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Beiblatt zur Berliner Volks- Tribune".

Promenade.

Von Karl Henckell .

In dieses grünen Parks Revieren Fließt milder Hauch von Baum zu Baum, Die jungen Mädchen gehn spazieren, Das Leben ist ein Liebestraum. An Friedrich Friedrich just ergößt sich

Die breite Bonne neben mir,

Ein Greis mit braunem Schurzfell setzt sich: Evviva Wurst und Lagerbier!

Mit sorgenhaft vergrilltem Blicke Spazierſtockt ein Rentier daher:

Auf nichts Verlaß die Welt voll Tücke, Die Kurse sinken mehr und mehr. Ein Dußend Kinder schlingt den Reigen, Der Springbrunn silberne Funken ſpeit, Die Strahlen sprudeln, springen, steigen Dwunderschöne Jugendzeit!

Zur Linken schießt in hellen Wellen Der fieselseichte Fluß vorbei

,, Könnt ich wie ihr so sanft zerschellen!" Die Arme starrt und sehnt sich frei.

Sie flieht den Strom mit leisem Stöhnen Und gafft den Gecken in's Gesicht; Die Eisenhämmer drüben dröhnen, Der Qualm verschlingt das Sonnenlicht.

[ Nachdruck verboten.]

Gefärbtes Saar.

Berliner Sittenbild.

Sonnabend, den 15. September 1888.

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II. Jahrgang.

Mensch, rede die Wahrheit, oder ich schlage Dich Nee, nee!" todt! Was ist mit Dir passirt?"

als ein braves, anständiges Mädchen gestorben. So Eine wie die da, nee, das war sie nicht ,, Nee, so Eine war sie nicht," fiel die Alte ein, während der Zipfel ihres Taschentuches gegen die Augen fuhr. , Angeklagte, was ist Ihnen denn?" fragte der Richter plöglich. Jit Ihnen unwohl?... Bringen Sie ein Glas Wasser!" befahl er dem Nuntius.

Die Aelteste fiel nieder, brach in Thränen aus und umklammerte die Knie ihrer Mutter.

Viktorine wußte alles.

Mensch, muß ich das Unglück mit Dir erleben?" Unbarmherzig fiel ihre Faust auf den Kopf des Kindes nieder, dann erhob sie sich wie eine Hyäne und

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Hanna war leichenblaß geworden. Wie gebrochen schritt nach dem Korridor. ſtützte sie sich auf die Barrière. Sie wagte nicht den Wo ist dieser Schuft!?" rief sie, fast brüllend. In Blick zu erheben. Drei Worte hätten genügt, um zu sagen, dieser Verfassung hätte sie den Ehrenschänder ihrer Tochter wer sie war; aber auch, um diesen Beiden dort, die sie erdrosselt.

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so oft geherzt und geliebkost hatten und die nicht zu Aber sie fand das Nest leer. Schon zu lange hatte glauben vermochten, daß ihre Tochter ein schlechtes Baum seine Mittagszeit ausgedehnt. Leise hatte er die Mädchen geworden, das Herz zu brechen. Sie wollte auf- Wohnung verlassen. Am andern Tage schickte er Geld schreien, aber ihre Kehle war trocken vor Schmerz. Sie und ließ seine Sachen holen. Wer konnte auch wissen, bezwang fich mit übermenschlicher Kraft, um die Dirne" daß so eine Krabbe plaudern würde.- weiter zu spielen. Besser ganz im Lafter untergehen, als Die Zeit und die Schmerzen sind vergangen. Alma Vater und Mutter vor ihren Augen zusammenfinken zu Lorenz ist in Hanna Pasch auferstanden und bewohnt fehen. nach wie vor das zweifenstrige separé". Die Frau Sie rührte das Wasser nicht an, machte aber eine Doktor hat ihren Triller wieder gefunden. An Butter, halbe Wendung, um ihren Eltern nicht ins Gesicht schauen Zucker und Syrup mangelt es niemals. Und was Clara zu müssen. betrifft, so zeigt sie die besten Anlagen, nach den Vor­ Es ist Aehnlichkeit vorhanden," sagte der Alte bildern in der Familie, der Prostitution zu verfallen wieder und jedes seiner Worte traf Hanna wie die Spitze diesem Riesenwurm, der an der Fäulniß der Gesellschaft eines Messers. arbeitet.

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,, Aber sie ist es nicht. Nicht d'ran zu denken. Nicht wahr, Alte?"

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,, Aber, Vater, die Stimme," gab sie leise zurück. Es kann doch sein-"

Wohin kommt man heute mit der Ehrlichkeit?

Schwaße nicht so'n Unsinn," bekam sie ebenso leise zur Antwort. Ein russisches Blatt, der Graschdanin" des Fürsten Der Richter, ein kleines vertrocknetes Männlein, jah Meschtschersky, veröffentlicht einen an die Redaktion ge­fortwährend nach der Uhr an der Wand, die bereits auf richteten Brief, der in seiner ungeschminkten Sprache eine Drei zeigte. Es war dies die letzte Verhandlung, der ebenso wahre wie furchtbare Anklage gegen die öffent= man die Ausdehnung so viel als möglich abschneiden mußte. lichen Zustände Rußlands aber ebenso gut auch Ueberdies hatte er großen Hunger, und Appetit auf sein anderer Länder- enthält. Wir lassen einen Theil dieses Leibgericht Erbsen mit Pökelfleisch, mit dem seine Frau Briefes folgen: ihn erwartete. Der eine Schöffe zeigte ein kugelrundes Es war im Frühjahr, als endlich der zweite Termin Mondgesicht, in dem die breite Nase wie ein Rubin abgehalten werden sollte. Auch Viktorine hatte eine Vor- glänzte und strahlte. Es war ein Weinhändler, der nicht ladung als Zeugin empfangen. Als Hanna mit ihrer ausgeschlafen zu haben schien, denn hinter der vorgehaltenen Wirthin durch den langen Korridor des Kriminalgerichts- Hand machte sich von Zeit zu Zeit ein leises Gähnen gebäudes in Moabit schritt, glaubte sie plößlich die Kraft bemerkbar.

Von Max Kreger. ( Schluß.)

zum Weitergehen zu verlieren. Auf einer der Bänke in

Demi

Der zweite Schöffe war Besizer eines Fuhrgeschäfts. der Nähe des Sitzungsingles fab fie ihre alton torn Er befaß das Geficht eines.Sergeanten, der Infanterie..nd fißen. Der würdige Pasch hatte eine Sturmmüße auf dem Kopfe, die Hände auf den derben Rohrstock gestügt, ziehen, was ihm aber, was die Weisheit betraf, schlecht und blickte ernst vor sich hin. Das runzliche Gesicht der gelang. Seine Hauptbeschäftigung war, die großen dicken weißhaarigen Pafchen aber wurde kaum sichtbar unter der Daumen um einander zu drehen, als wollte er dadurch Krempe eines großen ländlichen Strohhutes. Die gefalteten die Minuten zählen, die er noch zu warten hatte, bis die Stammtischstunde schlug. knöchernen Hände hielten ein blüthenweißes Taschentuch, Der Richter flüsterte Beiden etwas zu, wonach fie

wurde.

das von Zeit zu Zeit den gerötheten Augen zugeführt sehr überlegen nickten; dann stellte er es dem Ehepaar an­Mit Mühe mußte Hanna sich aufrecht erhalten. Die heim, zu bleiben oder zu gehen. Das Letztere wurde vor­beiden Alten warfen einen gleichgiltigen Blick auf sie und gezogen. Noch an der Thür wandten sich die Alten um, starrten dann nach wie vor auf den Fußboden. Gewiß warfen einen Blick voller Verachtung auf die Angeklagte vermutheten sie in dieser eleganten Dame" nicht ihre und sagten fast zu gleicher Zeit: Nee, das ist sie nicht. Tochter. Als Hanna diese Gewißheit hatte, wagte sie sich Nee, nee!"

vermögen.

Die Verhandlung dauerte nicht lange. Der Amts­einige Schritte weiter, um sich auf die nächste Bank nieder anwalt war jung und schüchtern, der Richter hatte Hunger, zulassen. Sie hätte das Stehen nicht mehr zu ertragen die Schöffen waren müde und durftig; die Angeklagte aber Endlich wurde ihr Name gerufen. Mit wankenden war eines jener gesunkenen Geschöpfe von der Straße, Knieen betrat sie die Anklagebank. Dicht hinter ihr schritten deren moralische Qualifikation man bereits zur Genüge ihre Eltern, denen der Nuntius einen Wink gegeben hatte. fannte. Man brauchte sich also keine Gewissensbisse zu Der Zuschauerraum war stark besetzt. Richter und Schöffen machen. Nur hin und wieder sandte einer der Schöffen verstohlen einen begehrlichen Blick zu der vollen Gestalt waren ältere Herren, der Amtsanwalt ein noch junger der schönen Sünderin hinüber, der man jedenfalls an einem andern Ort viel lieber begegnet wäre.

Mann.

Der Richter wandte sich sofort an Hanna's Vater:

Die Zeugen wurden hereingerufen. Mit ersichtlicher

Sie sind der Magistratsdiener Pasch aus Soundso Genugthuung vernahmen Richter und Schöffen die mora­,, Der bin ich, Herr Richter."

in der Uckermart?"

,, Und Sie sind die verehelichte Frau Rathsdiener Karoline Pajch aus derselben Stadt?"

Ja, Herr Richter, ich bin die Paschen!" Sie sollen Beide hier Auskunft darüber geben, ob die Angeklagte dort Ihre Tochter ist. Sehen Sie sich die selbe ganz genau an. Sie behauptet, es nicht zu sein." Nee, Herr Richter, das ist sie nicht!" erwiderte der Alte sofort.

,, Unsere Hanna ist brünett," fiel die Alte zu gleicher

Zeit ein.

,, Nun, das müssen Sie allerdings am besten wissen. Sehen Sie sich nur jetzt dorthin auf die Zeugenbank, ich werde Sie nachher noch einmal fragen."

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lischen Entrüstungsworte des dicken Herrn", der in seinem Aeußern einen so vortrefflichen, friedliebenden und wohl­genährten Eindruck machte.

Der Nachtwächter mußte jezt zugeben, sich geirrt zu haben. Viktorine wurde erst gar nicht vereidigt, was ihr übrigens außerordentlich angenehm war.

Der Richter sah wieder nach der Uhr, hörte den Amtsanwalt mit großer Unruhe an, raunte den Schöffen ein paar Worte zu, zog sich dann mit ihnen zurück, um nachzusehen, ob das Berathungszimmer noch vorhanden sei, und kam dann mit den treuen Gefährten wieder nach vorn, um das Urtheil zu fällen. Man bedurfte nicht vieler Worte, denn die Uhr war bereits halb Vier.

Ich wende mich an Sie, weil ich gehört und gelesen habe, daß Sie sich nicht nur staatliche oder gesellschaftliche Interessen, sondern auch die Sorgen der einzelnen Menschen angelegen sein lassen. Meine Lage ist verzweifelt- im wirklichen Sinne des Wortes, moralisch und seelisch ver= zweifelt.

FALLL

Ich bin zur Ueberzeugung gelangt, daß es nicht lohnt, ein ehrlicher Mensch zu sein, und daß heut zu Tage die Begriffe Ehrlichkeit und Dummheit sich nicht nur Anfangstermin den Tag rechne, an dem ich die Universität verließ. Dabei verstehe ich unter Ehrlichkeit" nicht die Unmöglichkeit, zu stehlen, sondern die Unmöglichkeit, in großen und fleinen Dingen zu meinem Vortheil und anderen zum Schaden mein Gewissen zu zwingen.

Und nun nach 11 Jahren des Lebens und des Dienstes bin ich zur Ueberzeugung gelangt, daß ich nur deshalb nicht vorwärts gekommen bin troß meiner idealen Lebensziele, weil ich so unverzeihlich dumm war, ehrlich zu sein.

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Wenn ich unbegabt oder stumpfsinnig wäre, würde ich nicht flagen, aber ich rechte mit dem Schicksal, weil meine Gaben durchaus nicht geringer sind, als die dreier Kameraden, welche heute angesehene Stellungen einnehmen und gute Einnahmen beziehen, obgleich über jeden von ihnen eine Reihe schmußiger Geschichten im Geheimformular ein­getragen ist. Das alles hätte nichts zu bedeuten, wenn ich nicht im Laufe dieser 11 Jahre von allen Leuten- es waren aber viele zu hören bekommen hätte, daß es nicht darauf an= komme, ob jemand ehrlich, sondern ob er raschen Ent­schlusses und geschickt sei und daß nicht darin das Unglück zu suchen sei, daß jemand stiehlt oder Staats­interessen verkauft, sondern darin, daß er eines oder das andere ungeschickt macht. Solche Neden habe ich über hundertmal in dieser kurzen Zeit gehört, und ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich die Anwendung dieser Grundsäge mehr als fünfzigmal beobachten konnte

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Nun, und was weiter? fragen Sie... Nun, bisher stand ich allein, konnte mich mit wenigem durchbringen und über die ungerechte Welt schelten. Jetzt will ich aber heirathen, so daß bald ein zweites und mehr Leben in jeder Hinsicht von mir abhängen werden... d. h. auch andere und zwar Personen, die ich mehr liebe als mich selbst, werden durch meine Dummheit zu leiden haben.

Das ist der Grund, weshalb ich mich mit wichtigen moralischen Fragen an Sie wende, mit Fragen, die für mich so wichtig sind, daß ich bitte, sie wohl zu überlegen.

Erste Frage: Da ich mich überzeugt habe, daß Ehrlich­feit eine Dummheit ist und die Erhöhung des irdischen Genusses hindert soll ich, auch wenn ich heirathe, ein ehrlicher Mann bleiben auf die Gefahr hin, daß meine Frau und meine Kinder mitdulden oder soll ich ein Kompromiß mit meinem Gewissen schließen und aufhören, ehrlich zu sein? Noch wichtiger ist für mich die zweite Frage: Soll ich meine Kinder zu ehrlichen Leuten erziehen, oder ist es nicht vielmehr beffer, ihnen bequemere Begriffe beizubringen, die ihnen viele Leiden ersparen und sie vielleicht vor einer aussichtslosen Lebensstellung bewahren? Es ist ja möglich, daß sie nicht starf genug sind, die Folgen der Ehrlichkeit zu ertragen. Habe ich ein Recht, die Kinder so zu erziehen, daß ihr geistiges Leben im Widerspruch steht mit der realen Welt und mit der Natur der ungeheueren Mehrzahl der Menschen?

Oder endlich, soll ich gar nicht heirathen?

Alma Lorenz recte Hanna Pasch konnte ihre neunte , Sie sind die unverehelichte Alma Lorenz?" wandte vierwöchentliche Strafe antreten, um fern von Madrid ", er sich dann an Hanna und fügte einige formelle Dinge über ihr Schicksal nachzudenken. Als Viktorine nach Hause kam und mit ihrem hinzu. Hanna nickte. Der Richter forderte sie auf, zu sprechen und nicht zu nicken, worauf sie ein vernehmliches Schlüssel die Korridorthür öffnete, sah sie ihre Aelteste mit " Ja" jagte. hochgerötheten Wangen und zerzaustem Haare aus dem Vor acht Tagen hatte Sie sind bereits achtmal bestraft, und zwar wegen ,, einfenstrigen" herauskommen. groben Unjugs, Beamtenbeleidigung, Widerstands gegen man Claras sechszehnten Geburtstag gefeiert. Eine schreck­Der Herausgeber des russischen Blattes umgeht zu= die Staatsgewalt und Sittenfontravention. Ist das liche Ahnung dämmerte bei der Frau Doktor" auf, die richtig?" erste aufrichtige, die sie seit langer Zeit empfand. Sie nächst die Beantwortung dieser Frage, die er sehr ,, in­packte ihre Tochter am Arm und zerrte sie in das hintere teressant und fißlich" findet. Bimmer.

" Ja," klang es wieder zurück.

,, Nee, Herr Präsident, das ist mein Kind nicht," sagte der alte Nathsdiener aufs Neue, und zwar so energisch, daß der ganze Gerichtshof aufblickte. Unsere Tochter ist

Ist unser Herr" hier?" Keine Antwort.

Was soll ich thun antworten Sie wie ein ehrlicher

Mann!

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Und figlich ist sie in der That für die Vertreter der heutigen gesellschaftlichen Ordnung" oder richtiger Un­ordnung. Denn wer wollte leugnen, daß unter den