Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.
№ 40.
Frühritt um die Freiheit.
Von Maurice Reinhold von Stern . Du sei mir gepriesen, o Morgenluft! Frisch schlägt's an die witternde Nase; Es steigt der jungfräuliche Erdenduft Thaudampfend aus glizerndem Grase; Es perlt am Hute, es blinkt am Schwert, Und wie sich die Zweige bewegen,
Wenn durch die Blätter ein Windhauch fährt, Da sprüht es wie funkelnder Regen.
Hinein, hinein in das lachende Feld, Hinein in das sonn'ge Gefilde!
Ja, schön ist die Welt und weit ist die Welt, Und blank ist mein Wappen im Schilde!
Frisch auf, mein Rapp, und tummle dich fein; Wir wollen die Lande durchreuten! Schon pfeift die Amsel und klingt es drein Aus der Ferne wie Früheläuten.
Glückauf, Kamerade! Glückauf, glückauf! Glückauf unter duftenden Maien! Auf einem Wege in eiligem Lauf: Es reitet sich besser zu zweien.
Die Rosse wiehern der Sonne zu, Gemeinsamem Ziele entgegen:
Morgensonne, o Freiheit du
Uraltes Ziel allerwegen!
[ Nachdruck verboten.]
Sonnabend, den 5. Oftober 1889.
III. Jahrgang.
auf ihre Veranlassung daselbst angebracht worden, damit platte, auf der ich saß, bewegte. Gewiß, sie bewegte sich, sie täglich beim Ausgehen von Kopf bis zu den Füßen als ob man sie in die Höhe gehoben hätte. muſtern konnte, ob ihr die Toilette gut stand. Mit einem Sprung stürzte ich mich auf das nächste Und ich blieb wie festgebannt vor dem Spiegel stehen, Grab, und ich sah, ja wahrhaftig, ich sah ganz deutlich, welcher ihr Bild so oft zurückgestrahlt hatte. So oft, so daß der Stein, den ich soeben verlassen hatte, sich ganz oft, daß er gewiß ihr Bild behalten hatte. Da stand ich gerade in die Höhe richtete. Und der Todte erschien, nun, zitternd, die Augen fest auf das Glas, das glatte, ein nacktes Skelett, das mit dem gekrümmten Rücken den tiefe und leere Glas geheftet, das fie ebenso wie ich, wie Stein aufhob. Ich sah alles, ich sah es genau, obgleich mein leidenschaftlicher Blick umfangen und besessen hatte. die Nacht sehr finster war. Auf dem Kreuz konnte ich Es schien mir, daß ich diese Spiegelscheibe liebte ich lesen:„ Hier ruht in Gott Jakob Olivant, verschieden in
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berührte sie sie war kalt! Oh, die Erinnerung! die einem Alter von 51 Jahren. Er liebte die Seinen, war Erinnerung! Ist sie nicht ein Spiegel voller Schmerzen, rechtschaffen und gut und starb in dem Frieden des ein glühender, lebender, schrecklicher Spiegel, welcher uns Herrn."
alle Qualen durchkosten läßt? Glücklich die Menschen, Der Todte las auch, was auf seinem Grabstein gederen Herz, wie ein Spiegel, über welchen die Bilder schrieben stand. Dann hob er auf dem Weg einen Stein gleiten und sich verwischen, alles vergißt, was es gehegt auf, ein kleines, spizes Steinchen und kratte mit diesem und gepflegt hat, alles was an ihm vorübergegangen ist, die Grabschrift hinweg. Er ruhte nicht eher, bis alle alles, was sich in seiner Zuneigung, in seiner Liebe gesonnt Buchstaben verschwunden waren und betrachtete dann mit und gespiegelt hat. Wie ich leide! seinen leeren Augenhöhlen die Stelle, wo sie gestanden.
Ich ging fort, und unwillkürlich, ohne es zu wissen und zu wollen, lenkte ich meine Schritte dem Friedhofe zu. Ich fand ihr ganz einfaches Grab, mit einem Marmorkreuz darauf, das nur die Worte trug:
Sie liebte, ward geliebt und starb." Da lag sie, da unten, verwest! Oh Entsetzen! Stirn gegen das Grab gestüßt, schluchzte ich laut.
Die
So blieb ich lange, lange. Endlich bemerkte ich, daß der Abend hereinbrach. Da bemächtigte sich meiner ein wunderlicher, wahnsinniger Wunsch, ein Wunsch, wie er nur in der Seele eines verzweifelten Liebenden emporsteigt. Ich wollte die Nacht, die letzte Nacht in ihrer Nähe verbringen, ich wollte auf ihrem Grabe meinen. Aber wenn man mich sähe, so würde man mich fortweisen.
Mit der Spiße des Knochens, der sein Zeigefinger gewesen, schrieb er hierauf mit leuchtenden Lettern auf den Ste ,, Hier ruht Jakob Olivant, verschieden in einem Alter von 51 Jahren. Er beschleunigte durch seine Härte den Tod seines Vaters, den er beerben wollte, er peinigte seine Frau, quälte seine Kinder, betrog seine Nachbarn, stahl wo er konnte und starb elend."
Als der Todte mit Schreiben fertig war, betrachtete er unbeweglich sein Werk. Und als ich mich umwandte, bemerkte ich plöglich, daß alle Gräber offen standen, daß alle Todten aus ihnen emporgestiegen, und daß sie die Lügen verwischt hatten, welche die Verwandten auf den Leichenstein geschrieben hatten. An ihrer Stelle meißelten sie die Wahrheit in den Stein.
Ich hatte sie zum Rasendwerden geliebt. Warum liebt man? Ist es nicht wunderlich, in der Welt nur ein Wesen zu sehen, im Geist nur einen Gedanken, Was thun? Ich nahm meine Zuflucht zu einer List. Und ich sah, daß alle diese guten Väter, diese treuen im Herzen nur einen Wunsch zu tragen, im Munde nur Ich stand auf und irrte durch die Stadt der Verschwun- Gattinnen, aufopfernden Söhne, diese keuschen jungen einen Namen zu führen: einen Namen, welcher sich unauf- denen und Verschollenen. Ich lenkte meine Schritte bald Mädchen, ehrlichen Geschäftsleute, mit einem Worte alle hörlich auf die Lippen drängt, der wie das Wasser einer da, bald dort hin, weiter, weiter, ohne Ruhe, ohne Rast. diese tadellosen und makellosen Männer und Frauen die Quelle aus der Tiefe der Seele emporsteigt, welchen man Wie ist doch die Stadt der Todten im Vergleich zu Henker ihrer Nächsten, daß sie haßerfüllte, unehrliche, heuchsagt, wieder und immer wieder sagt, vor sich hinmurmelt der anderen, zu der, wo man lebt, so klein! Und dies, lerische, lügnerische und trügerische, verläumderische, neidische wie der Gläubige ein Gebet! obgleich die Zahl der Todten weit größer als die der Geschöpfe gewesen, daß sie gestohlen, betrogen, die verab= Ich will unsere Geschichte nicht erzählen. Die Liebe Lebenden ist. Wir brauchen hohe Häuser, Straßen, so viel scheuungswürdigsten Handlungen begangen hatten. hat nur eine, stets und überall die nämliche. Ich war ihr Platz für die vier Generationen, welche zu gleicher Zeit Sie alle schrieben zu gleicher Zeit auf der Schwelle begegnet und liebte sie. Das ist alles. Und ich hatte ein das Tageslicht schauen, das Quellwasser, den Wein der ihrer ewigen Wohnung die grausame, schreckliche und heilige. ganzes Jahr lang in ihrer Zärtlichkeit, in ihren Armen, Rebenhügel trinken und das in den Ebenen wachsende Wahrheit, welche hier auf der Erde niemand weiß oder in ihren Liebkosungen, ihrem Blick, ihrem Wort gelebt. Brot essen. Und für alle die Generationen der Todten, die jedermann nicht zu missen heuchelt. Alles, was von ihr kam, hatte mich so vollständig ergriffen, für die ganze bis zu uns reichende Stufenleiter der Ich dachte, daß auch sie die Wahrheit auf ihr Grab gefesselt, zum Gefangenen gemacht, daß ich nicht mehr Menschheit genügt ein Nichts an Raum, ein Feld, fast geschrieben hätte. Und ohne eine Spur von Furcht lief wußte, ob es Tag oder Nacht, ob ich lebend oder todt nichts! Die Erde nimmt sie in ihren Schooß, das Ver- ich jetzt mitten durch die Reihen von halbgeöffneten Särgen, war, ob ich noch auf der alten Mutter Erde oder sonst mitten durch Leichname und Skelette; ich war fest überwo wandelte. zeugt, daß ich sie jetzt finden mußte.
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Und da starb sie! Wie ich weiß es nicht, ich weiß nichts mehr.
gessen verlöscht ihre Spur. Lebt wohl!
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Am Ende des neuen Friedhofes bemerkte ich plöglich den verlassenen, alten Friedhof, wo die vor langen Jahren Ich erkannte sie von weitem, trotz des Leichentuchs, Verstorbenen ihren Staub mit der Erde vermischen, wo welches ihr Gesicht verhüllte. Sie tam an einem regnerischen Tage ganz durchnäßt sogar die Kreuze vermodern, wo man morgen die jüngst Und auf dem Marmorkreuz, wo ich kurz vorher da las gelesen: Sie liebte, ward geliebt und starb" nach Hause, und am nächsten Morgen hustete sie. Sie Verblichenen bestatten wird. Hustete ungefähr eine Woche lang, dann mußte sie sich zu Wild und üppig wuchernde Rosen, kräftige und düstere ich jetzt: Bett legen. Zypressen bedecken ihn, er ist ein prächtiger und trauriger ,, Da sie eines Tages ausgegangen war, um ihren Garten, dessen Vegetation ihre Nahrung aus Menschen- Geliebten zu täuschen, erkältete sie sich im Regen und leibern zieht. starb."
Was ist geschehen? Ich erinnere mich nicht mehr daran. Aerzte kamen, schrieben und gingen wieder fort. Man brachte Medizin, nnd eine Frau gab sie ihr ein. Die Hände der Kranten waren heiß, die Stirn glühend und feucht, die Augen glänzten und hatten einen traurigen Ausdruck. Was haben wir uns gesagt? Ich weiß es nicht mehr. Ich habe alles vergessen, alles, alles!
Sie starb. Ich erinnere mich deutlich ihres letzten, so leisen und schwachen Seufzers. Die Krankenwärterin sagte:„ Ach!" Ich verstand, ich verstand
Weiter weiß ich nichts. Gar nichts.
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Ich war allein, ganz allein. Ich drückte mich gegen Wie es scheint, hat man mich beim anbrechenden Tag einen Baum, ich verbarg mich ganz in seinen üppigen, leblos zusammengebrochen neben einem Grab gefunden.... dunklen Zweigen.
Und ich erwartete so die Nacht, an den Baum geklammert, wie sich ein Schiffbrüchiger an die Trümmer des Fahrzeugs flammert.
Als sich schwarze, tiefschwarze Nacht auf die Erde gesenkt hatte, verließ ich mein Versteck und ging leise, mit langsamen, gedämpften Schritten über die todtenreiche Erde.
Jch irrte lange, lange, lange umher. Ich konnte
Ein bürgerlicher Moralist über soziale Fragen. III.
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Die Frauenfrage.
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Ich sah einen Priester, welcher von meiner„ Mätresse" B. W. Auch die Frauenfrage berührt Salter per= sprach. Es schien mir, daß er sie beleidigte. Nun, da sie sie nicht finden. Mit vorgestreckten Armen und weit ge- sönlich moralisirend vom Standpunkte des Bürgerthums gestorben war, hatte man nicht mehr das Recht, darüber öffneten Augen, mich mit Händen, Füßen, den Knieen, aus. Obgleich einem Lande angehörig, welches in der zu sprechen. Ich wies dem Priester die Thüre. Ein an- der Brust, ja sogar dem Kopf gegen Gräber stoßend, Frauen- Emanzipation wohl den größten Fortschritt gemacht hat, betrachtet er freilich ohne sich dessen bewußt zu derer kam, welcher sehr gut und sehr sanft war. Ich ver- wanderte ich hin und her, ohne sie zu finden. gaß heiße Thränen, als er mir von ihr sprach. Man Ich fühlte und tastete umher, wie ein Blinder, der sein das Weib als ein untergeordnetes, unſelbholte meinen Rath über tausenderlei ein, das sich auf das Be- seinen Weg sucht, ich betastete Steine, Kreuze, eiserne Gitter, ständiges Wesen, deffen natürlicher Vormund der gräbniß bezog. Ich weiß nichts mehr davon. Ich erinnere Kränze aus Glasperlen und Kränze aus verwelkten Blumen. Mann ist. Betrachten wir, um diese Grundanschauung als solche mich jedoch sehr gut an den Sarg und an die Hammer: Ich las die Namen, indem ich meine Finger langsam über schläge, als man sie einnagelte. Ach, mein Gott! die Buchstaben gleiten ließ. Welche Nacht! Welche Nacht! zu erkennen, einige Stellen aus Salters Moralische Neben". In seinem Vortrage Moral für junge Leute" sagt Sie ward begraben! Begraben! Sie! In das schwarz Ich sollte sie also nicht wiederfinden! Kein Mond am unser Moralist: gähnende Loch! Einige wenige Personen, Freundinnen Himmel! Welche Nacht! di waren zum Begräbniß gekommen. Ich machte, daß ich Ich fürchtete mich, fürchtete mich entseßlich in diesen davon kam. Ich stürzte fort. Ich irrte lange durch die engen Fußwegen, zwischen zwei Reihen von Gräbern. Straßen umher. Dann ging ich nach Hause. Am folgen- Gräber! Gräber! Gräber! Nichts als Gräber! Rechts, den Tag unternahm ich eine längere Reise. links, vor mir, um mich, überall Gräber! Ich sant auf eines von ihnen nieder, denn ich konnte nicht mehr gehen, meine Knice drohten unter mir zusammen zu brechen. Ich hörte mein Herz klopfen.
„ Ich bin weit davon entfernt, es für das wahre Ideal zu halten, daß Frauen in eine Brod bringende Beschäftigung gedrängt werden; sie mögen arbeiten, aber sie sollten nicht des Unterhaltes wegen dazu gezwungen sein oder wenn es vorkommt, sollte es eine Ausnahme, nicht die Regel sein. Die Männer sollten den Unterhalt verdienen, die Väter und Söhne und Brüder; und die Frauen sollten das Haus ordnen, verschönen und schmücken, und sich in eine Beschäftigung und Thätigkeit außer dem Hause dann, und nur dann einlassen, wenn ihre Natur sie dazu treibt."
Gestern bin ich nach Paris zurückgekehrt. Als ich mein Zimmer, unser Zimmer, unser Bett, unsere Möbel, das ganze Haus wieder sah, wo alles geblieben war, was von dem Leben eines Wesens nach sei- Und ich hörte auch noch etwas anderes. Was? Ein nem Tode übrig bleibt, ward ich von neuem von einem nicht zu beschreibendes, verworrenes Geräusch. Kam dieses Wie sehr vernachlässigt dieser Gedanke die Berücksichtiso heftigen Kummer ergriffen, daß ich mich beinahe zum Geräusch aus meinem in der undurchdringlichen Nacht bis Fenster hinaus gestürzt hätte. Da ich nicht länger inmitten zum Wahnsinn überreizten Gehirn, kam er aus der geheim- gung der modernen Wirthschaftsverhältnisse!„ Die Männer all dieser Sachen, innerhalb der Mauern bleiben konnte, nißvollen, mit menschlichen Leichnamen besäeten Erde? Ich sollten den Unterhalt verdienen, und die Frauen nur dann welche sie umschlossen, ihr Obdach geboten hatten, und schaute um mich. außer dem Hause arbeiten, wenn ihre Natur sie dazu welche in ihren unsichtbaren Poren sicherlich tausend Atome Wie lange bin ich dort geblieben? Ich weiß es nicht. treibt!" Hätte Salter wenigstens gesagt: Wenn die Noth von ihr, von ihrem Körper, ihrem Athem enthalten mußten, Ich war vor Schrecken gelähmt, ich war vor Entseßen sie dazu treibt! Denn die Erwägung:„ wovon soll ich so eilte ich fort. Als ich auf die Thür zustürzte, mußte trunken, ich war im Begriff zu schreien, zu sterben. leben", nicht die: wozu habe ich Lust und Talent", treibt ich an dem großen Spiegel des Vorzimmers vorüber, der Und plößlich schien es mir, daß sich die Marmor- die Weiber zur außerhäuslichen Arbeit. Nicht jedes Weib