Merliner

Soeial-Politisches Wochenblatt.

Die Verlängerung des Sozialistengesetzes. Normalarbeitstag und Arbeitszeitverkürzung. Die Lage des Proletariates in Italien . II. Ein Spitzel und ein Fälscher. Aue Frauen­frage. Vom Arbeitsbureau in Washington . Modernes Elend. Skizze aus dem Dres- dener Asyl für Obdachlose von.Hermann Teistler. Die Maschine im Schumachergewerbe. Klaffenglück und Massenglück. Politische Nachrichten. Gewerkschaft- liches. Vereine und Versammlungen.

Das Sozialistengesetz wird uns nlso wie das preußische Ministerium unter Vorsitz des Fürsten Bismarck am Sonntag beschlossen haben soll wahrscheinlich unverändert erhalten bteibem Die armen Nationalliberalen, die sich fruchtlos ihren Kopf über einen genügendenErsatz" des unersetzlichen Ausnahmegesetzes zerbrachen, werden sich rasch mit dieser Thatsache zu versöhnen wissem War ihnen das Ausnahme- zesctz doch nur darum uuangene.iu, weil sie den im mer < wiederkehrendenaufregenden" Diskussionen über die Verlängerung des Gesetzes ans dem Wege gehen wollten. Das Gesetz ließen sie sich schon gefallen, aber die beständigen Debatten über seine Dauer, das ist es, was sie fürchten, und was sie beunruhigt. Der Sozialdemokratie kann es natürlich vollkommen gleich sein, ob sie auf dem Wege des Ausnahmegesetzes geschmort oder auf dem Wege eines Spezialgesetzes, das doch auch ein Ausnahmegesetz ist und bleibt auch wenn es im Rahmen des gemeinen Rechtes seinen Platz fände gebraten wird. Der künftigen Diskussion dieser Ausnahmebestimmungen würden die Anhänger derselben auch wenn es anders gekommen wäre wie nach der Sonntagsntzung zu ver- muthen ist auf keinen Fall überhoben gewesen sein. An dem Tage, wo das Ausnahmegesetz in irgend welcher Form eine dauernde Institution wird, erwächst für die sozialdemokratische Vertretung im Reichstage die Pflicht und sie wird diese Pflicht erfüllen in jeder Session des Reichstags den Antrag auf Aufhebung der Ausnahmebestimmungen zu stellen. Damit wird die Diskussion aufs Neue eröffnet, wird die umfänglichste Kritik der Gesetzesbestimmungen und ihrer Handhabung möglich und zwar unter Bedingungen, die für die An- Hänger des Gesetzes noch ungünstiger sind als gegenwärtig. Aber wenn auch, wie nunmehr wahrscheinlich, das Ausnahmegesetz in seiner jetzigen Gestalt abermals ver- längert wird, so tritt auch künftig die Frage an die sozial- demokratische Fraktion heran, ob sie die Diskussion über die Aufhebung des Gesetzes durch einen bezüglichen Antrag nicht alljährlich erneuern will. Sic hat gar keine Verpflichtung zu warten, bis der Endtermin herankommt. Die Furcht der Reichstagsmehrheit vor solchen Diskussionen und der Widerwille der Maffen gegen die Ausnahmegesetze muß ausgenützt werden. Die Fraktion muß aggressiv vorgehen, je aggressiver, um so besser. Zum Normalarbeitstag und zur Arbeitszeit- Verkürzung. DieAchtstundenfrage" wird neuerdings in einer Broschüre des Engländers Tom Mann (Eight hours a day) behandelt, aus welcher wir, obwohl nicht in jeder Beziehung mit deren Inhalt übereinstimmend, einen Aus- zug bringen, welcher die hauptsächlichsten Argumente für den Achtstunden- und damit für den Normalarbeitstag enthält. Mann schreibl: Wir haben in Großbritannien ungefähr sieb en Millionen erwachsene Arbeiter, die, abgesehen von

Ueberarbeit, täglich neun Stunden arbeiten. Rechnen wir einmal aus, wie Vielen Arbeit verschafft werden kann, wenn man die Anzahl der Arbeitsstunden um eine ver- mindert. Von den sieben Millionen Arbeitern sind nach ungefährer Schätzung 900 000 ohne Beschäftigung, was mit ihren Frauen und Kindern eine Gesammtzahl von 3'/- bis 4 Millionen Menschen ausmacht, die sich ohne Existenzmittel befinden. Nimmt man nun den sechs Millionen Arbeitenden je eine Stunde Arbeitszeit ab, so entsteht sofort ein Bedarf nach 750 000 anderen Ar­beitern, um die Arbeit der abgezogenen Stunden zu verrichten. Diese 750 000 Arbeiter, aus dem Elend gezogen, beginnen sofort zuleben und leben zu lasten", so daß sie einen neuen Strom in der Produktion erzeugen, denn es sind so viele Konsumenten mehr. Heute sind es nur Elende. Es ist wahr, es wird wohl nicht lange anhalten, der heurige Zustand wird zurückkehren durch die Verbeste- rungen an den vorhandenen Maschinen und durch neue Erfindungen auf dem Gebiete der Industrie. Doch in der Zwischenzeit wäre viel Elend gelindert, während den Arbeitern die freie Stunde zi�.-.»eiteren geistigen Eni- wicklung dienen kann. Ich weiß, daß Viele behaupten, die Einführung des Achtstundentages werde alle Hoffnung auf Beseitigung des Lohnsystcms nehmen, da die Arbeiter sich mit ihrem Loos zlifrieden geben würden, wenn die Lebensbedingungen günstigere sind. Doch ist das gerade Gegentheil wahr. Ich bin selbst Arbeiter, seit meiner Jugend habe ich auf dem Felde, in Minen und an sonstigen Werkplätzcn gearbeitet, ich weiß aus Erfahrung, welchen Nutzen ein streb- famer Arbeiter aus einer freien Stunde ziehen kann. Ick kenne englische Arbeiter, die in ihrer Jugend und selbst im reiferen Alter für den normalen Arbeitstag kämpften, um eine Abendschule besuchen oder in den Lese- sälen und Bibliotheken ernste Werke lesen zu können, um sich so einen richtigen Begriff über die sozialen und öko- nomischen Fragen zu bilden Ein zweiter Einwurf gegen das Achtstundensystem ist folgender: Wie wünschenswenh es auch sei, die Arbeits- stunden zu vermindern, so ist dies dock) unmöglich durch die Konkurrenz des Auslandes. Nimmt man dort das Achlstundcnspstem an, dann kann es in England eben­falls geschehen; wenn nicht, thun wir es auch nicht. Darauf antworte ich, daß jeder englische Arbeiter (au einem Arbeitstag von neun Stunden) mehr verrichtet, als ein Arbeiter irgend welcher europäischen Nation. Und was übrigens unsere einheimischen Jndusiriefächer betrifft, so ist die Klage über die fremde Konkurrenz nur ein Sprüchelchcn, welches der Unternehmer erfindet, uni seinen Händen " die unverschämtesten Zumuthungen zu machen. Verstehen wir wohl, daß der Reichthuni nur einer einzigen Quelle entfließt, nämlich der nützlichen, d. i. gewinn- gebender Arbeit. Je mebr Arbeiter, je mehr Rcichlhum, wenn man, wohl zu verstehen, genügend Rohmaterial in Vorralh hat. Und so lange die Welt besteht, haben die Menschen mehr erzeugt, wie sie verbraucht haben sammt ihren Familien. Die Zahlen beweisen, daß England in einem kurzen Arbeitstag mehr erzeugt, denn irgend eine Nation des festen Landes. Der Engländer arbeitet neun Stunden, während in anderen Ländern noch ein Arbeitstag von 12, 14 bis 16 Stunden üblich ist, ohne die Ueberzeit zu rechnen. Und dennoch, welche Ergebniste! Giebl es ein mächtigeres Argument für das Achtstunden-Sristem? In einem Pariser katholischen Blatt(La croix) stand unlängst:Die Sonntagsarbeit, das übermäßige Arbeiten von Frauen und Kindern und selbst von er- wachsenen Männern, wüthet gleich einer Pest in ganz Europa . Das Uebermaß an Arbeitsstunden an Sonn- und Wochentagen ruinirt diejenigen, welche arbeiten, und läßt diejenigen verhungern, die nichts zu arbeiten haben." Hier ist der Christ mit dem Sozialisten vollkommen einig. Die wichtigste Schlußfolgerung hieraus ist fährt

Mann fort daß es nicht die Länder sind, wo die niedrigsten Löhne gezahlt werden, welche am besten mit der englischen Industrie konkurriren können. Nehmen wir ein einzelnes Beispiel aus unserer Industrie. Die Eisenschiffbau-Unternehmer und Arbeiter dieser Brancke lagen in den letzten drei Jahren in stetem Zwist. Die ersteren blieben dabei, daß die Schiffbauer des Festlandes uns den Rang ablaufen würden, wenn die englischen Arbeiter nicht zustimmten, eine Lohnverminderung und Arbeilszeiterhöhung zu akzeptiren. Es wurde eine Deputation von Arbeitern nach dem Festland gesendet, um den wahren Stand der Dinge zu untersuchen. Sie stellte fest, daß Deutschland unser meist zu beachtender Konkurrent sei. Im Jahre 1885 lieferte Deutschland 22 326 Tonnen (d. i. eine Anzahl Schiffe, die zusammen so viel fassen konnten). Doch in England ließ eine einzige Firma am Clyde für 40 000 Tonnen vom Stapel. Frankreich er- zeugte 10 000 Tonnen, Belgien 5212; doch im selben Jahre kamen auf dem Tyne allein 103 000 Tonnen aufs Wasser! Die englische Industrie mit höherem Lohn und weniger Arbeitszeit hac a'tjo kernen einzrgen ernstlichen Konkurrenten, indem das Festland bei übermäßiger Arbeit und Hungcrlöhnen nur 100 000 Tonnen erzeugte gegen 540 182 von den englischen Werften gelieferten Tonnen. Diese Untersuchung war entscheidend. Ist es nickt hohe Zeit, angesichts dieser Thatsachen, daß wir das Achtstunden-System einführen, ohne zu warten, daß das Festland uns das Vorbild gebe? Ist es nicht hohe Zeit, daß wir die Herabsetzung des Arbeits- tag es fordern, um unseren Brüdern, die jetzt durch gezwungene Arbeitslosigkeit auf den Straßen laufen, Arbeit zu verschaffen? Alle Arbeiter müssen hierbei mitwirken, um sobald als möglich den glücklichen Tag begrüßen zu können, an dem jeder Arbeiter Arbeit und kein einziger deren zu viel haben wird." Und was für England in dieser Beziehung gilt, das gilt in noch bedeutend stärkerem Maße für Deutschland mit seinen endlosen Arbeitslagen.

Die Lage des Proletariates in Italien . Ii. Z Die Ausnutzung der Masse hat in Italien einen so hohen Grad erreicht, daß die Interessen der Bour- geoisie selber bei den verschiedenen Seiten dieser Ausbeutung mit einander in Konflikt gerathen. Die Hungerlöhne, welche der Kapitalist zahlt, drücken die Konsumfähigkeit des italienischen Proletariats auf das niedrigste Niveau, es kann nur ein Minimum konsumiren, und wenn dieses Minimum durch in- direkte Steuern �vertheuert werden soll, so kann seine Kaufkraft der Steigerung nicht folgen. Die italienische Regierung vertheuerte dem Volke Alkohol und Tabak, da aber die Arbeitgeber die Löhne nicht steigerten, sd)ränkte der Proletarier seine Ausgaben ein. Obgleich die in- direkten Steuern auf Gebrauchsartikel durchgängig er- höht wurde», zeigen die aus ihnen gewonnenen Einkünfte doch ein Minus von 20 Millionen, das sich nur durch den schrecklichen Nothstand, nur durch die stark gesunkene Kaufkraft der Masse erklärt. Wo der Kapitalist genommen, da hat der Staat das Recht verloren, könnte man ein be- kanntes Sprichwort parodiren. Trotz alledem laufen die vorliegenden Pläne über die Ausgleichung des Defizits darauf hinaus, dasselbe durch weitere indirekte Steuern zu decken, in erster Linie durch eine Erhöhung der Salzsteuer um 5 Centesimi pro Kilo- gramm, durch Steigerung der Register- und Stempelsteuer, durch Einführung einer Abgabe auf Maaße und Gewichte, auf die Eisenbahnbillets, durch Erhöhung der Tarife für Transport lauter Abgaben, die im Wesentlichen auf das produzirende und konsumirende Volk abgewälzt werden können. Ganz bescheiden und verschämt wagt sich neben allen