Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

36.

Aus dem Leben.

Er besaß keinen Cent.

Und sie ebenso wenig.

Aber er war ein geschickter Arbeiter, hatte eine feste Stellung" gefunden und verdiente nun täglich zwei Dollars. Das ist heute ein ,, ganz schöner" Lohn, auch für einen geschickten Arbeiter. Es giebt qualifizirte geistige Arbeiter, die mit weniger fürlieb nehmen müssen.

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Mit zwei Dollars täglich, so dachte er, können wir wohl auskommen, und so drang er also auf Trauung. Sie aber zögerte. Heirathen? Ja, das ist ganz schön; aber einen Haufen Kinder zu haben und mit diesen Mangel zu leiden, wenn einmal eine Unterbrechung im Erwerb ein­treten würde der Gedanke machte sie zittern. Sie hatte in der eigenen Familie genug Erfahrung darin gemacht. Sie sagte das ihrem Geliebten, dem sie herzlich zu­gethan war, nicht, da sie ihm nicht wehe thun wollte. Aber sie stellte ihm alle sonstigen Gründe vor, welche eine Verschiebung der Hochzeit rechtfertigen sollten. Sie würde in bisheriger Weise mit ihm verkehren, das Heirathen sei gut für reiche Leute, die stets Brod im Schranke haben; wenn der Hunger zur Thüre hereinkäme, flöge die Liebe zum Fenster hinaus.

Sie war ein anständiges Mädchen. Er aber drang weiter in sie. Er würde fleißig arbeiten, nicht in's Wirthshaus gehen. Er versprach es ihr bei allem, was hoch und heilig ist.

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Sie gab tem ficten Trängen ihres Geliebten und ihres eigenen Herzens schließlich nach; sie wußte, daß er ein braver Bursche war, daß, soweit es von ihnen und nicht von übermächtigen Verhältnissen abhing, ihre Ghe eine glückliche sein werde.

So kam es, daß die beiden heiratheten. Alles ward einfach, aber sauber eingerichtet; fie legten es verständig an, um sich nicht in Schulden zu stürzen. Ihre Einnahme reichte zum Leben hin, an das sie keine große Ansprüche machten; sie konnten sogar noch etwas zu rücklegen für Doktor und Apotheker im Falle der Krankheit. Er hatte nicht gelogen; er hielt viel von seiner Frau und zeigte das durch seine Thaten. Nie spielte er und brachte seinen Lohn stets unverkürzt nach Hause.

Sie begann zu glauben, daß die Ehe auch nicht schlimm für die Armen sei. Sie war glücklich und zufrieden und zeigte sich als eine thätige und sparsame Hausfrau. So vergingen drei Jahre.

Eines Tages stand sie an der Wäsche. Ihre Kinder spielten um sie herum; sie beluftigten sich damit, Seifen­blasen fliegen zu lassen und jauchzten, wenn eine hoch empor stieg und zum Fenster hinaus schwebte.

Da kamen einige Männer an, welche eine Tragbahre trugen, die mit einem schwarzen Laken überdeckt war. Sie errieth, was geschehen war. Mit einem Schrei stürzte sie zur Erde. Ihre Kinder weinten im Chor und starrten auf die fremden Männer.

Das Jüngste, neugierig wie Kinder sind, hob das Laken auf, um zu sehen, was darunter sei.

Die Mutter hatte sich nicht getäuscht: es war ihr Mann, den man da gebracht, mit zerschmettertem Gehirn. Der Treibriemen einer Maschine, an der er während des Laufens eine Reparatur vornehmen mußte, hatte ihn ge­packt und gegen die Decke geschleudert, den augenblicklichen Tod herbeiführend.

So war auf grausame Weise ihrem ganzen Glück ein Ende gemacht.

Sonnabend, den 7. September 1889.

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III. Jahrgang.

man, wie die Arbeitgeber sich um das Wohl ihrer Arbeiter die Gründung von Kooperativen  ( Genossenschaften) und bekümmern; diese praktische Nächstenliebe ist doch ganz an- trat mit voller Kraft für dieselben ein. In Puteaur, ders, als die Aufheßereien der professionellen Unruhestifter Juresnes, Combevoi, Clichy  , Roubair trieb er eifrige Pro­glauben machen wollen." paganda unter dem Fabrikproletariat, suchte es zu orga­nisiren, zur Gründung von Genossenschaften heranzuziehen Ueber ein Jahr war vergangen. Die Wittwe hatte und für die Internationale zu gewinnen. In Puteaux  mit dem Gelde sorgsam gewirthschaftet, auch durch gelegent- gründete er den Arbeiterkonsumverein la Revendication" liche Arbeiten soweit sie durch die Sorge für die Kinder nicht( die Forderung), welche 1800 Mitglieder zählt und noch behelligt wurde etwas verdient. Aber diese Gelegen- heut zu den blühendsten Anstalten dieser Art von ganz heiten waren selten, auch war sie kränklich geworden, so Frankreich   gehört. Die Gründung von Kooperationen daß, als das erhaltene Geld verbraucht war, der Mangel ging meist mit der revolutionären Propapanda Hand in sehr bald an die Thüre klopfte. Aus dem kleinen Raum, Hand und Malon rekrutirte aus der Mitgliedschaft ersterer den sie nach dem Tode ihres Mannes bezogen, verschwand neue Anhänger für die Internationale, die er in Sektionen ein Werthstück" nach dem anderen, um zum Trödler zu organisirte, wie außer in den genannten Orten in Lille  , wandern. Schließlich war nichts mehr übrig als ein paar Amboise  , Vattrelos, Poutoir, St. Duen l'Aumône  , Saint­Matraßen und einige armselige Haushaltungsstücke, wofür Etienne, Battignolles 2c. niemand etwas gegeben hätte.

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Nach dem Mangel stellte das Elend sich ein. Es war so falt in der elenden Kammer.

Natürlich blieben ihm bei einer solchen Thätigkeit von seiten der Arbeitsherren weder Scheerereien aller Art noch. Entlassung erspart, er war gezwungen, öfters den Eng aneinander geschmiegt lagen die Kinder unter der Namen zu wechseln und blieb nur soviel Zeit an einem alten, durchlöcherten Decke. Die Mutter stand verzweif- Drt, als zur Gründung einer neuen Gruppe nöthig war. lungsvoll an ihrem traurigen Lager. Sollte eine Mutter Neben und außer Varlin war Malon vielleicht da­ihre Kinder leiden lassen? Könnte sie es ertragen, wie mals einer der thätigsten französischen Apostel für die fie langfam vor Mangel verkommen? Jm bitteren Schmerz ,, internationale Assoziation der Arbeiter", deren ersten preßte sie die gefalteten Hände gegen die kalte, feuchte Songreß er als Delegirter beiwohnte. Mauer.

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Die Polizei hatte selbstredend schon lange ihr Auge Und es kam ihr der Gedanke fann man es Ge- auf ihn und infolge einer Denunziation ward er in den danke nennen? dem ein Ende zu machen, die Kleinen zweiten Prozeß der Internationale verwickelt. Er redigirte vor diesem elenden Dasein durch den Tod zu retten und die Kollektivvertheidigung der Angeklagten und ward mit dann sich selbst auf dem Stufenpflaster zu zerschmettern. der gesammten Kommission zusammen zu drei Monaten War doch keine Hoffnung auf Rettung vorhanden! Gefängniß verurtheilt. Unter dem starren Blick der Mutter erwachten die Kinder, schmiegten sich an die zu ihnen auf's Lager Sin­fende und liebkosten sie.

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Da brach sich ein Thränenstrom Bahn sie konnte die schreckliche That nicht ausführen!

Sie ließ die Kinder sich wieder hinlegen, warf ihr altes Tuch um und ging fort. Nach einer Viertelstunde war fie wieder da. Sie trug ein großes Brod, nicht unter dem Arm, sondern mit beiden Händen gegen die Brust gedrückt, als wäre es ein werthvoller Gegenstand.

Sie vertheilte dasselbe mit fieberhafter Eile unter die hungrigen Kinder.

Sie selbst ißt nichts, sie hat keinen Hunger, sie wird später schon etwas essen. Sie sieht nur zu, wie es den Kindern schmeckt. Wie ist sie froh!

Aber die Freude dauert nicht lange. Ein Mann tritt in's Zimmer, der sich als Geheimpolizist zu erkennen giebt. Als sie den Bäckerladen verlassen, ohne das entnom mene Brod zu bezahlen, hatte ihr der Bäcker den Burschen nachgeschickt und dieser an der nächsten Ecke den dort sta tionirten Beamten verständigt. Dieser war ihr gefolgt und bedeutete fie, daß sie ihm zum Revierhause zu folgen habe. Die Kinder würden wohl schon am nächsten Tage in einer Anstalt untergebracht werden, tröstete er.

Die Zeit seiner Haft nußte er zu weiteren Studien aus und ging, sobald die Strafe verbüßt, mit verdoppeltem Eifer an das Werk der Propaganda, überall, wohin er tam, neue Sektionen der Internationale organisirend. Mit den Blanquisten hielt er Fühlung und betheiligte sich an den meisten republikanischen und revolutionären Kund­gebungen, welche diese in den letzten Jahren des Empire's in Szene seßten.

Hand in Hand mit den Organisationsbestrebungen und der mündlichen Propaganda ging eine fleißige Mit­arbeiterschaft an der damaligen Arbeiter- und revolutio= nären Presse. In der Mutualité" von Vincard, der Coopération" von Devaud, dem Courrier français" von Vermorel, der Egalité  " der Genfer   Sozialisten, welche damals von Bakunin   geleitet wurden, in der Internatio­nale" von Caesar de Paepe vertrat Malon revolutionäre und sozialistische Anschauungen, welche allerdings noch vielfach verworren und ungeklärt waren.

Seine Thätigkeit hatte während all dieser Jahre ver= schiedene Pausen in Folge von Verurtheilungen zu Ge­fängniß erfahren.

1869 trat er in die Redaktion der von Rochefort und Molière   geleiteten Marseillaise  " ein und war der Bericht­erstatter des Blattes im Creuzot, als daselbst im Januar Die arme Frau läßt den Kopf auf die Brust sinken. 1870 der große Streik ausbrach. Malon hatte diesen Dann bittet fie, ihr zu gestatten, sich ein warmes Tuch Ausstand, sowie den darauf folgenden zu Fourchambault umzuhängen. Der Beamte hat nichts dagegen und sie nicht verursacht, allein als dieselben ausgebrochen waren, entfernt sich durch eine am anderen Ende des Zimmers gehörte er zu ihren vorzüglichsten Organisatoren. befindliche Thür. Aber diese führt nicht in ein anderes nußte die Zeit zu einer trefflich geführten und erfolgreichen Gemach, sondern auf den Gang, von dem eine Thür zur Agitationskampagne aus und gründete in Châlon, Autun  , Feuerleiter geht. Dijon   2c. 2c. fast unter den Augen der Polizei und fort­während von Spähern gehezt mehr als 20 neue Sektionen der Internationale.

Als dem Beamten die Rückkehr etwas lange währte, ging er der Frau nach. Das arme Weib lag zerschmettert im Hofe. Die vier Kinder kamen richtig in eine Anstalt.

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Er

Kaum war er im April 1870 nach Paris   zurückge­Nach dem Begräbniß kam ein Herr zu der Wittwe, fehrt, so ward er auch schon verhaftet, nach Mazas ge= der ihr Trost zusprach: ihr Mann sei nicht der erste ge= worfen und im strengsten Gewahrsam gehalten, um in den wesen, dem so etwas passirt sei, solche Dinge passirten Am selben Abend fand eine Versammlung statt, in der vierten Prozeß der Internationale verwickelt zu werden. häufig und man müsse sich in das Unvermeidliche" fügen. einige weise Männer dem anwesenden wohlanständigen Im Juli zu einem Jahr Gefängniß verurtheilt, wurde er Der Fabrikant habe ihren Mann sehr geschäßt, wolle auch Publikum darlegten, daß die Schilderungen gewissenloser mit gegen sechzig politischen Verbrechern"( Anhängern der die Begräbnißkosten bezahlen, ja, seiner Wittwe außerdem Demagogen über die bestehende Armuth aus der Luft ge- Internationale und Blanquisten) in das Zuchthaus von hundert Dollars schenken. Er zog ein Papier aus der griffen seien. Wenn es Leute gäbe, die Mangel litten, so Beauvais   übergeführt, aus dem er mit seinen Schicksals­Brusttasche und erklärte, daß er ihr das Geld auszahlen sei dies ihre eigene Schuld. Sie sollten arbeiten, wie gefährten am 5. September durch den Sturz des Kaiser­würde, daß sie den Empfang aber unter der Schrift quit- sie auch. reichs befreit ward. tiren müsse.

Und die Versammelten gingen in sehr befriedigter Sie war dankbar für all diese Güte und unterzeichnete; Stimmung nach Hause. sie würde in diesem Augenblick alles unterzeichnet haben,

und wenn es ihr Todesurtheil gewesen wäre.

Was hatte sie unterschrieben? Sie wußte es nicht. Was sie aber wußte, das war, daß sie nun in der Lage war, vor der Hand für die Kinder in alter Weise sorgen zu können. Das weitere würde sich ja finden.

Benoit Malon.*)

Aus dem Leben eines Proletarierführers.

II.

c- n. Seine Kenntnisse, seine Charakterfestigkeit ver­Der Herr steckte das Papier wieder ein und verabschafften Malon bald einen großen Einfluß über seine schiedete sich mit dem freundlichsten Grinsen, dessen ein Kameraden, und als 1865 ein großer Streik ausbrach, Agent- ein solcher war es fähig ist. Er dachte, das ward er zum Führer desselben ernannt. hätte dem Fabrikanten ein theurer Prozeß werden können, Er erledigte sich seiner Aufgabe so gut, daß er bereits wenn die Frau eine Schadenersaßklage eingereicht hätte. im folgenden Jahre abermals mit der Leitung eines neuen Unter 5000 Dollars wäre er nicht weggekommen. Nun Streits betraut ward. war alles in Ordnung. Die Frau war zufrieden, der Bald darauf machte er die ersten journalistischen was nicht theuer ist und die Hälfte für die Bemühungen Mutualité" und den Courrier français". Versuche in Gestalt von Arbeiterforrespondenzen" an die des Agenten zu zahlen, und somit war alles in Ordnung. Zur selben Zeit auch trat er mit der Internationale Als der Fall in den Zeitungen bekannt gemacht und in Beziehung und ward durch Tolain, den späteren Fahnen­hinzugefügt wurde, wie nobel sich der Fabrikant der Wittwe flüchtigen, in die Pariser   Sektion aufgenommen. gegenüber benommen, da war man über letteren des Lobes voll. Da konnte man Abends in den anständigen" Kneipen, in denen die Wohlfituirten verkehrten, hören: Da sieht

Fabrikant hatte nur hundert Dollars für einen Todten-

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Malon legte damals noch übergroßes Gewicht auf *) Sprich: bönoa malong.

Kaum hatten sich für Malon die Kerkerthore geöffnet, so eilte er nach Paris   zurück und trat in das 91. Bataillon der Nationalgarde ein, welches ihn sofort zu seinem Ver­treter erwählte. Ronnten sich schon bloße aufrichtig demo­kratische Republikaner nicht mit den Männern des 4. Sep­tember und ihrer blauen Republik   einverstanden erklären, so noch weit weniger ein Mann vom Schlage und der Gesinnung Malon's. Der Zäsar war gestürzt, aber der Despotismus einer Klaffe war geblieben und forderte zur Opposition heraus, die auch nicht auf sich warten ließ.

Malon gehörte zu denen, welche der provisorischen Regierung, der sogenannten Nationalvertheidigung, von Anfang an Mißtrauen und entschiedenen Widerstand ent­gegenbrachten, welche durch ihre agitatorische Thätigkeit eine revolutionäre Kommune vorbereiteten, in der inter­nationale und sozialistische Momente enthalten waren. Sein unermüdliches Wirken, seine Erfahrung und Begabung in Sachen der Agitation und Organisation, das Ansehen, welches er unter den Arbeitermassen der Faubourgs er­langt hatte, ließen ihn durch Akklamation zum Mitglied des Zentralkomitee's der zwanzig Arrondissements ernennen.

An dem Aufstande des 31. Oktober, welcher die Rapitulation von Paris  ( die anläßlich der Nachricht der