№ 46.
Beiblatt zur„ Berliner Volks- Tribune".
Entwicklung auf historischem Wege.
Olasset doch den Geist der Zeiten!
Ihn hemmt kein Wehr, kein Damm, kein Band; Er wird tagtäglich vorwärts schreiten Frei wie der Fluß durch's ganze Land.
Er strömet nicht aus einer Quelle,
Aus einer Lebensader nur,
Ihn nährt und speist an jeder Stelle
Die ganze lebende Natur.
Ihr seht nur eine Quelle springen,
Und diese stopft ihr zu im Nu, Und denkt es wird uns jezt gelingen, Wir stopfen ja die Quelle zu.
Ihr hohen Herrn und Herrendiener,
So wollt ihr schüßen Kirch' und Staat? Ihr macht's ja grade wie der Wiener , Der auf die Donauquelle trat.
Er sprach mit stillem Wohlbehagen: Die Quelle hab' ich nun bekleibt! Was werden wohl die Wiener sagen, Wenn jezt die Donau außen bleibt?
D'rum lasset doch den Geist der Zeiten! Ihn hemmt kein Wehr, kein Damm, kein Band; Er wird tagtäglich vorwärts schreiten Frei wie der Fluß durch's ganze Land.
Sonnabend, den 17. November 1888.
seinen Bodentheil bestellte, mit der Bitte, ihr fünfzig Rubel zu leihen. Sie warf sich ihm zu Füßen und bat und flehte, bis er ihr dieselben gab. Als diese Angelegen heit geordnet, wurde dann der Polterabend angesetzt.
der
II. Jahrgang.
Ein servil gewordener Dichter.*)
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Liebling der englischen Nation ist, so unter den Wie unter den lebenden Philosophen Herbert Spencer „ Ich hatte Alles zum Imbiß zurechtgelegt", erzählte Dichtern Alfred Tennyson . Die innere Verehrung der fie ,,, und dachte, der Bräutigam würde, wie dies bei uns Nation und die äußeren Zeichen derselben sind ihm in Bauern Sitte, den Branntwein selbst bringen. Aber sieh', reichstem Maße neben den durch die Geburt ihm bescheerten er zählt sich nicht mehr unter die Bauern und kam mit Glücksgütern zu Theil geworden, die Königin hat ihn zum leeren Händen. Die Braut fing an zu weinen, ich auch. Lord und poet laureate ernannt. Wahrscheinlich, dachten wir, ist die Braut ihm nicht mehr Er ist ein eigenthümliches Talent. Gefiel er sich in lieb, wahrscheinlich hat er sie schon überdrüssig. So saßen den Königs- Joyllen und anderen Werken in der behaglichen wir Alle, als ob wir nach einer Beerdigung das gemein- Ausmalung der findlichsten Sagen des Mittelalters, so same Mahl einnähmen. Endlich schickte der Bräutigam griff er doch auch vielfach unmittelbar in das Leben der nach Branntwein und so wurden die Gäste munter. Am Gegenwart. In Maud" wußte er wohl die Mammonsandern Tage wurden sie getraut. Ich hatte bei der herrschaft vor dem Krimkriege zu brandmarken: Schwägerin das Brautkleid, eine Nachtjacke, ein Hemd und Vom Frieden spricht man zwar und schmähet die Vergangenheit, ein Bettlaken ausgelöst. Das Uebrige von Wäsche hat Das Kontobuch nur gilt, und fast ein Jeder lügt! Indeß die Armen man zusammenpfercht wie Vieh sie alles für sich behalten. Die Hochzeit hatte der Bräutigam Der Frieden herrscht im Weinberg doch die Fabrik macht sehr schön gemacht, ganz wie es seinem Stande geziemt. falschen Wein. Was jetzt geschieht, weiß ich nicht. Nach der Hochzeit hat mein Mann sein Pferd verkauft und meinem Bruder das Geld, welches jener geliehen, wiedergegeben. Den Arbeiter Nikolai hat er entlassen. Er sagt so viel wie wir Als zwanzigjähriger Jüngling hatte er in ,, Locksleybrauchen, kann ich allein verdienen. Ich will keinen Hall" feinen Schmerz um verrathene Liebe, aber auch Arbeiter mehr halten. Er spricht davon, daß er irgend- feinen Glauben an die Jdeale aus dem Herzen herauswohin gehen will, doch weiß er noch nicht, wohin. Ich gesungen, und noch lange werden Verse wie folgende in werde nicht klug aus ihm. Er ist noch stiller wie früher Menschenherzen Widerhall finden: geworden. Was wird nur daraus werden!"
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Wenn Mütter ihre Kinder tödten um's Begräbnißgeld, it's Krieg, ift's Frieden? Besser Krieg zu Land und See, Wenn Mammon steht auf einem Berg von Kindsgebein' und tausend Schlachten, stürzend hundert Könige!
trennen!
Fluch den Mängeln der Gesellschaft, die die Kraft der Jugend brechen! Ihren Lügen Fluch, die von der Wahrheit Lebenskraft uns Fluch den kranken Formen, welche der Natur Gebot verlassen! Fluch dem Goldreif, welcher dient, des Schwachkopfs enge Stirn zu schmücken!
Nicht lange brauchte Anna Michailofna auf Antwort auf diese Frage zu warten. Es traf sich, daß ein vorüber gehender Bauer zur Nacht bei Sergei Ivanitsch einfehrte und ihm unter Anderem mittheilte, daß bei ihnen in der Umgegend Leute wären, die da sagten, daß man nicht so lebt, wie man leben muß, nicht nach der Nächstenliebe Jedes Thor, mit Gold verriegelt, öffnet sich nur gold'nem Schlüssel! Gebot. oder seine Vision von einem großen Kriege, der so lange Sergei Ivanitsch horchte auf. Immer mehr fragte dauern soll: er den Bauer aus ,, Und diese Leute sind keine Mönche? Sie haben Sie sind ganz rechte Bauern.
Unterdeß geht das Leben in der Familie seinen gewohnten Gang. Sascha bringt die meiste Zeit bei der Tante( der Kaufmannsfrau) zu, oder bei der Großmutter. Die Tante entzündet ihre Einbildungskraft durch Erzählungen sich nicht von der Gemeinde losgefagt?" fragte er.
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Bis die Trommel nicht mehr schlug, die Schlachtenfahne ward gerollt
In dem Parlament der Menschheit, der Verbrüderung der Welt!
aller Bedenken den Glauben aufrecht
von den Vorzügen eines Lebens in einem wohlhabenden Bestellen ihre Felder. Nichts verschließen sie. Sie leisten und wie er trotz Hausstande, wo Alles ohne Mühe erworben ist, wo man feinen Eid, sie wollen keine Soldaten werden und ziehen erhält: keine schwere Arbeit zu thun braucht; spricht von Pub und Vergnügungen. Die Großmutter seufzt und prophezeit es vor, lieber im Kerker zu fißen, als ein Gewehr zu Doch kein Zweifel! Durch die Zeiten immer mächtiger zieht ein nehmen. Sie trinken keinen Branntwein, schreien und Immer weiter in der Sonnen Umlauf wächst der Menschengeiſt. Sascha vielen Kummer für die Zukunft: Alerei Petrowitsch fluchen nicht..."
Plan,
ist hart und gewaltthätig, und hat schon so Vieles durchgemacht! Sie wird es schlimm haben in dem Hause dort, genauer zu sagen, worin die Lehre dieser neuen Sette on an. Doch verstand der Bauer es nicht, Sergei Ivanitsch In den nächsten Jahrzehnten schlug er einen andern Er wurde der elegante, glatte, offizielle Dichter da sie von Allen fchief angesehen werden wird. bestand. Er fam immer nur auf eine zurück- sie des offiziellen England, der den Ausdruck seiner Gefühle Anna Michailofna geht öfter als früher in die Stadt, leben sehr gut miteinander, und bei ihnen ist ebenso sorgfältig, wie die Länge seiner Silben abmaß. geht zuweilen zu Maria Nikolajefna( der Lehrerin), nimm: Alles gemeinsam, sie haben aber viel von den Er begrüßte jedes Ereigniß des königlichen Hofes, jeden dort das Geld für verkaufte Fransen, erzählt, was unter- Beamten zu leiden Erfolg der englischen Politik und ihrer leitenden Persönlichdeß geschehen und kehrt nach Hause zurück. Die großen Als Sergei Joanitsch den Vorrath an Rohmaterial, feiten mit stolz einher marschirenden Versen, aus dem Fasten gehen zu Ende und in der vorletzten Woche kommt den er gerade besaß, verarbeitet hatte, verkaufte er seine aristokratischen Dichter wurde ein dichtender Aristokrat. Anna Michailofna mit verweinten Augen zu Maria Waare und ging aus dem Dorfe weg, um zu sehen, wie Erst im Jahre 1886, ein Jahr vor dem Jubiläum der Nikolajefna und bringt ihr einen Brief von Sascha. die Leute in jenen Ortschaften leben. Er ging und kam Königin Vittoria, erschien sein eigenes Jubiläumsgedicht Sascha bittet, Maria Nikolajefna möchte zur Hochzeit nicht wieder. Anna Michailofna erwartete ihn, beklagte Locksley Hall sixty years after" und mit diesem kommen. Aber Anna Michailofna hat einen großen, ihn und ihr Schicksal und dann verließ auch sie ihr zugleich ein Drama, The promise of May". großen Kummer auf dem Herzen. Die Schwägerin hat Häuschen. Die Fensterläden vernagelte sie, die Thür In Lockley Hall nach sechzig Jahren" stellt er sich, ihr wieder einen schlimmen Streich gespielt. Sie hat das ebenfalls, nahm ihre Habseligkeiten und siedelte zu ihrer nun achtzigjährig, im Geiste noch einmal auf die Stätte, Hochzeitskleid der Schneiderin gegeben und jene hat zehn alten Mutter über. wo er vor sechzig Jahren seine Zukunftsvisionen hatte. Rubel dafür verlangt. Als ein Jahr nach Sascha's Hochzeit Maria Nikolajefna Er betrachtet erst die Schicksale der ihm bekannt geweſenen Da Anna Michailofna kein Geld gehabt hat, so hat ihrer früheren Schülerin begegnete, erkannte sie dieselbe Personen, den vorzeitigen Tod einiger von ihnen, dann die Schwägerin die Rechnung bezahlt, aber das Kleid zu beinahe nicht wieder. Ihre Augen schienen größer geworden das Fortschrittsstreben der Menschheit, wie sehr es„ ausfich genommen und giebt jezt dasselbe nicht eher heraus, und blickten so schwermüthig und müde. Sie war so gearter" sei. Die Gegenwart und ihre Gleichheitsals bis alles bis auf den letzten Kopeken bezahlt wird. blaß und mager geworden, als ob sie eine schwere Krant bestrebungen erhält dabei als Zensur folgenden unglaublich Auch die Wäsche, welche früher gekauft worden ist, giebtheit durchgemacht habe. Sie war auch wirklich lange faden Gemeinplag:
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sie nicht heraus, sondern sagt, daß fie ihr eigenes Geld frank gewesen, war zu früh niedergekommen und konnte Neidsucht trägt der Liebe Maske und verschmitzt mit frechem dafür bezahlt hat. Früher hat sie doch gesagt, daß sie seit der Zeit sich gar nicht mehr erholen.
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Muth
gleichem Blut!"
flach.
schwach!
jein Schicksal hat der Volks" geist
dann erfüllt!
das Geld eben für Sascha gesammelt hat und jetzt sagt„ Ich will Ihnen nun die Wahrheit jagen", erwiderte Ruft fie Starken zu und Schwachen: Ihr seid gleich von fie, sie wird die Sachen herausgeben, falls fie für dieselben sie endlich auf alle die theilnehmenden Fragen von Maria Gleich?- O ja! wenn das Gebirge gleicht der Ebene glatt und das Geld bekommt. Und doch sind es eben diese Sachen Nikolajefna; ich habe mir früher das Leben ganz anders gewesen, mit denen sie das Mädchen verlockt hat. Und gedacht. Mir schien es immer, als ob es mir überall Sprich nur, Nedner, bis der Löwe wie die Kaze klein und das Mädchen ist doch noch so jung, so jung und so dumm. zu enge ist, daß ich aus meiner Hütte fort müsse, daß Bis durch überhister Sprache Gaukelei die Kaze schwillt Was versteht sie denn von Allem. Und der Bräutigam? mir dann Flügel wachsen würden... Und die Flügel Größer als der Leu Ja, der flößt ihr jetzt geradezu Furcht ein! Er ist 10 find mir nicht gewachsen. Ich verstehe ja nichts wie schrecklich grob und frech er wird sie verderben, sie die Andern zu machen. Alles gleitet mir aus den Händen, und so noch einige Verse weiter. Im modernen Realis= zu Tode quälen. Ach!" jammerte fie, in welchen und eben aus diesem Grunde überhäuft man mich mit mus sieht er nur das Abstoßende, ohne die Berechtigung Abgrund hat mich diese Hochzeit gestürzt! Es ist noch Vorwürfen in der neuen Familie die Verwandten rücksichtsloser Wahrheit anzuerkennen: ein Glück, daß mein Mann so gut ist, daß er alles für meines Mannes. Und jetzt kann ich auch nichts mehr Taucht der Kindheit Rosenknospe in der Goffe faulen Pfühl! das Mädchen thut, obgleich sie doch nicht seine Tochter ist." machen. Bücher lese ich nicht; auch wegen des Bücher: Laßt die trübe Jauche laufen in die Quelle klar und kühl! Lange, lange jammerte das arme Weib. Glücklicher lesens hat man mir immer Vorwürfe gemacht. Die Laßt in Zola's Nachtgebilden schwelgen eurer Jungfrau'n Sinn; weise hatte Maria Nikolajefna eben für eine größere Bücher, welche ich von Ihnen hatte, hat meines Mannes Vorwärts, vorwärts! ja, und rückwärts! niederwärts zum Abgrund hin! Summe Fransen verkauft, so daß wenigstens Aussicht da Schwägerin gewiß ihrem Knaben gegeben. Doch ich weiß Auch die Hoffnung auf Menschenverbrüderung war, das Hochzeitskleid und einige Wäsche für Sascha noch Alles, was darin steht. Ich habe ja auch nicht und ewigen Frieden wird ihm hinfällig. Denn, wenn auszulösen. lange zu leben, man sagt, ich habe die Auszehrung. Ach, der Krieg aufgehört hat, dann:
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Es kamen die Osterfeiertage und in der Woche nach rief sie plötzlich, wie schön wäre es doch, wenn ich so Aber wie? wenn dann vertausendfacht sich drängt der Menschen Zahl- Ostern fand die Hochzeit statt. Maria Nikolajefna fuhr sterben würde, wie jene Königin in meinem Lieblings- Spät wird euch der Friede werden! Stommt er je? Spät oder bald? Wie soll Friede selig walten, wenn die Ernten all zu schmal?(!) nicht zur Hochzeit. Aber auch die Hochzeit verging nicht, märchen. Die Blätter würden auf mich niederfallen, kann er, ch' die müde Erde, wie der Mond dort, todt und kalt? ohne neuen Kummer für Anna Michailofna zu bringen. immer mehr und mehr und ich würde immer in die Halb widerruft er dann Alles, indem er sich mit Ihr Mann hatte nicht die fehlenden fünfzig Rubel für Ferne schauen, dorthin... von wo die Kraniche geflogen seinem hohen Alter als zu lahm für den Fortschritt der den Bräutigam aufbringen können. Sie hatten denselben kommen, und die Schwalben wo es so sonnig, so Jugend entschuldigt, dann wieder wünscht er, das herangebeten, die Hochzeit einige Wochen aufzuschieben, aber er hell und so warm ist und die Blätter, sie würden hatte gesagt: wenn Ihr die Hochzeit aufschiebt, so habe mich zudecken, bis ich nichts mehr denken kann." ich später die Braut nicht mehr nöthig hundert Rubel gebe ich auch nicht heraus. wendete Anna Michailofna fich an ihren Bruder an den Bruder, der in der Stadt beim Kaufmann lebte, denn dieser hätte ihre Bitte auf keinen Fall erfüllt sondern an einen andern, der auf dem Lande als Bauer
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und Eure
Im Herbst trug man Sascha zu Grabe und Anna Darauf Michailofna blieb allein zurück. Vom Manne hatte sie nicht keine Nachrichten und ihre Hütte steht bis jetzt mit vernagelten Läden und verrammelter Thür.
wachsende Geschlecht wäre nur halb so nach dem Lichte verlangend, als er, und so endigt das Gedicht in ziemlich verworrenen Säßen, denen man die zitternde Unbestimmtheit des Achtzigjährigen deutlich anmerkt.
Schwerer wiegend als dieses servile Jubiläumslied *) Nach einem Artikel von Dr. Paul Barth in de Bernerstorfer'schen ,, Deutschen Worten".