StiUait M Herlmer Uolks Trit»üne.J\1 12. Sonnabend, den 22. März 1890. IV. Jahrgang.Wierter Klasse.Es rollt und rüttelt und dröhnt und stampftUnd klirrt und rasselt und schnaubt und dampft;An kreisenden Feldern vorüber im FlugDurch Pommerns Ebne saust der Zug.Ich schaue und schaue und weiß es kaum;Ich lausche nur immer in stolzem Traum,Wie donnernd um Axe und Axe kreistIn Form gegossen der Menschcngeist...Da schreit ein Kindchen neben mir,Der Traum entweicht, es bangt mich schier;Das Weinen klang so wch, so lind—So zart, so mager ist das Kind.Im Wagen trüb die Dämmrung graut,Das Gaslicht fahle Schatten braut;Aus rothgewürfeltem Bettchen stichtSo blaß heraus das kleine Gesicht.Von Kisten und Kasten eingeengt,Von Säcken und Packen eingezwängtBringt schaukelnd die Mutter ihr Kind zur Ruh'Und summt ein Wiegenlied dazu.Und rings umher ein müd GeschwirrGebrochener Laute, rauh und wirr,Und Mienen knochig, derb und stumpf,Und Menschendünste dick und dumpf.Zusamnicngehockt mit zagem Much,Mit ihrem letzten dürftigen Gut,Aus Posen und Preußen sitzen sie daUnd wollen nach Amerika.Nur wenn das Wörtchen„Drüben" fällt,Ein Hoffnungsschein ihr Auge hellt;Und alle athmen tiefer dann,Und alle sehn sich nickend an.Doch durch ihr Seufzen, ihr murrend Gestöhn,Durch Rädergescholler und EisengetönWie Ew'ger Hoffnung Stimme ziehtDer Mutter leises Wiegenlied.O heil'ger Stall von Bechlehen!Dein Wunder ist noch heut zu sehn,Wenn arm und schwach ein Weib beglücktIhr Kind an's bange Herze drückt!—Nun schläft's, nun deckt sie's ein recht warmUnd legt's behutsam aus dem ArmUnd schmiegt an ihren Mann sich dichtUnd schaut ihm liebreich in's Gesicht.Und Er versteht den MutterblickVoll Sorge, Furcht und Mißgeschick,Und mit der starken SchwielenhandZeigt er hinaus ins finstre Land:„Sei ruhig, Marie! Du wirst schon sehn,Da drüben wird alles anders gehn;Da schaff ich uns eigen Feld und Vieh,Da ist's genug, wenn Ich mich müh'.„Du kannst dich ruhen manche Stund',Ihr werdet Beide wieder gesund;Und unser Kind hat, wenn es groß,Im neuen Land ein besser Loos!"Und Sorge, Furcht und MißgeschickZerschmelzen in dem einen Blick,Mit dem sich diese BauernseelenVon ihrem Kinde stumm erzählen...Es rollt und rüttelt und stampft und stauchtUnd dröhnt und rasselt und schnaubt und faucht;Durchs wirbelnde Dunkel in rasendem FlugSaust weiter und weiter der jagende Zug.Ich horche und horche und weiß es kaum;Ich träume einen gläub'gen Traum,Wie hoffend und liebend aufwärts kreistZu neuen Formen der Menschengeist....Im Wagen schweigend schwebt die Nacht,Der Schlaf schwingt seine Spindel sacht;Die Bäurin auch ist eingenickt,Aufs Knie des Mannes hingebückt.Der sitzt noch wach mit mir allein;Wir gucken uns still in die Augen hinein,Bis bald von der Zunge ein Wörtchen sich drehtUnd hin und her das Flüstern geht.Und Er erklärt mir, wie es kam,Daß sie verkauften ihren KramUnd dem Agenten sich verdingt,Der nun sie in den Urwald bringt.Es war kein neues Wort dabei,Es war die alte LitaneiVon saurem Schweiß und Hungerlohn,An der nur neu des Jammers Ton!—Und wie dann gar noch Weib und KindIhm schwach und krank geworden sind,Da hätten sie endlich das Schwerste gewagt,Dem Dörfchen Lebewohl gesagt.„Und hat Sie auch zuerst geweint,So hat sie doch zuletzt gemeint:Fällt's Uns auch schwer, wenn nur das KindEin besser Loos als wir gewinnt!"So schwinden Stationen im Fluge vorbeiUnd Glockensignale und Kellnergeschrei,Und bleicher tanzen die Lichter schon:Der Morgen steigt auf seinen Thron.�Nachdruck verbotell-lUnd um uns her bewegt es sichUnd reckt und dehnt uns regt es sich,Und langsam werden alle wachUnd blinzeln in den jungen Tag.Ein Tag von jenen, glanzgeküßt,An denen jeder Halm uns grüßtUnd jeder Sonnenstrahl daS HerzZum Lachen zwingt trotz Roth und Schmerz.Die Fenster nieder! schallt's im Chor,Und alle drängen sich freudig vorUnd zeigen hinaus, wo stromumblinktMit Thürmen und Masten Hamburg winkt.Die Mutter aber stillbewegtIhr Kindchen an die Brust sich legtUnd nimmt das Tuch ihm vom GesichtUnd-- Himmel! was stiert sie und küßt es nicht?Was stiert und stiert sie, daß mir graut?Da winselt leis ein Klagelaut,Da liegt's im Schooß ihr starr und tot.Der Vater, der stammelt: Barmherziger Gott!—Im Wagen plötzlich wird es stumm,Die Bauern sehen scheu sich um,Manch blödes Auge schwimmt und flimmert.Mein Kind, mein Kind! die Mutter wimmert...Es kreischt die Maschine, es stockt der Lauf;Die Schaffner reißen die Thüren auf.Ich stehe im hallenden Bahnhofsraum,Da braust das Leben, es gilt kein Traum;Es gilt, daß man sich's ganz gesteh',Wie Unbekümmert um Glück und WehIn ewig Eigenen Bahnen kreistSchaffend und formend der Menschengeist I_ Richard Dchmel.lNachdiuck verboten.!Gri Armen.Von John-Henry Mackay.Viele Tage find darüber hingegangen. Aber unver-ändert stehen noch die mit ihm gemeinsam durchlebtenStunden vor mir. Und er selbst— sein seltsames Lebenund seine Liebe. So stark war der Eindruck seiner Per-sönlichteit, dag alles andere jener Zeit spurlos in meinerErinnerung zusammengesunken ist. Bielleicht hat siedarum desto klarer festgehalten, was ich erzähle.i.Das zersetzende, ruhelose Leben Berlins hatte michmit seiner ganzen Gewalt ergriffen. Es zog mich fastallabendlich aus meinmi Zimmer und hinunter in dasGewühl der Menschen. Und ich ließ mich gern zuweilenwillenlos von ihm treiben.An einem naßkalten Herbstabend schlenderte ich wiedereinmal die lange Friedrichstraße in der Richtung vonSüden nach Norden hinaus. Ueber den hohen Dächernlag ein dichter, feuchter Nebeldunst, der sich träge immermehr und mehr senkte. Das Gas brannte trübe. DieMenschenmaffen schoben sich noch schneller wie gewöhnlichdie lange Straßcnflucht hinauf und hinunter; nur seltenblieb einer vor dem trüb angelaufenen Schaufenster einesLadens stehen. Ich ging ziemlich schnell über die Weiden-dammer Brücke, kreuzte die Elsasserstraße und bog dannin eine der nächsten Querstraßen ein, um einen Augenblickstehen bleiben und überlegen zu können, wohin eigentlichbei dem immer unangenehmer sich bemerkbar machendenNebel.Da fiel mir an der gegenüberliegenden Straßenseiteein rothgrünes Licht, gleichsam meinen Wünschen entgegen-kommend, in die Augen. Irgend ein Restaurant wahr-scheinlich, in dem ich jedenfalls besser meine Pläne machenkonnte, als hier ans dem nassen Pflaster. Ich ging schnellhinüber und trat ein.Ich hatte mich geirrt. Es war eins der zahlreichenCafe cbantants, welche zu den unentbehrlichen Errungenschaften des modernen Berlin zu gehören scheinen. RohesGelächter, lautes Singen, erstickender Tabaksqnalm schlugenmir entgegen. Ich setzt: mich schnell an einen der vorderenTische, wo ich noch einen freien Platz bemerkte; der Stuhlstand in einer Pfeilerecke, von der aus ich ungestört dasganze, ziemlich große Lokal übersehen konnte. Eine abge-blühte Kellnerin brachte mir Bier. Auf einer Art Bühnevor mir saßen etwa sechs Frauenzimmer in geschmacklosen,überladenen Toiletten, mit nackten Armen imd Büsten.Die eine von ihnen halle eben gesungen und trat nunzurück. Der Lärm, der sich erhob, wurde beängstigend.Das Publikum klatschte, scharrte mit den Füßen, stießmit Stöcken taklmäßig aus den Boden und schrie undbrüllte in allen Tonlagen Beifall. Der Klavierspielermußte von neuem beginnen, die Sängerin das Lied wiederholen. Sie leierte ohne jede Stimme ein bekanntes Liedaus einer modernen Posse niedrigster Art, welche geradeim Centrallheater zum so und so vielsten Male gegebenwurde, ab.Gelangweilt sab ich weg. Mein Blick begegnete fastnur den abgestumpften Zügen von„Kennern", den brutalenvon Studenten, den halb vcrbl-vss-en, halb neugierigeneiniger Fremden, die sich hierher verirrt hatten, und densinnlich-iüsterncn einiger alternder Rones— immer wiederkehrende Typen, von denen mir die letzteren am verhaß-testen waren.Da wurden meine Augen plötzlich von den Zügendes Klavierspielers festgehalten.Es war wieder eine Pause eingetreten. Er hatte sichaus seinenl Stuhle umgedreht, um die Anwesenden zumustern. Scharfe, durchlebte Züge. Aus dunklen Augensah ein kalter, beobachtender Blick fest auf den einen oderandern. Was mich fesselte, war ein Ausdruck tief ge-sättigter Verachtung, welcher in diesen Augen lag. SeinGesicht blieb unbeweglich. Um den auffallend häßlichenMund lag kein Zug von Hohn— alles hatte sich in dieAugen geflüchtet, was an Haß und Verachtung in diesemMenschen lag. Da begegneten sich unsere Blicke, aber nureinen kurzen Augenblick. Dann— als ob es ihm unan-genehm sei, von einem andern überhaupt beachtet zu werden— wandte er sich schnell wieder um und begann vonneuem. Ich achtete auf sein Spiel. Es war gewandt.Mehr konnte ich aus der schon ungezählte Male vcinom-menen Begleitung nicht heraushören.Auf der Bühne begann eine andere der Sängerinnen.Mit ihr das Mitsingen, das Zurufen, der Lärm, unddazwischen das unerträgliche„Pst"-Nufen von allen Seiten.Eine trübe, dumpfe Atmosphäre lagerte über dem ganzenOrk', die jeden freieren Athemzug erstickte. An der Deckeballten sich dichte Rauchwolken. Die Hitze war fast uner-träglich: eine brennende, ausregende, ungesunde Hitze. Ichwollte aufstehen, um fortzilgehen, als sich eine Hand ausmeine Schulter legte. Ein alter Bekannter, den ich wohlseit länger als einem halben Jahre nicht gesehen hatte,stand vor mir und setzte sich dann lachend neben mich.Wir schüttelten uns die Hände.Dann hörte ich seine behagliche, fette Stimme.„Ich habe Dich eben erst entdeckt. Du hast Dich jaso in die Ecke gedrückt. Aber vor allem: wie kommst Duüberhaupt hierher?"Ich sagte es ihm.Er lachte.„Nicht wahr, hier ist es fidel?"„Nun— mäßig." Er begann mich zu langweilen.Aber ich fragte ihn doch weiter.„Und was machst Dudenn hier?"Er zeigte auf eine der Sängerinnen.„Sieh Dir einmal die Kleine da an! Ich habe mitihr ein Verhältniß und bin fast jeden Abend hier. Ichbringe sie gewöhnlich nach Haus. Du mußt mich nachherschon entschuldigen."—Er blieb bei mir sitzen, trotzdem er vorher an seinemTische mit Bekannten zusammen gewesen war. Ich bewunderte die fröhliche Unbefangenheit, mit der er sich hierwie zu Hause fühlte. Fortwährend sah er nach seinerKleinen, tauschte Blicke mit ihr und applaudirte, wennsie gesungen hatte, mit seinen kräftigen Händen noch, alsdie anderen sich schon beruhigt hatten, daß sie von neuembeginnen mußten. Das machte ihm dann viel Vergnügen.Dabei sprach er in seiner lauten Weise fort, daß ich un-willkürlich sitzen blieb und seinem Geschwätze zuhörte. Alsdie Sängerinnen ihre Plätze verlassen hatten, ging er mitseiner Geliebten nach Hause, nachdem er mich wiederholtum Entschuldigung gebeten hatte.Da ich aber noch ein fast volles Glas vor mir stehenhatte, ließ ich den Saal um mich sich leeren und bliebnoch in meiner Ecke sitzen. Der Clavierspieler spielte denüblichen Schlußmarsch. Da überkam mich— ich weißheute noch nicht weshalb— der Wunsch, mich mit diesemMenschen zu unterhalten, und in dem ganz natürlichenGlauben, daß es einem Manne seiner Stellung nur an-genehm sein könne, von irgend jemand eingeladen zu wer-den, rief ich ihm, als er geendet hatte, zu, ob er Lusthabe, noch ein Glas Biex mit mir zu trinken. Aber stattdaß er sich zu mir setzte, hörte ich ihn einfach und ruhigsagen:„Ich muß danken, ich bleibe nie länger hier—"und ehe ich ihm antworten konnte, hatte er mich höflich,aber kurz gegrüßt und war hinausgegangen. Ich fandsein Benehmen seltsam. Aufforderungen dieser Art zu er-halten, wußte er gewohnt sein. Er war auch in der Thatnicht im mindesten überrascht gewesen. Was sollte alsodiese lächerliche Abweisung eines doch nur freundlich ge-meinten Wunsches? Ich rief nach der Kellnerin und fragtesie, ob sie mir Näheres über den Namen sagen könne.„Ach, lassen Sie doch den, der ist ja verrückt. Dasmacht er mit allen so, und er kann sich doch nur freuen,wenn jemand ihn einladet."(Sie sagte einladet.)Ich war ihrer Meinung. Ueber seine Person konntesie mir nichts näheres sagen.„Kommen Sie doch lieber noch ein bischen mit nachhinten zu den schönen, jungen Damen und trinken Sieein Glas Wein mit uns—"Aber ich dankte; ich kannte dies Glas Wein. Ich be-zahlte und ging schnell nach Haus.Auf dem Heimwege begann ein leichter Aerger sich inmir zu regen.Ueber der langen Häuserflucht der Friedrichstraßelagen die Wolken in dunklen Streifen. Der Nebel hattesich wieder gehoben. Aber die Feuchtigkeit in der Luftwar geblieben. Ich trank ihre Kühle in tiefen Zügen,denn meine Lippen waren heiß und trocken.In den nächsten Tagen war ich stark beschäftigt, unddachte kaum mehr an den vergangenen Abend. Aber alsich etwa vier Tage später um die neunte Abendstundeallein in dem Restaurant saß, in welchem ich zu Abend zuessen pflegte, tauchten ganz unvermittelt die scharfen Zügedes Clavierspielers aus dem Tingel-Tangel vor mir auf.Ich sah seine verachtenden Augen wieder vor mir. Undganz leise begann der Aerger über seine damalige Ab-Weisung wieder an mir zu nagen. Dann ärgerte ich michdarüber, daß ich an eine solche gleichgültige Sache über-