№ 49.
Beiblatt zur„ Berliner Volks- Tribune".
Der Sohn des Volkes.
Im stillen Dorfe war's, wo ich geboren, Wo unter'm Strohdach meine Wiege stand; D'rum hab' ich Treu' dem biedern Volk geschworen, Bei dem mir meine Jugendzeit entschwand. Die Pflugschar, hinter der mein Vater ging, Des armen Herdes fümmerliche Flamme, Sie sind das Schönste, was ich früh empfing: Es ist mein Stolz, daß ich vom Volke stamme!
Die Pflugschar lernt' ich als ein Heil'ges ehren, Und ehren jede Hand, die sie geführt; Sie ist das Werkzeug, Tausende zu nähren, Wenn sie die Felder segensvoll berührt. Die Arbeit ist es, der mein Preis erklingt, Und d'rum den Müßiggang ich laut verdamme, Ein Jauchzen meinem Herzen sich entringt: Es ist mein Stolz, daß ich vom Volke stamme. Es ist mein Stolz als Bruder dich zu nennen, Der du das Feld behütet und bebaut;
Im finstern Sturm und bei der Sonne Brennen, Hab' ich mit Ehrfurcht zu dir aufgeschaut, Und wärst du blieben nur ein armer Knecht, Ich weihe doch dir meiner Liebe Flamme,
Nur wer nichts thut, ist für mein Herz zu schlecht: Es ist mein Stolz, daß ich vom Volke stamme.
Im Volte, das da schafft mit kräft'gen Händen, Wohnt auch die Kraft, der Jeztzeit ganzes Leid, Zu Freud ' und Freiheit friedlich einst zu wenden; D'rum ruf ich's meinen Brüdern: seid bereit! Den Bruder, der das Bruderwort verstand, Den faßt allmächtig der Begeist'rung Flamme; Mich knüpft an euch ein unzertrennlich Band: Es ist mein Stolz, daß ich vom Volke stamme!
Bei Dortmund auf dem Schöppentisch Seit Alters eine Wage steht,
Von der im heil'gen deutschen Land
Gar wunderliche Sage geht:
Von Haß und blindem Wahn erfüllt,
Sprach einst ein Richter falschen Spruch.
Seit damals in der Wage steht
Das Zünglein schief, gleich wie ein Fluch.
Sind Klassenhaß und Vorurtheil Dereinst zerschellt im Sturm der Zeit, Und spricht von jedem Richterstuhl Die Stimme nur der Menschlichkeit, Und wird durch's deutsche Land dereinst Der hohe Geist der Freiheit wehn: Dann wird so klang die Sage fort Das Bünglein wieder g'rade stehn.
So manch' Jahrhundert ist entfloh'n, Das Zünglein stieg, das Bünglein fiel, Das Recht der Völker wuchs und schwand Als mächtiger Despoten Spiel.-
Nun weht durch's ein'ge deutsche Reich
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So rühmt man laut
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ein neuer Hauch;
Hunger.
[ Nachdruck verboten.]
Ein soziales Nachtstück von R. K.
unkenntlich macht.
I.
Sonnabend, den 8. Dezember 1888.
II. Jahrgang.
losen Versuch, seinem Ziele nahe zu kommen; dort in der er einen brennenden, unheimlichen Schmerz; es war ein Ferne winkte es, verhüllt von den Nebeln der Zukunft! Nagen und Bohren, ein Schneiden und Zwicken. Welch' freudige Aufregung, wenn es ihm gelang, einen Es trifft alles zu, wie es Moleschott beschreibt, dachte Schritt nach vorwärts zu machen... am nächsten Tage er und griff nach dem Auszug, den er sich gemacht und wurde er um Meilen zurückgeschleudert! Vier Jahre täg- in Dostojewsky's Buch hineingelegt hatte: Das Fleisch lichen , aufreibenden, hoffnungslosen Kampfes in der Groß- wird welf, das Herz träge, die Zahl der Pulse in der stadt! Das hatte er sich nicht vorgestellt, als er damals Minute beträchtlich vermindert... Kleine Reize haben vor vier Jahren seinen Einzug hielt. Vergebens waren große Wirkung. Das Licht thut wehe, ein stärkerer Schall all' seine Anstrengungen, vergebens sein Mühen! Fremd, wird unerträglich, eine Berührung erweckt Zorn... In unbekannt, wie er war, gelang es ihm nicht, sich Gönner schlafloser Nacht quält den Hungerndern die Gier, der zu verschaffen; und ohne Protektion ging's nun einmal mächtige Hebel so vieler Leidenschaften. Wer zu Aas nicht. Kaum daß er eine armselige„ Stunde" geben und Leichen, zum Fleisch seiner Freunde oder zu seinem konnte, um nicht ganz zu Grunde zu gehen, um nicht eigenen Körper greift, der beweist mehr als die Einsofort zu verhungern. Wie Schaum und schillernde Seifen- bildungskraft der Dichter sich vorstellen kann... Von blasen zerflossen seine Träume, wie Schnee unter dem keinem Triebe wird die Macht des Geistes trauriger besiegt. warmen Kusse der Frühlingssonne zerschmolzen seine Der Hunger verödet Kopf und Herz... Der Hungernde Hoffnungen! War das das Leben, welches er sich in fühlt jeden Druck mit Zentnerschwere, darum hat der den Sommernächten seiner Heimath ausgemalt, das seine Hunger mehr Empörungen verursacht als der Ehrgeiz unPhantasie so herrlich ausgeschmückt, und in dessen Zukunfts- zufriedener Köpfe... kalt und starr, die Muskeln zuckend bild zu schwelgen seine liebste Beschäftigung war? in gelähmten Gliedern, seufzend, mit trübem Auge, ab
Dies hatte er nicht geglaubt, nicht im Traume geahnt, geftumpfter Empfindung, bethörtem Urtheil kämpft der daß man in der üppigen, glänzenden Weltstadt trot Gepeinigte den Todeskampf, dem häufig eine Ohnmacht tüchtiger Kenntnisse, trotz aller Mühe und Arbeit darben sein Ziel streckt, bisweilen aber rasendes Jrrereden voranund schmachten müsse! Ungeachtet des redlichsten Strebens geht drohte ihm das gräßliche, grauenhafte Gespenst des In furchtbarer Erregung richtete er sich auf:„ Das Hungertodes! soll dein Ende sein? Nimmermehr!" rief er laut.„ Eher
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Ja, des Hungertodes! War's ein Wunder? Seit will ich..." Monaten war er gänzlich beschäftigungslos; seine Hab- Was er wollte, war ihm nicht recht klar; er sah im seligkeiten hatte er alle bereits verkauft oder versetzt, sogar Zimmer umher. Hatte er denn gar nichts mehr, das der Winterrock hatte in's Pfandhaus wandern müssen, einen Werth barg, den er in Geld umwandeln könnte?- und selbst seine vielgeliebten Bücher, die er stets mit ängst Er erhob sich mühsam und suchte nach alten Zeitungslicher Sorgfalt gehütet, und von denen er sich nur schwer alles schon verkauft oder verbrannt, selbst seine Manuskripte vergebens, er hatte blättern und Makulaturpapieren... getrennt hatte, waren den Weg zum Antiquar gegangen, der ihm kaum den vierten Theil ihres Preises bezahlte. hatte er ins Feuer geworfen, um sich gegen die mörderische Er hatte sie opfern müssen, um den Ansturm des Hungers Kälte eine Zeitlang wenigstens zu schüßen. Erfrieren ist ebenso unangenehm wie verhungern oder ertrinken. noch eine Weile aushalten zu können. Aber jeßt war er aber nahe daran, unter den grausen Umarmungen der Noth ia, wenn man einmal nichts mehr von sich weiß zusammenzubrechen. Der Zeitpunkt war nicht mehr ferne, bis dahin? Erschöpft ließ er sich wieder auf das Sopha fallen, da er völlig wehrlos am Boden liegen mußte. Seit einigen Tagen hatte er nichts Warmes, seit fürwahr, er fühlte sich in diesen schrecklichen Augenblicken зи zu Allem fähig vorgestern überhaupt nichts genossen... in den letzten Raskolnikow fiel ihm wieder ein, und diese verhängnißWochen hatte er sich von Brot und schwarzem Kaffee volle Aehnlichkeit der Situation gab seinen Gedanken eine genährt. Dieser, wiewohl nur gefärbtes Wasser, sowie ähnliche Richtung... Vielleicht lag in der Küche der die ungenügende Nahrung hatten sein Blut ganz ver- Hausfrau ein Stück Brot. Er brauchte nicht mehr und dorben und ihm überdies ein Magenleiden zugezogen, er wollte nicht mehr; noch waren seine moralischen Grundunter dessen gräßlichen Schmerzen er sich fast jede Woche fäße vom Elend nicht zerfressen, wenn sie auch naturgemäß wand. Und doch konnte er von dem heißen, schwarzen nicht unberührt geblieben waren. Mühsam schleppte er Kaffee nicht laffen, da er das einzige Reizmittel war, das sich in die Küche hinaus. feine Lebensgeister noch wach erhielt.
( Schluß folgt.)
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Er befand sich in einer furchtbaren Stimmung; nicht die augenblickliche verzweiflungsvolle Lage, sondern die Aussichtslosigkeit, der gänzliche Mangel eines Hoffnungsschimmers, das war's, was ihn niederschmetterte! Die Entbehrungen der Vergangenheit und Gegenwart hatten ihn zwar grausam genug hingenommen, doch die öde, ,, Ein schreckliches und düsteres Loos- sagt Alexander trostlose Zukunft entmannte ihn! Seine Energie war Herzen in seinen Sozialen Zuständen" ist bei uns gebrochen; das Herz verödet, die Sinne stumpf, Körper Jedem bereitet, der es wagt, sein Haupt über die von und Geist geschwächt, vernichtet alle edleren Gefühle und dem kaiserlichen Szepter vorgezeichnete Schranke zu erheben. Regungen, gemordet die geistigen Fähigkeiten... das Die Geschichte unserer Literatur ist ein Verzeichniß von war das Ende vom Liede! Märtyrern oder ein Register von Sträflingen." In der That hat Rußland seine Dichter meist früh Ein grenzenloser Haß, eine fast thierische Wuth bemächtigte sich seiner und schürte das heimliche Feuer, das und auf gewaltsame Weise verloren: die beiden slavischen In der engen Kammer eines großen Vorstadthauses ihn verzehrte. Seine menschenfreundliche Stimmung hatte Romantiker, Puschkin und Lermontoff, fielen im Zweistand mit verschränkten Armen ein junger Mann von un- den höchsten Grad erreicht. Warum ich? Warum gerade kampf, lange bevor sie ihr letztes Wort gesprochen, und gefähr dreiundzwanzig Jahren; sein von dichtem, dunklem ich? Dort schwelgen viele Müßiggänger in den weichen die zarische Justiz hat ihre Opfer von jeher mit begreifHaarwuchse umrahmtes Geficht war bleich und abgemagert, Armen feuchtäugiger Buhlweiber, dort erstickt die Faul- licher Vorliebe unter den Geisteskämpfern gesucht und ge= die düsterblickenden Augen brannten wie im Fieber, durch heit im Ueberflusse, triumphirt das Laster... und hier funden. Mit jahrelanger zwangsarbeit lohnte das heilige die hohlen, dünnen, fast durchsichtigen Wangen konnte hungert ein Mensch! Rußland selbständiges Denken, die große sibirische Einöde man beinahe die Zähne zählen. Doch die quälende Empfindung des Hungers über- politischen Strömungen ein freies Wort zu sagen wagte. drohte Jeden zu verschlingen, der über die sozialen oder Der junge Mann schien von schwerer Krankheit erstanden zu sein; um seine abgezehrte, hagere Gestalt täubte all' feine Gedanken, der bittere Geschmack auf der Der Ausblick auf solches Endschicksal hat wohl nicht zum schlotterte ein abgenüßtes, dünnes Gewand, dessen Ober- Bunge wollte nicht weichen. Ein tiefer, unüberwindlicher wenigsten jene hoffnungsarme Troftlosigkeit geboren, wie Ekel vor dem Leben ergriff ihn... stöhnend vor Schmerz fie die gesammte russische Literatur durchzieht und selbst fläche bereits in jenem Glanze erschimmerte, der jede Farbe Etel vor dem Leben ergriff ihn Gram und unendliches Leid hatten preßte er das im Fieber glühende Geficht gegen die aus den geißelnden Wigworten der Gogol 'schen Komödien Ein Weinkrampf macht seinen Körper hervorblickt. auf dem edelgeschnittenen Gesicht ihre furchtbaren Spuren konvulsivisch zucken; wild, mit unnatürlicher Stimme schrie Das Ausland hat erst seit verhältnißmäßig kurzer eingegraben, so daß er älter aussah, als er in der That war, ein Eindruck, der durch die eingefallene Brust und er auf und schlug fast bewußtlos vor Scham und ohn- Zeit von jenen naturalistischen Strömungen Kenntniß, die mächtiger Wuth gegen das Fenster, daß die Scheibe klirrend mit dem Beginn der vierziger Jahre in der russischen Gedankenvoll und doch wieder wie geistesabwesend zersprang. Er merkte nicht, daß er sich blutig geschnitten, Dichtung sich geltend machten; erst Turgenjem hat durch er spürte auch die Wunde nicht... herzbrechend schluchzte seine meisterhaften Novellen die allgemeine Aufmerksamkeit sah er zum Fenster hinaus. Der trübe Dezembertag neigte sich zu Ende, es dunkelte. der arme, unglückliche Jüngling, es würgte ihn an der auf die Literatur ſeines Landes gelenkt, nachdem in DeutschVom grauen Himmel fielen schwerfällig langsam die naſſen Rehle... Das war die knöcherne Fauft des Hunger- land schon etwas früher Bodenstedt und in Frankreich Prosper Mérimée der russischen Dichtung die Wege ge= Seine Gedanken verwirrten sich; der unerträgliche bahnt hatten. Turgenjew fam nach Paris als ein dumpfe Rollen der zahlreichen Wagen und Fuhrwerke; Druck im Hinterhaupt, das starke Herzklopfen steigerten Missionär der slavischen Poefie; und die Formentwicklung, unten fluthete das haftige Getriebe der geschäftigen Welt... sich, es wurde ihm dunkel vor den Augen, ihn schwindelte... mit welcher er nationale Stoffe mit feinster SeelenEr sah hinab. Da lag sie, die große Stadt, die Metropole ſtöhnend sant er auf das Sopha, das zugleich sein Nacht schilderung zu durchgeistigen wußte, verschaffte ihm bald des Reiches, die Arena des erbitterten Lebenskampfes, die lager war. Unterm Tisch lag ein stark zerleſenes Buch, einen europäischen Ruf. Obwohl Turgenjem fast ausStadt des Reichsthums und der Armuth, des üppigen es war Dostojewsky's Roman ,, Raskolnikow ", die Geschichte schließlich russische Stoffe seiner Dichtung zu Grunde legte, mußte die occidentale Kultur, in der er lebte, allmählich Lebensgenusses und des grauenhaften Elends, die moderne eines armen Studenten. Dben in der kleinen, engen Kammer stand War er nicht auch so ein Raskolnikow, zerrüttet und auf sein Schaffen einwirken und die fremdartigen Härten ein verlassener, unbekannter Mensch. Tausend Gedanken mürbe geschlagen vom Kampf ums Dasein, von Visionen seiner Darstellung etwas abmildern, so daß er kaum als durchblizten sein Gehirn; tausend Wünsche und Hoffnungen gepeinigt, mit dem Tode ringend? Lag er nicht gleich- Repräsentant des spezifischen Russenthums gelten kann. durchwogten seine Brust, tausend Bilder tauchten vor falls tagelang, fast ohne etwas zu essen, auf dem Sopha Eben darum war sein Sieg mehr ein persönlicher Erfolg seinem Geiste auf und verschwanden wie Sternschnuppen. und brütete er nicht auch über sozialistische Theorien? als ein Triumph der modernen russischen Literatur. Verzweiflung! Eine fatale Aehnlichkeit mit jenem Unglücklichen! Und was er dachte, was er sann, das war- Im Gegensatz dazu hat sich sein größter Nebenbuhler, Vier Jahre bereits befand sich Eugen Mark in der Doch das Hungergefühl machte alle regelmäßige Fedor Dostojewski , entwickelt. Residenz; seit vier Jahren machte er täglich den aussichts- Gedankenarbeit zunichte. In seinen Eingeweiden fühlte Der große Dichter des Leidens hat ein leidvolles
die gebückte Haltung verstärkt wurde.
Schneeflocken in trostloser Einförmigkeit...
Von der Straße herauf dröhnte ununterbrochen das
Weltstadt!
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todes!
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