Gin Rückblick auf den großen Streik. Von John BnrnS-London  . n. D er Charakter der Dockarbeiter. Es ist jetzt einige sechs Jahre her, seit John Williams, ich selbst und andere den Kreuzzug unter den Dockarbeitern be- gannen. Einen Kreuzzug in der Dämmerung möchte ich ihn nennen; denn wir hielten unsere Ansprachen unter den Leuten in den Morgenstunden, bevor ihre Arbeit und die unsrige begonnen hatte. Ich selbst verließ häufig zusammen mit meiner Frau mein Haus um drei und vier Uhr mor- gens, im Winter wie im Sommer, wanderte nach den Docks, hielt Reden an drei verschiedenen Thoren und kehrte dann zurück, um im Westend um sieben oder acht Uhr mein Tagewerk zu beginnen. Ich habe dieses Wochen und Mo- nate hintereinander gethan, und zwar in Zwischenräumen in den Jahren 1884, 1885 und 1886. Auf diese Weise lernte ich die Leute genau kennen und sie mich. Einige von ihnen waren zusammen mit mir in die Schule gegangen, andere hatten unter mir in den Docks gearbeitet denn auch ich war dort thätig in meiner Eigenschaft als Maschinenbauer. Wir, die wir so offen agitirten und Mißvergnügen in diesem unbeachteten Winkel der Welt der Arbeit verbreiteten, lernten gründlich die ganze ökonomische und soziale Lage der verschiedenen Klaffen von Dockarbeitern kennen, sahen wie erbärmlich sie war, und machten uns ernstlich daran, die Leute zur Em- pörung gegen ihr Loos zu bringen. Daß uns das auch schließlich gelang, meine ich, spricht ebenso sehr für die Sinnesart der Leute selbst, als für die entschloffenen und beharrlichen Anstrengungen derjenigen, welche den Kreuzzug, nachdem sie ihn einmal in's Leben gerufen hatten, beständig, sicher und widerstandslos im Vorwärtsgehen hielten. Wenn das Material, mit dem wir zu arbeiten hatten, das Material gewesen wäre, aus dem man früher die Dockarbeiter zusammengesetzt glaubte, so hätten wir uns auf die Fäffer aller Docklhore nachein- ander stellen und uns die Zunge aus dem Halse heraus- reden können es würde nicht zu einem Streik gekommen sein. Weder mir noch irgend einem anderen Apostel der Unzuftiedenheit war der Streik haupffächlich zu verdanken. Er war mehr als allem anderen der Thatsache die jetzt der ganzen Welt bekannt ist zu verdanken, daß der Dockarbeiter ein Mensch ist, der von der Kreatur, wie sie ehedem in der allgemeinen Einbildung lebte, von Grund aus verschieden ist.Die verlorene Hoffnung der Armee der Arbeit" war er immer, aber weder entartet, noch ein Bummler. Nein, es waren keine Vagabunden, mit denen wir es zu thun hatten. Der Vagabund ist eines Streikes nicht fähig. Es wäre eine Narrenmission, dem Aufruhr zu predigen. Es ist die Sache der Priester Baals, das Feuer vom Himmel herab beschwören zu wollen, und Don Quixote�s, aus Sancho Panso einen fahrenden Ritter zu machen zu suchen. Die Kohlen, auf die wir bliesen, waren Arbeiter; niedergedrückte, zu Boden getretene zwar, aber immerhin Arbeiter, in denen noch der Trieb wohnte, für ihr tägliches Brot zu kämpfen und zu streiten. Meint ihr, der professionsmäßigeBummler" wäre willens, Stunden lang unter den Dockthoren in der eisigen Finsterniß eines Dezembermorgens zusammenzuschauern für die Möglichkeit, einen Schilling für Arbeit zu ernten, Arbeit, die ebenso viel Muskel- als Willenskrast erfordert? Ich habe Dock-Hände" sich den Zugang zu den Dockthoren erkämpfen sehen, wie Menschen, die sich in den Gängen eines brennenden Theaters drängten: einer solchen ge- waltigen physischen Energie der moralischen Aufraffung gar nicht zu gedenken ist der chronische Bummler, selbst wenn er sie entfalten wollte, durchaus unfähig. Ferner würde ein Streik von herumlungernden Loafers'), wäre er überhaupt denkbar, nicht in so wohl- disziplinirter und würdiger Weise geführt worden sein, wie es bei diesem geschehen ist. Hunderttausend Bummler würden nicht im Streik die Straßen durchzogen haben, ohne mit der Polizei in Konflikt zu gerathen und noch weniger zu stehlen, als selbst Garibaldi's rothe Blusen auf ihrem Marsche durch Kalabrien   auf Neapel  . Wenn es draußen Trubel giebt, so ist es sozusagen die Pflicht des Loafers, ihn noch schlimmer zu machen; denn in dieser Richtung liegt sein Gewinn. Der ehrliche Arbeiter weiß bei einer solchen Krisis, welche Zurückhaltung er sich zum besten seiner Klaffe auferlegen muß. Und wir wußten wohl, daß es der ehrliche Arbeiter war, mit dem wir unsere Rechnung in der Bewegung zu machen hatten. Durch die Einsicht, daß die rettungslos vom Zufall abhängige Natur ihrer Beschäftigung den Durchschnittsmaßstab ihrer Bezahlung zu einem äußerst unverhältnißmäßigen machte, wurde es uns auch klar, daß in dem organisirten Vorgehen die einzige Hoffnung auf Befferung der Löhne lag. Dies war der Punkt, auf den wir immer wieder, bei jeder Gelegenheit hinwiesen.
Der Beginn des Streiks. Zu jener Zeit und früher schon war ich vollauf be­schäftigt in der wachsenden Bewegung der Arbeitslosen im ganzen Ostend von London  . Obwohl dreizehn Stunden pro Tag für mein eigen Brot und Käse bei Brotherhood in Westminster arbeitend, fand ich dennoch Zeit etwas für die sozialistische Propa­ganda zu thun und bildete oder half bilden einige neue Trades-Unions in verschiedenen Theilen von London  . Die letzte und wichtigste derselben war die Gasfabrik- ') Sprich Lohfers; dies der ständige engl. Ausdruck.
arbeiier-Trade-Union'), welche jetzt 11 OOO Mann zählt und der es innerhalb der letzten vier Monate gelungen ist, einen noch etwas befferen Lohn für einen Achtstundentag zu bekommen, als sie vorher für einen Arbeitstag von zwölf und dreizehn Stunden empfangen halten. Diese Epi- sode der neuen Gewerkschaften ist eine nothwendige Be- merkung in meiner Darlegung, denn sie führt auf den Docker-Streik. Viele der Versammlungen der Gasarbeiter-Union wur­den im Eastend in der Nähe der Docks abgehalten. Die Docker kamen in Menge, und Mr. Mann, Mr. Champion und ich sprachen vor lausenden von ihnen. Sie faßten den Geist, den wir ihnen mitzutheilen suchten, und als die Gasarbeiter ihren Sieg errungen hatten, wurden die Dockarbeiter ihrerseits lebendig. Es war mit einem Worte dieser Sieg, welcher den Streik der Dockarbeiter veranlaßte. Eine alte und erfahrene Dock-Hand" Namens Harris forderte mich auf, eine dauernde Dockarbeitcr-Union zu bilden. Ich willigte ein und hielt ein Meeting von 2000 Mann ab, bei welchem viele sich als Mitglieder ein- tragen ließen. Dies waren Leute, die sich geweigert hatten, sich der alten Dockarbeiter-Union anzuschließen, welche aus verschiedenen Gründe ausgehört hatte, ihres Namens würdig zu sein. Aber die Bildung der neuen Union   trieb die alte zu einer Thätigkeit an, welche sie nie zuvor ent- faltet hatte; und von dieser ungewöhnlichen Thätigkeit war die unmittelbare Folge der Streik im Süd-Dock am 13. August Einige 300 Mann legten die Arbeit nieder, da sie nicht länger für 5 Pence(40 Pf.) die Stunde ar- beiten wollten. Am Mittwoch, den 14. August ging Mr. Mann hin­unter, auf die telegraphische Aufforderung hin, eine An- spräche zu halten. Am folgenden Tage stellte ich mich selbst zur Hilfeleistung an den West-Jndia-Docks ein. Die Unzufriedenheit gährte; ich sprach zu den Leuten und fand sie eifrig und empfänglich. Das Ziel, nach dem wir gestrebt hatten, kam in Sicht. Einige der Stevedores waren un­schlüssig, ob sie herauskommen sollten oder nicht und sprachen sich dahin aus. Ich trat ihnen heftig entgegen, und die wenigstens 4000 Mann starke Versammlung unter- stützte mich. Die Stevedores gaben nach: sie wollten her- auskommen, sagten sie, und sie kamen. Bon dem Augen- blick an stand die ganze Masse der Stevedores zu uns durch Dick und Dünn und bildete unsere standhaftesten Helfer. Dieses Meeting von 4000 Dockarbeitern sehe ich als den wirklichen Beginn des Streikes an. Die Idee desselben war herumgekommen; sie bildete das allgemeine Gespräch; sie hattegepackt"; sie hatte den Sinn der Docker in Besitz genommen. Das war etwas; denn der Docker dünkte sich bis dahin einsam und verlassen in dem Osten. Der Be- griff der Vereinigung die in allen kommenden Tagen das Losungswort der Arbeit sein muß war ihnen schwer beizubringen gewesen. Es ist dies eine Idee, die immer Leuten schwer einzuflößen war, die, obwohl daran gewöhnt, das Almosen des Kapitals hinzunehmen, sich dennoch scheuten, sich die Frage zu stellen, ob das alles sei, was sie zu beanspruchen hatten. Doch wir hatten sie jetzt warm gemacht, und sie wußten, daß alles von der Frage des gemeinsamen Handelns abhing. Diese lieber- zeugung war weit zu verbreiten; sie mußte allen von ihnen geläufig gemacht werden; und am Donnerstag, Frei- tag und Sonnabeud, den 15., 16. und 17. August, sprach ich 36 mal außerhalb der Werften, Docks und Speicher. Mr. Mann, Mr. Tillett und Mr. Champion thaten eben- soviel. Wir legten Feuer an jede Ecke des Gebäudes auf den Mauern sitzend oder auf dem Rücken der Zäune stehend. DieSaturday Review" übrigens that uns etwas Unrecht mit ihrer Anspielung auf die stereotypeTonne". Ich würde oft eine Tonne willkommen geheißen haben, wäre eine Tonne immer zur Hand gewesen; aber nicht eine Tonne wurde den Streik hindurch gebraucht. Man rollte uns nicht einmal ein Fäßchen aus den Docks her- aus. Der Streik war von Anfang bis zu Ende voll von Ueberraschungen für mich; und er ist soweit ich mich erinnere die erste Erhebung ihrer Art, die stch der legendenhaftenTribüne" des Demagogen entschlagen hat. Nach zweitägiger Dauer des Streiks nahmen es die Stevedore auf sich, die Leute zu ordnen und zn organisiren; kein leichtes Unternehmen, denn Rekruten strömten jede Stunde zu fünfzig und zu Hunderten ein. In kurzer Zeit bildeten die Stevedores und die Docker nichts weiter als Einheiten in der Masse der Streiker. Die Kohlenträger kamen heraus, die Ewerführer drängten hinterdrein; ein Gewerbe rief das andere heraus, wir hatten zu einer Zeit 100000 Mann im Streik. *** Die Versorgung der Streikenden und ihre Schwierig- leiten. Die Mühe, die damit den Führern auferlegt war, ist kam zu begreifen. Die ökonomischen Fragen schienen in ein Nichts zu- sammenzuschrumpfen im Vergleich zu der Frage des Kriegs- vorraths. Wir hatten an jedem Tag in der Woche für 250 000 Mägen Nahrung zu finden. Wir bil- deten Komitees; und diese Komitees wie die Unterstützungs- Komitees hatten Tag und Nacht hindurch zu sitzen. Nicht eine Stunde von den vierundzwanzig gab es, wo nicht zwei oder mehr Vertreter des Zentralstreikkomitees auf ihrem Posten zu finden waren. Wenn ich auf die Straße ging, so machte der Hunger seinen stillen Appell an mich bei jeder Wendung. Es ist
Vergl. Nr. 32 derVolks-Tribune".
dies das Traurige bei jedem Streik. Es giebt Augen- blicke, wo man sich fragt, ob es wirlich der Mühe werth ist ob es nicht besser wäre, den Arbeiter sich selbst zu überlassen, um sein gewohntes Al- mosen zu empfangen und es von Tag zu Tag zu verlängern, wie er bisher zu thun pflegte. Das ist ein närrisches Gefühl, welches jedoch durch eine halbe Stunde nüchterner Ueberlegung zerstreut wird. Jeder Glaube muß seine Märtyrer haben, jeder Sieg seine Erschlagenen. Die Fähigkeit der Selbstaufopferung ist der Stein der Weisen, nach dem jeder Agitator sucht. Er ist machtlos, bevor er ihn findet; findet er ihn, so braucht er nichts weiter zu verlangen. Die Macht der Selbstopferung war das große Zeichen des Dockerstreiks. Sie war ein so gewaltiger Hebel, wie ich ihn nie zuvor in der Hand gehabt hatte, bei irgend einem Streik, an dem ich mitgeholfen. Wenn ich die Hungcrfrage hätte los werden können, so wäre es mir leichter geworden, da ich wußte, daß ich mit Menschen zu thun hatte, die gewachsen waren, das Aeußerste zu er- tragen. Aber gerade die Willigkeit der Männer und ihrer Weiber, sich nichts aus dem Nagen des Hungers zu machen(als vielleicht den endgiltigen Prüfstein ihres Opfer- muths), spornte uns an, unser Bestes zu versuchen, um sie bei täglichem Brot zu erhalten. Wir sandten unsere Auf- rufe aus, keinen zu vertrauensvoll im Anfang, aber mit immer wachsendem Vertrauen, wie die Tage kamen und gingen. Ich selbst war erstaunt über das Einströmen von öffentlichem Geld. Nie vorher zog ein Ausruf von Strei- kenden solche beständige und kräftige Hilfe nach sich. Wir suchten und fanden buchstäblich. Es schien, als ob wir nur in dürren Worten zu sagen brauchten, daß wir die Kassierer der Dockarbeiter seien, und das Geld, das wir verlangten, kam ein. Wäre es ein Aufruf des Mansion House gewesen für die Opfer irgend eines plötzlichen großen Unglücks im In- oder Auslande, er hätte nicht mit ver- schwenderischerer Großmuth beantwortet werden können. Australiens   Beitrag von 25000 Pfund('/% Mill. Mark) ist bekannt. In England überschütterte eine Union   nach der anderen uns mit Checks; jeder Check war begleitet von der Versicherung, daß die Beiträge nicht stocken würden, ob der Streit nun Wochen oder Monate dauerte. Die Setzer sandten uns 500 Pfund(10 000 Mark), die Ma­schinenbauer 700 Pfund(14 000 Mark). Als nun der Streik selbst vorwärts ging, hatten wir die schwierige Aufgabe zu bewältigen, die Unterstützungen zu verrheilen. Wir hatten für eine Volksmaffe jeden Tag Nahrung zu sinden. Auf welchem Prinzip sollte unsere Proviant- licferung errichtet werden? Wir setzten uns mir den Ladenbesitzern des Ostends ins Einvernehmen und gaben Bons aus, die ihnen vor- zuzeigen waren. Dieses Bon-System setzte allen möglichen Mißbräuchen unseres allgemeinen Unterstützungsplans ein unmittelbares Hinderniß entgegen. Indem wir uns wei- gerten, Geld auszugeben, sicherten wir die Leute gegen Trunkenheit und alle die schlimmen Folgen, die daraus entstehen; Folgen, die schon mehr als einen Streik rui- nirten. Dies ist der nüchternste" Streik gewesen, dessen ich mich entsinne. Von Anfang bis zu Ende hat mich kein einziger Mann um Geld für Bier gebeten. Der Miß- brauch der Unterstützungen war kaum möglich unter dem System, das wir einführten, ein System, aus dessen Auf- rechterhaltung wir vom Ersten bis zum Letzten bestanden. Daß wir im Stande waren, unsere Absichten in be, zug aus diesen besonderen Punkt auszuführen, ist etwas, das uns zur Ehre gereicht, noch viel mehr aber den Männern, die wir an der Hand hatten.
Der Kohlenstreik und die AKtienKesttzer. Das Kapital, ob agrarisch-konservativ oder industriell- nationalliberal, ist in der modernen Wirlhschaftsordnung allmächtig. Aus allem, sogar aus den Angriffen gegen das Kapital, weiß es Nutzen ftir sich zu ziehen. Was haben z. B. die westfälischen Bergarbeiter, als sie sich mit Heldenmuth gegen ihre Widersacher erhoben, gewonnen? Nichts, oder so gut wie nichts. Was aber hat das Kapital dabei gewonnen? Berge von Gold. Der durch den Streik verursachte Kohlenmangel gab den Anstoß zur Erhöhung der Kohlenpreise und dieser Anstoß dauert noch immer fort. Mit den Preisen steigen natürlich die Dividenden der Aktiengesellschaften und mit diesen wieder der Aktienkurs. Seit Milte 1888 etwa ist in das schlaffe wirthschaft- liche Leben em etwas lebhafterer Zug hineingekommen. Der Absatz im Großbetriebe hat sich wesentlich gehoben, die Produktion dehnt ihre Riesenglieder wieder einmal mächtig aus, immer neue Wcrlhe schaffend, bis der Markt übersälllgt sein wird und die Absatzkrise der kurzen Herr- lichkeit ein jähes Ende bereitet. Von der Vermehrung der Nachfrage profitirten nun die Kohlen am meisten, und seit dem großen Streck haben die Preistteibereien gerade bei diesem Artikel unerhörte Dimensionen angenommen. Wie günstig aber auch der Arbeiterausstand auf den Kohlenwerth eingewirkt hat, es ist sonnenklar daß der Preis welcher heutzutage aus der Börse für Kohlenaktien gezahlt wird, em kollossal übertriebener ist; und manche Blätter machen auch schon lange darauf aufmerksam. Kein Vernunfllger zweifelt daß die Papiere, welche in wenigen Monaten 50 pCt. oder noch höher gestiegen sind, einen eben so ttesen Preissturz zu erwarten haben, einen Preis- stürz der massenhafte Bankerotte, Heulen und Zähneklappern an der Börse hervorrufen wird. Man weiß das. aber in der heutigen vortrefflichen" Wirthschastsordnung glaubt