№ 39.
Beiblatt zur„ Berliner Volks- Tribüne".
Die leidende Stadt.
Wolke, du weiße Taube im Blauen, Willst du mich locken zu seligem Fluge Ueber die jugendfröhlichen Wiesen, Ueber der Wälder jubelnde Häupter, Ueber den spiegelnden See?
Ach ich kann nicht schwärmen wie eh'; Ueber Wiesen, über Wälder Seh ich finstre Schatten gleiten, Trauerschatten... mir wird so weh.
Wie ein Wandrer,
Der zur sterbenden Mutter eilt,
Vor Sorge nicht sieht die Gärten am Wege Und der Bäume, der alten Freunde,
Grüßendes Flüstern überhört:
So schwebt vom deutenden Hügel
Meine seufzende Seele
Achtlos über den Reiz der Flur
Zur fern gelagerten Stadt
Und umfängt die trübe Stadt
Mit leidender Liebe,
Wie der weinende Wandrer
Die franke Mutter.
Leidende Liebe,
Kränze mein williges Haupt
Mit dornigen Träumen,
Laß mein durftendes Auge trinken
Meiner Geschwister Leiden;
Mit Geliebten leiden ist füß, Und Vergessen ist Sünde.
Trübe Stadt, mürrische Schaar Schwärzlicher Dächer in Dunst gehüllt, Steinerne Nefter brütender Uebel, Feuchte Kerkermauern, Bange Krankenkammern Meiner bleichen Geschwister!
Dort am engen Giebelfenster Trauert ein blasses Mädchengesicht Gleich welkender Blume geneigt; Durch die schmalen Finger
Schleicht der Faden schlangenhaft Und heftet die matte Hand An das peinliche Gewebe; Finster wie ein Sklavenvogt Schaut vom Hof die Mauer zu.
Drunten im sonneschmachtenden Hofe Sißt auf fühlen Steinen ein Kind Träumerischen Auges
Und spielt mit Hölzchen
Und pflanzt die Hölzchen in spärliche Erde Und baut ein Gärtchen
Im sonneschmachtenden Hofe.
Heimlich aber schleicht das Siechthum
Und füßt des Kindes Wange.
Wo ist des Kindes Mutter?
Sie krümmt den schmerzenden Rücken
Am dunstigen Waschsaß, Bis die barmherzige Nacht
Die müde Hand ergreift.
Der Vater aber steht
Auf staubiger Straße im Sonnenbrand Und schwingt mit braunen Armen Den eisenbereiften Stampfer Zum Stoß auf ächzende Steine, Die fich fügen zu hartem Bunde, Der Erde keimende Sehnsucht, Halm und Blumen
zu ersticken;
Und Mutter Erde lockte so gern
Die Menschenkinder mit Halm und Blumen Zu Kindesliebe und Kindesglück.
Odornige Träume, Schmiegt euch heiß und heißer Um die Erlösung grübelnde Stirn. Wilder lodre mein Sehnen,
Lauter rufe mein Flehen:
Erlösender Tag, erwache!
Früher hebt der erlösende Tag
Dann vom Schlaf sein muthiges Haupt; Himmlisches Licht
Regnet auf die schmachtende Stadt Die finstern Dächer vergoldend; Wonnige Luft in Strömen Bespült die dumpfigen Mauern Und scheucht aus steinernen Nestern Dunkle Wolken gespenstischer Vögel.
D felig,
Zu öffnen die Thore der Stadt, Genesende Geschwister An den Händen zu führen
Sonnabend, den 29. September 1888.
Zur mutterglücklichen Natur, Die mit heißem Sonnenmunde Die bleichen Kinder küßt.
Dann schwärmen wir Hand in Hand,
Gelockt von fliegenden Wolken, Den weißen Tauben im Blauen Ueber die jugendfröhlichen Wiesen, Ueber der Wälder jauchzende Häupter, Ueber den wonnespiegelnden See.
Was die Weltstadt verschlingt.
Von Hans R. Fischer.
Motto: Die Nacht verrinnt, der Morgen dämmert, Vom Hof her poltert die Fabrik Und walkt und stampft und pocht und hämmert, Ein hirnzermarterndes Gequieck! Die Nacht verrinnt, der Traumgott ruht nun, Die Nacht verrinnt, der Traumgott ruht nun, Die Welt geht wieder ihren Lauf, Zum Himmel sprigt der Tag sein Blut nun, Die Nacht verrinnt und seufzend thut nun Das Elend seine Augen auf. Arno Holz .
II. Jahrgang.
Preis eine lange Untersuchungshaft und die Ladung von Arbeitgebern, die sie dann womöglich nicht wiedererkennen. Nein, nein! lieber ein paar Tage Haft. Wer hebt den Stein auf und wirft ihn nach dem, der aus Verzweiflung im Schnaps Betäubung sucht, der voll wilder Wuth über die beste aller Welten zum Verbrecher wird, wenn er verkommt und verdirbt?
Menschenwürde, Freiheit, Wanderlieder, Verherrlichungen des Umherschweifens in deutschen Landen, Alles schrumpft zusammen, enthüllt sich als Fata Morgana! Die Welteren gehörten wie die Jüngeren den verschiedensten Gewerkschaften an; doch auch Kaufleute, Schreiber und Technifer waren in dem Saale der„ Christlichen Herberge" zusammen. Mancher Aeußeres machte noch einigen Eindruck, Andere trugen verschossene Sachen, schon gelb gewordene Gummi- oder Papierwäsche. Das Haus gewährt dreimal hintereinander ein Bett zu 25 und mehr Pf. die Nacht. Es erzielt wie alle Bennen" und Herbergen ein glänzendes Geschäft; der jährliche Ueberschuß beträgt Tausende von Mark.
Die Meisten waren wegen ,, Mangel an Beschäftigung", frankheits- und anderer widriger Verhältnisse wegen zu Besuchern der Herberge geworden. Dem und Jenem getrat ein Rückschlag ein und der Kampf ums Dasein begann lang es vielleicht, wieder empor zu klimmen, dann aber von Neuem in furchtbarer Gestalt.
Es giebt eine Art von Wohlthätern, deren Spezialität es ist, Dürftige für eine kleine Vergütung zu be= Unerträgliche Schwüle herrschte in dem von über schäftigen. Wenn aber irgend ein Unterschleif begangen hundert Personen besetzten Saale der Berliner Christlichen plößliche Entscheidung vorzieht, wenn die angenommene oder wenn man einem allmählichen Hungertode eine Herberge zur Heimath", Oranienstraße Nr. 105. Während draußen die Maienfonne Alles blendete und Leben und Stellung bald wieder aufgegeben wird, ja, da jammern Kraft gebar, sah man hier eine große Masse in Halbdunkel eine Art von Wohlthätern ist zu nennen. Das sind solche die Herren über Undankbarkeit und Verworfenheit. Noch getaucht, eng aneinander gepreßt. Lange Tische nebst die aus Unkenntniß und Schwäche statt auf einmal etwas Bänken und Stühlen zogen sich durch den Raum, in dessen Volles zu bieten, die„ Gaben" in kleineren Naten verMitte, gegenüber dem Buffet ein Betpult und Harmonium theilen und die niemals ganzes, nur halbes Vertrauen ihren Plaß hatten.
Die Wirklichkeit trat nun wieder in ihr Recht.
Flüsternd redete Einer mit dem Anderen, man berathschlagte das Thun am neuen Tage, erwog, wie Arbeit, Wohnung oder ein paar Pfennige zu beschaffen seien.
Ein gut Theil hatte noch nicht gefrühstückt. Zu ihnen
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Der ernst und würdig ausschauende Hausvater bielt spenben. Man glaubt nicht, wie feinfühlig der Arme ist und wie schwer die Dankbarkeit drückt, die man solchem die Morgenandacht ab. In eintöniger Weise sprach er Geben schuldet. betend die Hoffnung aus, daß Jeder Nächstenliebe üben und nach aufwärts streben möge. Als Haupttheil folgte der Choral Wie schön leuchtet der Morgenstern." Es rechneten auch die, welche obdachlos die ganze Nacht dauerte ziemlich lange, bis der von sämmtlichen Anwesen- Berlin durchschweift und nun ermattet in der Frühe die den geführte Gesang verstummte, Satz für Satz wurde Herberge aufgesucht hatten. Hier hofften sie ein Stündvorgesagt, dann erst erklang kräftig, aber ohne besonderes chen zu ruhen, vielleicht gar ein menig zu schlummern. Gefühl das Vernommene. Endlich klappte der Deckel des Wie verheißungsvoll sprach doch auch der Spruch dieser Instrumentes, die Fenster des Saales öffneten sich und christlichen Stätte kommet her zu mir Alle, die Ihr herein strömte die Frühlingsluft. mühseelig und beladen seid, ich will Euch erquicken!" Auch ein junger, vielleicht 25jähriger Mann zählte zu diesen Unglücklichen. Hohlwangig, in schäbigster Kleidung drückte er sich in eine Ecke. Sein Nebenmann vernahm eine Geschichte, die trotz des bitteren Ernstes eines komischen Ein gewaltiges Stück sozialen Lebens zeugte diese Anstriches nicht entbehrte. Der Obdachlose hatte bis vor Kurzent für vierzig Mark einen Monat hindurch als Menge, die in der Mehrzahl aus jungen Burschen, zum Schreibgehülfe eines Geschäftes fungirt. Zu seinen Obgeringeren Theile aus Männern im vorgerückteren Alter bestand. Da waren Rheinländer und Schlesier, Bommern liegenheiten gehörte auch die Verwaltung eines im Keller und Westphalen, Bayern und Schwaben , Berliner und lagernden Zentner Hundekuchens. Das war eine arge Wiener , ein Italiener radebrechte mit einem Wasserpolacken, Versuchung. Vorschuß gabs nicht und doch verlangte der alte Kunden", die das Schicksal schon jahrelang" walzen" Magen Zufuhr. So wurde denn allmählich von dem ließ, saßen bei Jünglingen, in deren Gefichtern die Stürme Leckerbissen losgebröckelt, doch eines Tages hieß es: der des Lebens noch keine Spuren zurückgelassen hatten. Sie, Hundekuchen wird verpackt und fortgeschafft. Es fehlte die Unerfahrenen, die einestheils bei„ Lehrlingszüchtern" ein Biertel Zentner. Der Verzehrer dieser Menge leugnete kaum das Nothwendigste erlernt und dann nach gethanem nicht sein Freveln, aber die Strafe war doch Entlassung. Dienst schonungslos auf die Landstraße getrieben worden Prüfenden Auges blickte der Hausvater nach gehaltewaren, anderentheils durch den Drang nach Verbesserung ner Andacht" im Kreise umher; ein Wink und die Befreiwillig den Wanderstab ergriffen hatten, vermochten diensteten der Herberge, stramme, pausbackige ehemalige troß aller äußeren Festigkeit eine gewisse Beklommenheit Landbewohner, gingen die Reihen der Dafizenden ab. nicht zu verbergen. Diejenigen, welche noch einen Noth- Hinaus, wer nicht hier geschlafen hat!" schallte es durch groschen bei sich führten, konnten allenfalls, geriethen sie den Saal. Keiner entfernte sich. Nun trat man aufs nicht in irgend ein Neg der Weltstadt, einige Tage und Geradewohl an Einzelne heran, eraminirte sie und packte Wochen existiren, ganz anders aber wars mit denen, die sie schließlich ohne weitere Umstände am Kragen. Vervöllig mittelos oder deren einzige Habe der„ Berliner " schiedene wagten Widerspruch. Haben Sie doch ein Einmit etwas Wäsche, Kleidung 2c. bildete. Kam nicht bald sehen!" Wir sind ja erst heut Morgen in Berlin an= Hilfe, so fiel Alles für ein Spottgeld dem Tröbler oder gekommen."" Ne schöne christliche Herberge, erst Beterei, den mehr besitzenden Genossen zu. dann Rausschmeißerei!" Die Hausknechte verstanden dies
Mit magischer Gewalt ziehts nach der Reichshaupt- schlecht. Gummischläuche wurden zur Hand genommen stadt; aber wie Weniger Sehnen erfüllt sich. Unter dem und Schlag auf Schlag faufte auf Die hernieder, welche Massenglanz, dem Prahlen und Proßen sieht das Auge an diesem Orte, dessen Förderer aus den höchsten geistlichen bald: Nichtigkeit, Dede und Armuth. Wer allein auf sich und weltlichen Würdenträgern bestehen, Erbarmen und angewiesen ist, wer nicht mit außerordentlicher Zähigkeit Duldsamkeit zu Hause wähnten. In das Schreien und Toben aber gellte der Ruf: Rache! und Kraft ausgestattet ist und dem kein Zufall zum Retter wird, nimmt Schaden. Immer dichter schwillt das Heer der Proletarier an, immer stärker werden die Schaaren der Arbeitslosen und derer die für Geringes ihr Leben im Dienste der Industrie, der Arbeit opfern.
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Und immer dunkler wird die Nacht, Die Liebe schläft ein und der Haß erwacht Und immer üppiger dehnt sich die Luft Und immer angstvoller schwillt die Brust; Kein Stern, der blau durch die Wolken bricht, Kein Lied, das süß von Erlösung spricht Mein Herz schlägt laut, mein Gewissen schreit: Ein blutiger Frevel ist diese Zeit!"
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Die alte Geschichte von Abertausenden in Berlin ! Es währt nicht lange und der Arme, der irgendwo um eine Unterstützung anspricht, fällt in die Hände der Polizei. Arbeit ist bei der Entlassung natürlich nicht sofort zur Hand, die Kleidung reißt immer mehr herunter, der Körper wird siech, Energie und Muth sinken und der„ Vagabund" ist fertig. Die Hilfe des Privat- Asyls" verschwindet bald, ein fünfmaliger Appell an das„ Städtische Weltstädtisches Leben pulsirte an dem Abende vor Obdach" erfolgt, man thuts verzweiflungsvoll ein sechstes Weihnachten desselben Jahres in der Leipzigerstraße. Mal und wird nun wegen Arbeitsscheu" per Gegenüber den„ Reichshallen" ruhte auf einer Bank in grünen Wagen" dem Polizeirichter übermittelt. Gewiß, sich zusammengesunken ein Mann: der Hundekuchenverzehrer. der Vagabund" kommt frei, wenn er den Nachweis der Es mußte ihm seit seinem Weilen in der Herberge immer Arbeitsbemühungen liefert, aber Wenige wagen um diesen trauriger ergangen sein. Ein leichter Sommeranzug, der
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