Berliner i ♦♦

Social-Polittschcs Wochenblatt.

Juni Gediichtiiiß fti>i»mii ixssxlir s.

Die Aufhebung des Sozialistengesetzes. II, Der Dockarbeiterstreik in London. Die Cntwickelung der deutschen Agrarverhältnisse. I, Preußen und die Volksschule. II, Das belgische Wahlsystem. Beilage: Zum Gedächtniß Lassalle' s.

An alle Arbeiter und Parteigenossen richten wir wiederholt die Aufforderung, unermüdlich neue Abonnenten für unser Blatt zu werben. Die nächsten Monate werden wesentlich eine Vorbereitungszeit für die nächsten Reichstagswahleu bilden, deren ungeheure Wichtigkeit jedem Parteiangehörigen sofort klar sein muß, nachdem die Legislaturperioden im Reiche auf fünf Jahre verlängert wurden. Da gilt es mit doppeltem Eifer zu wirken, und wir rechnen darum auch auf die regste Mitarbeit und Unterstützung der weitesten Kreise der Partei. Um unseren Genossen die Gewinnung neuer,- Abonnenten zu

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in Vereinen und Versammlungen Der Verlag derBerliner Bolks-Tribüne". Berlin M. O., Oranienstr. Ä3.

Die Aufhebung des Sozialistengesetzes und die Aendernng des Strafgesetzbuches. Ii. gk. Nachdem Herr Dr. Ludwig Fuld dem§ 130 der kleinen aber genialen Aenderung hat angedeihen lassen, die jede Besprechung sozialer Zustände vom Standpunkte des Tadels derselben aus unmöglich macht, da auch der leidenschaftsloseste Tadel bestehender Zustände eineFeind- seligkeit" des geschädigten Theiles gegen den schädigenden erwecken muß nachdem also dadurch das erreicht ist, daß man die dritten Personen, die die Arbeiter zu Koa- litionen auffordern, bestrasen kann, wird demselben Para- graphen noch eine Verlängerung zu theil: Mit gleicher Strafe(600 Mark Geldstrafe oder Ge- fängniß bis zu zpei Jahren) wird belegt, wer öffentlich in Aergerniß erregender Weife die Einrichtungen der Ehe, des Privateigen thumS und der Familie be- schimpft. Wird die Beschimpfung in einer öffentlichen Versammlung begangen, so tritt Gefängnißstrafe nicht unter drei Monaten ein." Inärgernißerregender Weise!" Was erregt Aergerniß? So viel wir aus Erfahrung wissen, immer das, was ein Gegner sagt oder thut. Die Römer errichteten Giordano Bruno ein Denkmal, das erregtAergerniß" bei den gut päbstlichen Katholiken. Herr Lieber nennt Giordano Bruno einSchwein" und einenEsel", das erregtAer­gerniß" bei den freigeistigen Männern, während es die päbstlichen loben. In Remscheid erregt das Auftreten des katholischen BischofsAergerniß" bei den Evangelischen, das Austreten deS Pastors ThümmelAergerniß" bei den Katholiken. Wir können also wohl annehmen: alles was ein leidlich freisinniger Mann über Ehe, Eigenthum und Familie sagen wird, wird Aergerniß bei allen rückschritt- lichen Mumien erregen. Herr Fuld sagt freilich: Gefährlich sind nur solche Schriften, welche eine höhnische, verletzende, agitatorische Sprache führen, und die werden durch die Strafvorschrist mit obigem Inhalt durchweg erfaßt und ge- Vossen." Run ist die Sprache, die Jemand führt, sein Styl, «ie Lessing sagt, eine- persönliche Eigenthümlichkeit, wie

etwa die Form seiner Nase. Der eine schreibt witzig und anregend, der andere ledern und trocken. Was der erstere sagt, wird dem Gegner, und darauf kommt es ja an, leicht wie Hohn klingen und ihn verletzen, während es dem Freunde der Sache gerade um so angenehmer und er- hebender erscheint. Die Gegner jedoch sitzen über uns zu Gericht und da ist uns also mit dieser Auslegung des BegriffesAergernißerregen" wieder wenig geholfen. Es wird jeder bestraft oder nicht bestrast, je nachdem der er- kennende Richter mit ihm mehr oder minder in der poli- tischen und sozialen Anschauung übereinstimmt. Mit der Einführung solcher dehnbaren Begriffe in die Recht- sprechung verstärkt man die jetzt schon vorhandene Klassen- und Parteijustiz noch mehr und macht die Rechtsprechung noch mehr von der Privatanschauung des Richters ab- hängig. Herr Fuld giebt sogar selbst zu, daß durch diesen von ihm empfohlenen Zusatz zum§ 130 auchwissen­schaftliche Leistungen als strasymrdig" betrachtet werden ioiuien, daß also die wisse:.", gastliche Forschung ein­geschränkt wird. Er meint aber, im Großen und Ganzen (sehr gut!) werde die Rechtsprechung hierbei ebenso das Richtige treffen wie bei§ 166 St.-G.-B(der über Gottes- lästerung handelt). Wir können diese schöne Ansicht schon darum nicht theilen, weil in sozialen Fragen die Gegen- sätze heute viel schärfer zugespitzt sind, als in religiösen. Wenn Herr Dr. Fuld weiter sagt, daß der Richter, um seinen§ 130 richtig anwenden zu können, sich mit der politischen Oekonomie eingehender werde ver- traut machen müssen, als es bisher der Fall war, wenn er also zugiebt, daß der heutige Richter von der Ehe, dem Eigenthum und der Familie keine richtigen Begriffe haben, so bat er wohl selbst die Ungeheuerlichkeit seines Gesetzesvorschlages am schärfsten gekennzeichnet. Die Grund- lagen der gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung, als welche Herr Fuld Ehe, Familie und Anerkennung des Privateigenthums anzusehen beliebt, vermittelst dehnbarer, nur durch subjektive Auffassung auslegbarer Gesetzesbegriffe in den Schutz von Richter gestellt, die diese Grundlagen, dieseRechtsgüter" nur sehr unvollkommen kennen, das ist mehr wie bedenklich. Wir glauben auch nicht, daß die Herren Richter sich gerade dew von Herrn Fuldver- befferten"§ 130 zu liebe mehr mit politischer Oekonomie beschäftigen werden als heule. Es geht also auch dieseVerbesierung" des ge- meinen Rechtes weil, sehr weit über das Sozialisten- gesetz hinaus, das die Kritik der bestehenden Zustände nicht zu hindern erklärt, sondern nur den Versuch der ge- waltsamen Beseitigung derselben dem Wortlaut nach verbiete In Wirklichkeit wird es freilich auch anders ge­handhabt. Der Dockarbeiterstreik i» London . pfr. London , 27. August. Was ist der Werth der Arbeitskrast? Das Werthquantum, welches sich darstellt in der Summe von Gebrauchsgegenständen, die zur Erzeugung und Erhaltung der Arbeitskrast oder da dieselbe mit ihrem Träger verwachsen des Arbeiters nöthig ist. Daß aber der abstrakte Werth und der auf dem Arbeitsmarkt" wirklich gezahlte Preis durchaus nicht zu- sammenzufallen brauchen, das haben soeben die Londoner Docksklaven und zwar ohne irgend welche gelehrte Vor- lesung über politische Oekonomie begriffen, und diese Er- kenntniß hat sie zur Auflehnung gegen ihre Ausnutzer geführt. 70 000 der in den Docks beschäftigten Arbeiter haben die Arbeit niedergelegt, und gedenken dieselbe nicht eher wieder auszunehmen, als bis ihre Forderungen be- willigt sind. So unerwartet wie der Streik ausbrach, so uner-

wartet und grauenhaft waren die Thatsachen, die mit einem Male in das Licht der Oeffentlichkeit traten. Die ganzen Dockarbeiter Londons , und deren Zahl beläuft sich auf über 100 000, bilden ein stehendes Re- serveheer. In früher Morgenstunde finden sie sich an den Thoren der Docks ein; soviel als man gerade gebraucht, werden eingelassen und die Uebrigen, dieUeberzähligen", bleiben mit hungrigem Magen außen und beneiden ihre glücklicheren Gefährten. DerenGlück" besteht nun darin, 13, im besten Falle 4 Stunden beim Aus- und Einladen der Schiffe beschäftigt zu werden. Pro Stunde erhalten sie 45 Pente, für besonders schwierige und lebensgefährliche Thätigkeit 6 Pente*). Ist das Werk gethan, so können sie sich mit ihren Paar Pente in der Tasche trollen, es werden eben keinebands" mehr ge­braucht. Nachmittags wiederholt sich dasselbe Spiel von neuem. Das Geschäft des Dingens der Arbeiter überlassen die Dock-Gesellschaften, um nichts mit dem liability act(dem Haftpflichtsgesetz) zu thun zu haben, sogenannten con- tractors, bluts augerischen Zwischenausbeutern, von denen die Docksklaven notorisch die gemeinste BeHand- lung erfahren. Diese Zustände herrschen schon seit dem letzten Dock- streik im Jahre 1872, wo dieseVergünstigungen" erlangt wurden. Jetzt nun verlangen die Streikenden unterschiedlos 6 Pente(50 Pfennig) pro Stünde und die Garantie einer mindestens vierstündigen Arbeit hintereinander,(!) resp. Lohn für vier Stunden; für jede Stunde Ueberzeit 8 Pente(65 Pfennige) und für Nachtarbeit pro Stunde 1 Shilling(1 Mach. Die Erfüllung dieser bescheidenen Forderungen ist ihnen von den Dock-Kompagnien verweigert worden, und so haben sie sich denn zum Streik entschlossen. Ihre Zahl wuchs in riesigen Sprüngen. Erst waren zirka 2500, dann 6000, dann 20 000, dann 50 000 und gegenwärtig sind es bereits über 70 000. Tausende von Werftarbeitern, beim Wagentransport it. Beschäftigten haben sich ihnen solidarisch angeschlossen. Verschiedene Deputationen unter Fühmng von Ben- jamin Tillet, dem Sekretär der Dockarbeiter-Union(Ge- werkschast) und John Burns sind regelmäßig resultatlos von den Dock-Geesllschaflen zurückgekehrt; nichts destoweniger sind die Streiker in siegessroher Stimmung und haben sich entschlossen, dem äußersten Mangel Trotz zu bieten. An jedem Tage werden von ihnen in den Morgen- stunden vor den Thoren der West-Jndia Docks Massen- Meetings abgehalten, nach deren Ende sie sich zu einer Pro- zession durch die City vereinigen. Mit Fahnen und Musik marschiren sie durch die menschengefüllten Straßen des Ostends, der City, um über London Bridge zu den Docks zurückzukehren. Ueberall werden sie mit Sympathie em- pfangen, in allen Straßen, durch die sie ziehen, füllen sich ihre Sammelbüchsen mit Geld. Diese Straßensamm- lungen haben mehrfach 80 Pfund(1600 Ml.) und mehr ergeben. Viele Unions haben beträchtliche Unter- stützungen geschickt. Private Zuwendungen laufen zahl- reich ein; so hat der Alderman(Stadtrath) Philps fast 6000 Ml. gesammelt. Viele Reverends(Prediger) haben Subskriptionslisten aufliegen, andere haben sich verpflichtet, jeden Tag hunderte von Dockarbeiterkindern mit Nahrung zu versehen. Auch die Bourgeoispreffe benimmt sich ver- hältnißmäßig anständig. Bis jetzt haben die standhaften Streikenden ihrem guten Muth, ja ihren Humor nicht verloren, trotz des knurrenden Magens und des mehrfach schlechten Wetters. Bis auf die Haut durchnäßt, haben sie den Meetings bei- gewohnt und Umzüge gehalten. Hin und wieder konnte man sie Stangen«ragen sehen, an denen eine magere Wurst und eine Brotkruste hingen mit der Aufschrift r *) 50 Pfennige. 1 Pennt) etwa 8 Pfennige.