Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

41.

[ Nachdruck verboten.]

Nur eine Kellnerin.

Bon

John Henry Mackay  .

Die Nohheit des Lebens ist so groß, daß wir nur versuchen fönnen, sie wahr zu schildern. Sie war wieder geschlagen worden. Sie haßte die Frau, welche es verstanden hatte, das Andenken an ihre todte Mutter so in ihrem Vater zu ertödten, daß dieser keine Augen mehr dafür hatte, wie sein einziges Kind be­handelt wurde.

Sonnabend, den 12. Oktober 1889.

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III. Jahrgang.

mählich an Alles gewöhnt, was ihre neue Stellung mit Er sah troß der Hiße vergnügt aus, da er in einer sich brachte: an die rohen Scherze, die zwei- oder unzwei- kleinen, heiteren Gesellschaft sehr gut zu Mittag gegessen deutigen Nebensarten der Gäste, die Grobheit des Wirthes hatte. Wer ihn sah, in seinem eleganten Sommeranzug und noch immer war sie dem treu geblieben, was sie und dem weißen Strohhut, der mußte einen angenehmen fich vorgenommen hatte sich mit keinem Manne ein- Eindruck von ihm bekommen. Bei seinen Freunden war 3nlassen. Sie ging am Abend, wenn das Lokal geschlossen er beliebt; allerdings gab es einige Menschen, welche be­wurde, stets allein nach Hause, obwohl sie jeden Abend haupteten, man dürfe in keiner Beziehung große Ansprüche von Neuem alle Klugheit und Festigkeit aufbieten mußte, an ihn machen, weder in bezug auf seinen Kopf, noch auf um den Anträgen, fie nach Hause zu begleiten, und welche sein Herz. Aber diese wenigen hatten eigentlich gar keine oft in ganz gutem und freundlichem Sinne gemacht wurden, Gelegenheit, das oft zu sagen, denn Hans Grüßmeyer ge­zu entgehen. Sie blieb an ihren freien Tagen bei ihrer hörte zu den Menschen, welche es nicht sehr lieben, das alten Wirthin zu Hause und half dieser bei ihrer Wirth- Urtheil anderer herauszufordern, sondern sich am liebsten schaft, theils weil sie sich nicht in das Gewühl der fremden, in allem, was sie thun und sagen, in einer Art vornehmer Als sie am Abend zusammensaßen, erklärte Marl  , großen Stadt allein getraute, und theils, weil sie fühlte, Reserve halten, welcher weder Spott noch Tadel, noch auch daß sie es nicht länger ertragen könne und am nächsten daß sie diese Tage der Ruhe nach den Anstrengungen der besonderes Lob nah zu kommen pflegt. So hatte er denn Tage fortgehen würde. Sie sagte es ruhig und klar, wie vorhergehenden sehr nöthig hatte. Einmal war in das auch bisher einen sicheren, ruhigen Weg zurückgelegt, hatte Etwas, das sie schon lange mit sich herumgetragen, und Restaurant ein Herr gekommen, welcher sichtlich ein tieferes das genoffen, was wir eine gute Erziehung" zu nennen von dem sie sich nun frei mache. Sie sah das Erschrecken Interesse an ihr nahm, und welcher ihr zu ihrem größten gewohnt sind, und sich gerade genug um sein eigenes, und des Vaters, und wie er nicht wagte, etwas zu antworten, Erstaunen nach einigen Wochen einen rellen Heirathsantrag so wenig um das Glück oder Unglück seiner Nebenmenschen bevor nicht die Alte gesprochen. Er hatte nur seine ängst- machte. Sie war zuerst sprachlos gewesen. Aber da zu gekümmert, um ein zufriedener Mensch zu sein. Seine gute wie werden die Erziehung hatte ihm auch eine berechnende Liebenswürdig= lichen, trüben Augen auf sie geheftet. ihren Idealen" auch das gehörte Aber als diese nun anfing mit ihren Vorwürfen und jungen Damen der höheren" Stände darüber lächeln, feit gelehrt, welche ihre Wirkung selten verfehlte, und ihn ihrem Schelten, stand sie auf und ging hinaus auf ihr wenn ihnen ein boshafter Zufall diese Zeilen in die Hände so zu einem sehr geschäßten Theilnehmer an Gesellschaften kleines Zimmer. Es mußte ein Ende gemacht werden! spielen sollte! nicht ohne Liebe zu heirathen, und sie und Bällen machte. Sie fühlte, wie sie an diesem Leben zu Grunde ging, für den seltsamen Menschen keine besondere Zuneigung langsam und sicher, und zwecklos. Und darum wollte sie fühlte, so schlug sie das Anerbieten aus, wenn es ihr auch ein Ende machen, bevor es zu spät war. Sie dachte wohl geschienen hatte, als müsse sie sich hinein flüchten in diese an ihren Vater, aber sie war selbst so elend, daß sie kein sichere Welt, welche sich ihr so unvermuthet aufgethan Mitleid mehr mit dem schwachen Mann fühlen konnte. hatte. Und was würde es ihnen beiden helfen, wenn sie noch Der Mann war traurig aufgestanden und nicht wieder einmal bliebe? Sie würden einige Wochen Ruhe haben, gekommen, Marl   aber hatte schon am nächsten Tage ihre oder auch nur einige Tage, und dann würde es von Fröhlichkeit wieder. Neuem wieder beginnen, dies unerträgliche Leben voll klein­lichem Aerger und voll Lieblosigkeit, und es würde immer schlimmer werden. Sie wußte es, es gab nur einen Ausweg.

Und darum verließ sie am andern Morgen das Haus, in welchem sie ihre ganze Jugend verlebt hatte.

I.

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furz vorher, ehe Und er hatte, was

Als Herr Grüßmeyer unter dem Fenster des Restau­rants vorbeischlenderte, sah er das schlafende Mädchen. Er lächelte leise und ging weiter. Aber als er ein paar hun­dert Schritte weiter gegangen war, war es ihm, als flöge eine jähe Erinnerung an ihm vorüber er mußte jenes Gesicht schon einmal gesehen haben, dieses oder ein ähnliches! Einen gewissen Zug wenn er ihn hätte be­schreiben sollen, es wäre ihm unmöglich gewesen hatte dieses Gesicht mit einem anderen gemein, von dem er längst getrennt war. Es war zwischen zwei und drei Uhr Nachmittags Er ging aber weiter und suchte in seinem Gedächtniß. und mitten im heißen die" müde" Stunde des Tages war es nicht da ge= Sommer. Die beiden Fenster und die Thür der Kneipe Als er noch in die Schule ging waren offen. Aber nur ein feiner, grauer Straßenstaub wesen? Vor der Thür des Eckhauses wurde von den glühenden Wogen der Hiße in das nicht der Weg leicht zu steigen anfing? hohe Zimmer getragen, keine Kühle. Der letzte Früher suchte. In dieser Thür stand jeden Morgen, wenn er schoppengast war endlich gegangen. Die Wirthsleute zur Schule trabte, ein kleines Mädchen. Und Hans Grüßmeyer lächelte wieder behaglich vor schliefen; der Mann war überhaupt noch nicht aus dem Mit der Stunde ihres Austritts aus dem kleinen Bette gekommen. Die zweite Kellnerin, Lenchen, hatte frei, fich hin, indem er an die Naivität und Schüchternheit Kreise ihrer unterdrückten Jugend, und der ihres Ein- Marl war allein. Ihre Arbeit war gethan, und müde seiner ersten Liebe dachte. tritts in eine neue, weite und fremde Welt begann für faß sie am offenen Fenster, die Hände lässig im Schooß. Als er zu Hause war, hatte er alles wieder vergeffen. Marl Braun die Geschichte ihres Lebens. Sie ging nach Sie sah mit großen Augen vor sich hin, denn sie Indessen war an der Wand der Kneipe die Sonne Berlin  . Halb in dem falschen Glauben, es müsse bort wollte wach bletben, um nicht schlafend gefunden zu werden, einen Streifen höher gerüdt. Marl   schlief noch immer. wo so viele Menschen seien leicht sein, sein Brod zu wenn etwa ein Gast tommen sollte. Sie dachte daran, Ihr Gesicht lag in halbem Schatten. Es war kein schönes verdienen; halb in der Hoffnung, dort völlig allem ent- ob heute Abend wohl Studenten kommen würden, denn Gesicht. Man sagt, jedes Mädchen von siebzehn Jahren ronnen zu sein, was ihre Jugend sie haffen gelehrt hatte. Diese gaben immer ein Trinkgeld. Sie war auf Trink- sei schön; die Jugend mache in diesem Alter auch das un­Sie wurde Kellnerin in einem kleinen Lokal im Osten gelder angewiesen. Der heutige Morgen war ein schlechter scheinbarste schön. Aber Marl   war nie jung gewesen. Die Berlins  , in einem jener Stadttheile, in welche sich jene gewesen. Es waren zwar viele Gäste zu bedienen, aber Härte des Lebens hatte den zarten Duft der Jugend von Maffen der Menschen in hohe, dunkle Häuser zusammen- keiner hatte an das Trinkgeld gedacht. das Trinkgeld gedacht. Sie rechnete. ihr abgestreift und unverwischbare, wenn auch ganz feine drängen, welche eben genug zum Leben haben, welche Aber plößlich fiel ihr der unangenehme Bierdunst auf, Spuren in ihr junges Gesicht gezogen. Aber sie wurde morgen verzehren, was sie heute verdient haben: kleine der in dem Zimmer Herrschte. Sie empfand wieder das- fast schön, zum mindesten interessant und eigenartig hübsch, Beamtenfamilien, schlecht fituirte Kaufleute, Handwerker. selbe Gefühl des Widerwillens, welches sie befallen hatte, wenn sie sprach, besonders wenn ihr Humor durchbrach. Im Winter liegen diese Straßen beständig in dem als sie am ersten Tage hier war, welches aber seitdem von Sie hatte einen schönen Kopf und prachtvolle, schwarze eintönigen, grauen Zwielicht, welches sich auf die Gefichter der täglichen Gewohnheit völlig erstickt war. Sie wollte Haare, aber ihre Stirn war niedrig. Ihr graues Auge all ihrer Bewohner gelagert hat, und diese so krank und aufstehen. Aber sie war so müde in den Füßen, daß war flug und in den Grübchen ihrer Wangen saß der farblos erscheinen läßt. Aber auch im Frühling hat es fie sißen blieb. Schalk, aber ihr Mund lockte nicht zum Küssen, trop der etwas Beängstigendes, die hellen, breiten Fluthen des Sie ließ ihren Blick auf der Wand haften, auf deren selten schönen Zähne. Sie war ausgelassen, aber zu flug, Sonnenlichtes an den einförmigen, endlosen Häuserreihen einer Hälfte grell und brennend der Sonnenschein lag, und um leidenschaftlich sein zu können; im Herzen ein Kind an entlang gleiten zu sehen, über das ewig- schmutzige Pflaster, sah, wie abscheulich schmuzig die Tapete war. Dann blickte Unerfahrenheit und Reinheit und in ihren Gedanken und an den blinden Scheiben hinauf. Kein Baum, kein sie weiter in das Zimmer, und alles kam ihr gemeiner doch meist eine sichere Beurtheilerin von Menschen und Vogel; nur immer die gleiche dumpfe, erstickende Luft. und häßlicher vor die gelbraunen Tische, die gewöhn- Dingen. Doch wenn sie fehlgriff, dann war sie blind in An den Sonntagen fliehen die Menschen dann wohl hinaus, lichen Bilder an der Wand, der mit Zigarrenasche und ihrem Vertrauen. Und sie griff ein einziges mal fehl.. aber nur um bedrückter und freudloser zurückzukehren zu halbverbrannten Streichhölzern besäte Fußboden, und es Sie hatte keine Phantasie und darum keine große ihrem kleinlichen, endlosen Tagewerk. Selten erhebt Einer war ihr wieder, als müsse sie aufstehen und hinausgehen Sehnsucht nach der Welt, von der sie bisher noch nichts die Blicke über die Dächer hinauf, wo ein karges Stück aus diesem elenden Leben. gesehen hatte als kleinliche Menschen und enge Wände. Himmel leuchtet. Aber sie blieb wieder sitzen. Es war ihr traurig zu Aber ihre Jugend begann, troßdem sie nicht sinnlich war, In einer dieser Straßen lag die Kneipe, in welcher Muthe. Sie dachte seit den ersten Tagen in ihrer neuen ihr Recht zu fordern. Je öfter jedoch ein geheimes Wün­Marl Kellnerin wurde. Sie hatte keine andere Stellung Stellung in dem letzten Vierteljahr zum ersten Mal wieder schen in ihr die Flügel regte, desto härter suchte sie gegen finden könnnen. So hatte sie sich von der Noth in diese über sich nach. Und Alles war ihr zuwider, woran sie sich selbst zu werden. Denn ihre einzige Waffe wahr ihr hineintreiben lassen. Sie fühlte sich in den ersten Tagen benken mußte. Stolz. Und sie war stolz auf ihre sittliche Stärke und die sehr fremd in ihrer neuen Umgebung. Aber sie war Wenn nur ein Gast käme- Festigkeit ihres Willens, wie es nur eine Natur werden nicht umsonst eine Süddeutsche. Ihr leichter Sinn half Aber selbst auf der Straße war es fast leer. Nur kann, welche eine ganze, lange Jugend unterdrückt war. ihr immer wieder über die Stunden hinweg, in welchen zuweilen ging jemand langsam und müde unter dem Fenster Dieser Stolz ließ sie nicht erröthen, wenn sie die ge= fie nur mit Mühe ihre Thränen zurückhalten konnte. vorbei, starr vor sich sehend, in der unerträglichen Gluth. meinen Redensarten um sich herum hörte, wenn ihr Worte Sie war sehr unerfahren. Von den Männern dachte sie Sie wollte nicht schlafen. Aber sie hatte ihren Vorsatz in's Ohr geflüstert wurden, welche sie nur halb verstand. sehr gering. Die Meisten, so glaubte fie, seien sehr schlecht, schon vergessen, und als sie ihre Augen schloß nur Denn sie fühlte, wie sie über denen stand, welche nach ihr und auf nichts Anderes bedacht, als ein junges Mädchen einen Augenblick übermannte sie plößlich die Müdigkeit greifen wollten mit schmußigen Händen. So blieb sie zu hintergehen und zu Fall zu bringen. Sie mochte darin und sie schlief ein. Ihr Kopf neigte sich nach hinten und auch nicht so ganz Unrecht haben. Jedenfalls konnte ihr fiel leicht gegen den Fensterrahmen. diese Ansicht bei ihrer neuen Stellung nicht schaden. In dem Raum war alles still; nur die Fliegen trieben Schlimm war aber, daß sie sich einbildete, einige Männer leise schwirrend ihr unverdroffenes Spiel.

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Kellnerin.

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An die Zukunft dachte sie nie, so wenig mehr wie an ihre Vergangenheit.

Als die Sonne in höchster Gluth stand, erwachte Marl  . ganz wenige nur! seien dagegen sehr edel und gut, Um dieselbe Stunde ging der Referendar Hans Grüß Ihr erstes Gefühl war Aerger darüber, daß sie nun doch und ganz anders, wie alle die anderen. Es hatte davon meyer durch die Straße. Er hatte in der Ostgegend der eingeschlafen war, und ihr zweites Freude, daß es nie­so etwas in den wenigen Büchern gestanden, welche fie Stadt am Morgen einen Besuch gemacht, und war auf mand gemerkt hatte. gelesen hatte. Im Uebrigen aber war Marl   ein sehr dem Wege nach Hause. Da er nie in dieser Gegend ge= Sie stand langsam auf und ging zwischen den Tischen fluges und vernünftiges Mädchen, und gab sich selten un- wesen war, hatte er keinen Wagen genommen und schlen- umher, indem sie fich besann, was sie geträumt hatte. Aber klaren Träumen hin. Sie hatte wenig gelernt, und ihr berte langsam die Straßen hinunter, dem Westen zu, wo es wollte ihr nicht wieder einfallen. Dann stellte sie sich Gesichtskreis war eng und beschränkt. Aber sie hatte er wohnte, indem er neugierig hierhin und dorthin sah, vor den Spiegel und ordnete ihr Haar. In der Art, wie etwas Festes und Bestimmtes in ihrem ganzen Wesen, und und fand, daß die Straßen alle gleich langweilig und öde sie das that, lag wenig Eitelkeit. Da fie glaubte, es von Natur aus ein ziemlich richtiges Gefühl für Menschen waren. Hans Grüßmeyer hatte vor ein paar Tagen sein tämen Schritte die Treppe herauf, trat sie zurück und sah und Dinge, und meist auch ein treffendes Urtheil. Referendar- Examen gemacht, und wollte sich nun noch ein nach der Thür hin. Aber es war nur ein Bewohner der paar Wochen in der Hauptstadt, in welcher er ein Jahr oberen Stockwerke, welcher vorbeiging. Sie setzte sich an Drei Monate war Marl Braun nun schon Kellnerin gewesen war ,,, amüsiren", bevor er nach Hause reifte, um einen der Tische und stüßte den Kopf in die Hände. Plötz­in der Kneipe im Osten Berlins   und sie hatte sich all- dort seine neue Würde zu bethätigen. lich überkam sie das Gefühl der Verlassenheit mit solcher