirn zu reißen, ihn mit dem vertuschten Fehler zu belasten. Auf Minister und Abgeordnete ließ er das rechte Licht fallen, das sie als Marionetten erscheinen ließ. Der ebenso energisch als hartnäckig geführte Kampf trug mächtig dazu bei, die alte Gloire Gambetia's ins Grab zu betten, ehe noch der einäugige und— blinde Politiker selbst hinab gestiegen war. Nach dem Tod des abtrünnigen Volkstribunen führte Clemenceau den Kampf gegen die Partei der Opportunisten weiter, welche die Erben der gambetlistischen Politik waren und Frankreich nach der Devise regierten:„apr6s nous le deluge"(nach uns die Sintfluth). Die Politik hatte nie einer schamloseren Ausbeutung des Volkes zur Helfers- Helferin gedient, als zur Zeit der opportunistischen Hege- monie, gegen die sich die Radikalen im Namen der demokratischen Prinzipien auslehnten. Die Untergambetta's, welche Ministerportefeuille's in den Händen hielten und die Agenten der Großbörsenjobber und Großindustriellen waren, stießen in Clemenceau auf den alten zähen Gegner, den sie fürchten mußten. Allerdings konnte das Haupt der Radikalen den Opportunismus nicht endgiltig besiegelt, weil er verschmähte oder nicht begreifen konnte, sich auf die Massen zu stützen, ihr Programm zu dem seinigen zu machen. Jedoch hat er dem Opportunismus manche ernste Schlappe beigebracht, ihm vor manchem gegen die Nation geplanten Verbrechen Hände und Füße gebunden. Die Politik, die er verfolgt, ist vorwiegend eine ab- wehrende, keine angreifende, zu letzterer scheint ihm die leidenschaftliche Kühnheit, die schnelle Entscheidung zu fehlen, vor Allem aber das richtige Verständniß für die moderneLage mit ihrer Volksbewegung, mit den Eman- zipationsbestrebungen der Arbeiterschaft, mit der Gcsammt- summe der Faktoren des nationalen Lebens, welche die ökonomische Entwickelung seit der großen Revolution ge- schaffen. Seine Rolle ist in erster Linie eine kritisirende, keine schöpferische, er arbeitet mit der ganzen Kraft der Uebcrzeugnng und der Macht seines Talentes daran, das Gebäude der opportunistischen Herrschaft zu zertrümmern, das sich sälscklick mit dem Namen der Republik schmückt, aber ihm fehlt die Macht und die Erkenntniß, das Fun- dament eines neuen Baues zu legen, zu dem ihm Details des Oberhauses vorschweben. Er kämpft vont Standpunkte eines alten Demokraten aus, der an die revolutionäre Tradition des Bürgerthnms anknüpft und nicht mit der neuen geschichtlichen Macht des Proletariats und der öko- nomischen Bedingungen rechnet. Für ihn sind die Frei- heilen und Rechte der Kommune die Basis der demokra- tischen Republik, er thcilt in diesem Punkte die lieber- schätzung der Macht und Bedeutung, der Gemeinde, welche den meisten Franzosen eigenthümlich ist. Die sundamen- talc Bedeutung der sozialen Fragen und deren Regelung durch die Gesellschaft scheint ihm entgangen zu scitt, er gehört in ökonomischer Beziehung zu den Anhängern der individuellen Freiheit, des laisser-faire und laisser-aller; die heilige Synode der Manchestermänner, der Cobdenkltib konnte ihn mit gutem Gewissen zum Ehrenmitgliede er- nennen. Trotz alles Demokratismus hat er das Evangelium von der geschichtlichen Berufung und Emanzipation des vierten Standes, der Masse nicht in seiner ganzen Tiefe und Weite erfaßt. Dadurch erklärt sich auch seine Taktik des Zögerns und Schwankens, die ihm den rechten Augenblick zum Handeln verfehlen läßt. Zwar giebl es Viele, die diese Momente auf Rechnung einer bestimmten Taktik setzen, die in Clemenceau einen modernen Cunctator der Politik sehen, der durch seine Kreuz- und Querzüge den Gegner ermattet und entkräftet und ihn dann im plötzlichen Ueberfall schlägt. Die Verhältnisse haben dem Führer der Radikalen mehr als einmal Gelegenheit zum entscheidenden Eingreifen geboten, er hat sie aber nie zu ergreifen und auszunützen gewagt. Die Ktellitug Zlapoleons 1.|ui* Kirche und Schule gleicht vielfach derjenigen, die heute unsere Staatsmänner ebenfalls einnehmen. Kirche und Schule haben danach vor allem die Auf- gäbe, die Massen zum Gehorsam und zur Unterwürfig- keit zu erziehen, um die alte Klassen- und Gesellschafts- ordnung vor Erschütterungen zu bewahren. Napoleons Kirchcnpolitik war— das Konkordat, d. h. die Wiederherstellung der römisch-katholischen Kon- session als Staatsreligion. Nach der Verfassung des Jahres III(1795/96) war die Trennung von Kirche und Staat ausgesprochen. Artikel 354 lautete:„Unter Befolgung der Gesetze kann Niemand verhindert werden, an den Ausgaben eines Kultus beizutragen. Der Staat besoldet keinen." Napo- lcon aber hatte für seine Herrschaftszwecke die Kirche nöthig, darum erhob er die katholische wieder zur Staatskirche. Man höre, was er selbst sagt:*) „Ich habe den wahren römisch-katholisch-apo- stolischen Papst nöthig, der in Rom wohnt. Mit den französischen Armeen und den nöthigen Rück- sichten werde ich ihn immer hinreichend zu meiner Verfügung haben. Richte ich die Altäre wieder aus, beschütze ich die Priester, ernähre ich sie, so wird er thun, was ich von ihm verlange.... Er wird die Gemüther beschwichtigen, wird sie unter seiner Hand vereinigen und sie der meinigen unterstellen." Wenn auch der Papst sich nicht so gefügig zeigte, wie Napoleon erwartet halte, so war doch der französische Klerus, den er gut fütterte, ein sehr fügsames und brauch- bares Werkzeug seiner Pläne, wenigstens so lange sein Stern glänzte und der Erfolg auf seiner Seite war. Er drückte auf die Thateit Napoleons das Siegel der gött- lichen Zustimmung und des göttlichen Willens, indem er den kaiserlichen Katechismus in allen Schulen Frank- reichs lehrte. Dieser Katechismus, ein Denkmal der raffinirtesten Selbstsucht und Niedertracht, wurde 1806 eingeführt. Hier einige Proben daraus: Frage: Welches sind die Pflichten der Christen gegen die Fürsten , welche sie regieren und welches sind insbeson- dcre unsere Pflichten gegen Napoleon I. , unfern Kaiser ? ♦) Wir folgen hier der vortrefflichen Schrift: Sozialpädagogische Streiflichter über Frankreich und Teutschland u. s. w. von Robert Seidel. Hamburg , Druck und Verlag von H. Carly. — Antwort: Die Christen schulden den Fürsten , welche sie regieren, und wir schulden insbesondere Napoleon , unserm Kaiser, Liebe, Ehrfurcht, Gehorsam, Treue, Militärdienst, regelmäßige Steuern zur Erhaltung und Vertheidi- gung des Reiches und des Thrones. Wir schulden ihm ferner inbrünstige Gebete für sein Wohl und für das zeit- liche und ewige Gedeihen des Staates. Frage: Warum sind wir schuldig alle diese Pflichten gegen unfern Kaiser zu erfüllen?— Antwort: Das ge- schieht zuerst, weil Gott , welcher die Reiche erschaffen, tmd sie nach seinem Willen vertheilt hat, unfern Kaiser im Frieden wie im Kriege mit Gaben überhäuft und zu un- serem Souverai» eingesetzt, denselben zum Diener seiner Macht und zu seinem Ebenbild aus Erden gemacht hat. Ehren und dienen wir daher unserm Kaiser, so ehren und diene» wir Gott selbst. Zweitens weil unser Herr Jesus Christus so oft durch seine Lehre tmd durch sein Beispiel gezeigt hat, was wir unserm Souverain schulden. Er wurde geboren im Gehorsam gegen die Verordnung des Kaisers Augustus; er hat selbst die vorgeschriebenen Angaben entrichtet und so hat er auch befohlen, dem Kaiser zu geben, was dem Kaiser gehört. Frage: Giebt es nicht besondere Beweggründe, welche geeignet sind, uns noch stärker mit Napoleon I. , unserem Kaiser zu verknüpfen?— Antwort: Ja, denn es ist der- jenige, den Gott in schwierigen Zeitumständen erweckt hat, um den öffentlichen Kultus der heiligen Religion unserer Väter wieder herzustellen und deren Beschützer zu sein. Er hat die öffentliche Ordnung durch seine tiefe und kräftig wirkende Weisheit wieder hergestellt und erhalten; er ver- ibeidigt den Staat durch seinen mächtigen Arm; er ist der Gesalbte des Herrn geworden durch die Weihe, welche er von dem Papst, dem Oberhaupt der allgemeinen Kirche, empfangen hat. Frage: Was soll man von denen denken, welche sich an ihren Pflichten gegen unfern Kaiser versündigen?— Antwort: Nach dem heiligen Apostel Paulus würden sie der von Gott selbst eingesetzten Ordnung Widerstand leisten und sich der ewigen Verdammniß schuldig machen. So benützte der korsische Eroberer das Schulwesen, um seine Macht und seinen Einfluß zu stärken; Leiber und Geister sollten ihm unterthan sein. Höheres wie niederes Schulwesen wurden vernächlässigt, während das Mittel- schulwesen allerdings einige Förderung erfuhr. Dieses mußte ihm nämlich Offiziere und Ingenieure für den Krieg und kaufmännische und technische Direktoren für die große Bourgeoisie liefern. politische Wachrichten. In Preußen stehen die allgemeinen Neuwahlen zum Landtag bereits vor der Thür, und am Mittwoch hat die Wahlprüfungskommission des Abgeordnetenhauses beantragt, da-z alte Mandat des Herrn v. Puttkamer- Plauth(Marienburg-Elbing) für ungiltig zu erklären. Nach drei Jahren, wo es von selber erlischt, ein Mandat für ungültig erklärt— das kennzeichnet den Gang der heutigen Wahlprüfungen. Denn der Vorgang steht nicht vereinzelt da. Fast in jeder Legislaturperiode wiederholen sich solche Fälle. Gelegentlich ist das Mandat des Prinzen Hattdjery am letzten Tage der Legislaturperiode des Reichs- tages, unmittelbar bevor der Schluß der Session ver- kündet wurde, unter allgemeiner Heiterkeit des Hauses für ungültig befunden worden. Es ist auch vorgekommen, daß einzelne Wahlprotestc überhaupt unerledigt von einer Legislaturperiode in die andere übergingen. Daß sämmt- liche Proteste etwa im Laufe der ersten beiden Sessionen einer Legislaturperiode erledigt wurden, ist seit Menschen- gedenken nicht erlebt worden. Alle diese Uebelstände ver- letzen zweifelsohne das öffentliche Rechtsbewußtsein; sie können auch die Abstimmung über wichtige Gesetzentwürfe fälschen und jedenfalls haben sie seit vielen Jahren den Gegenstand der leidenschaftlichsten Erörterungen gebildet, welche in dem Parteileben der Volksvertretung stattge- funden haben. Aber es bleibt alles hübsch beim Alten. Der Krieg nach zwei Seiten wäre also eröffnet— vorläufig allerdings in der Form neuer Belästigungen des Verkehrs und weiterer Sperrmaßregeln. Am 22. d. M. ist eine Verfügung des elsässischcn Ministeriums ergangen, wonach von Donnerstag, den 81. Mai an alle über die französische Grenze zureisenden Ausländer ohne Unter- schied, ob sie auf der Durchreise begriffen sind oder ob sie im Lande Aufenthalt nehmen wollen, sich im Besitze eines Passes befinden müssen, welcher mit dem Visa der deutschen Botschaft in Paris versehen ist. Das Visa darf nicht älter sein, als ein Jahr. Die Gewerbelegitimationskarten für ausländischeHandlungsreisende ersetzen den erforderlichen Paß nicht. Ausländer, welche nicht im Be- sitze eines regelmäßigen Paffes sind, sind an der Weiter- reise zu hindern und nöihigenfalls über die Grenze zurück- zubringen.— Gegen Rußland wüthet der Feldzug einst- weilen noch ans dem unsauberen Gebiete der offiziösen Presse, aber allem Anschein nach sind jeden Tag„Retor- sionsmaßrcgeln" gegen unseren ehemaligen„Erbfreund" zu erwarten. Aeußerlich gab dazu den Anstoß die An- kunft von 348 Waggons russischen Getreides in Preußen — die natürlich den junkerlichen Agrariern ebenso viel Dornen im Auge sind. Die Regierung besorgt den Agra- riern, wie immer, bereitwillig ihre Geschäfte, und im vor- liegenden Falle hat sie doppelten Grund dazu. Sie steht schon lange mir den beiden ostprcußischen Privatbahnen in Unterhandlung, welche wesentlich mit vom russische» Gclreideverkehr nach Deutschland leben und die sich bisher
Ausgabe
2 (26.5.1888) 21
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