Aerliner Soeial-Politisches Wochenblatt. Dir.Berliner Volks- Tribüne' erscheint jeden Sonnabend früh.— Abonnentents-PreiS für Berlin monatlich 50 Pfg. pränumerando(frei ins HauS).— Ewzelne Nummer 15 Pf>. Durch jede Poft-Anstalt des Deutschen Reiche ? zu beziehen.(Preis vierteljährlich 1 M. 60 Pfg.; eingetragen unter Nr. 893 der ZeitungSpreiSliste für daS Jahr 1890.) Redaktion und Expedition: S.O.(26). Oranien- Straße 23. Inserate werden die 4 Ipaliigc Petit-Zeile oder deren Raum mit 20 Pfg. berechnet.- Vereins-Anzeigen: 15 Pfg. Arbeitsmarkt: 10 Pfg.— Jnseraten-Annahme in der Expedition: Oranien-Straße 23. Ausgabe für Spediteure: .Volksblatt' Zimmer-Straße 44. H 13. Sonnabend, den 29. Märi 1890. IV. Jahrganz. u#» Zum l. Mai. — Die neue Aera. — Frank- �cr, Arbeiterschutzkonferenz I,— über englische Arbeiter f*hh lmre' U1'~ 3Mm bürgerlichen Gefetzbuch /.— Monarchischer Sozialismus. Gedicht von Schikowski.— Existenzen von � Die Pariser Kommune von ? e I'— Arbeitslosigkeit oder kürzere falsch gestellte fragen.—«r- berterfchutz rn Rußland , in der Schweiz. — Die sozialdemokratischen Abgeordneten III. Zur Beachtung! Soeben erschien: Berliner Arbeiterbibliotlstk. I. Serie. Äeft 12: Internationale Arbeitsschutzgesetzgebung. Von Paul Ernst - Berlin . 36 Seiten. Preis 15 Pf. „Verl . Volks Tribüne," Berlin S.O., Oranienstr. 23. DC Wiedcrvcrkäufer, sowie Arbeitervereine er- halten hohen Rabatt."%## m-it Zum 1. Mai. Fast alle Arbeiterblätter wenden nunmehr der Frage eine größere Aufmerksamkeit zu und bringen selbst- ständige Aufrufe. Die Fachblätter sind hier schon lange rührig gewesen. Die Grillenbergersche„Fränkische Tagespost" und die„Arbeiterchronik" schreiben— der Leipziger „Wähler" giebt den Aufruf wieder, wenn wir recht be- fürchten,„ohne daß die Fraktion vorher gesprochen hat": Auf dem im vorigen Jahr zu Paris stattgcfundeneil inter - nationalen sozialistischen Arbeilerkongrcß wurde der>. Mai 1890 als internationaler Arbcitcrfciertag proklamirt; an diesem Tage sollen die Arbeiter aller Länder zu gunsten eines wirksamen internationalen Arbeiterschlwgcsetzes, insbesondere aber zur Erringung des achtstündigen Arbeitstages eine Kundgebung veranstalten; zahl- reiche Versammlungen haben bereits in Deutschland statt- gefunden, in welchen der 1. Mai 1890 als Feiertag bestimmt wurde. Deshalb, Arbeiter, rüstet Euch zu diesem Kampf! Zeigt am 1. Mai 1890, daß wir gewillt, den Kampf mit der bei den letzten Reichstagswahlen so sehr geschlagenen Reaktion fort- zusetzen, daß wir als selbständige Arbester auch diesen Tag feiern können, welcher von den Vertretern der Proletarier aller Länder bestimmt wurde, um den herrschenden Klassen ins Gedächwiß zu rufen, daß wir mit dem jetzigen System nicht einverstanden sind, daß wir ein internationales Arbeiterschutzgesetz, einen achtstündigen Arbeitstag haben wollen. Deshalb auf zur Feier des 1. Mai 1890. Selbst dieser Ausruf passirte— wahrscheinlich weil er den entsetzlichen Namen Schippel nicht trug— ungefährdet die allerhöchste Zensur, obwohl er viel weiter geht, wie der in letzter Nummer von einer Anzahl Berliner Genossen gemachte Vorschlag. Letzterer ging von der Un- Möglichkeit aus, durchgehend in Deutschland am 1. Mai die Arbeit ruhen zu lassen und empfahl den Genossen: 1. Volle Feier, wo es irgend geht, d. h. wo starke Arbeiterorganisationen(wie in Berlin , Ham- bürg, München u. f. f.) vorhanden sind; Vormittags öffentliche Versammlungen, Nachmittags gemeinsame Ausflüge und Feste; Wenigstens öffentliche Versammlungen, wo an einen allgemeinen Ruhetag nicht zu denken ist. Die im 1. und 2. Falle gefaßten Resolutionen sind unter Angabe der Zahl der Betheiliglen an die Reichstagsfraktion zu senden. 3. Eine Massenpetition— natürlich war diese nicht im Tone einer unterthänigften Bittschrift gedacht— schon um die Kreise herauszuziehen, denen Versammlungen(durch Verbote, Saalmangel u. f. w.) unmöglich find. Dieser Aufruf erschien denn auch im:„Berliner 'Volksblatt", Hamburger„Echo",„Norddeutschen Volksblatt", in der„Sächsischen Arbeiterzeitung", der Chemnitzer „Presse",„Burgstädtcr Zeitung", im „Braunschweiger Unterhaltungsblatt", in der„Thüringer Tribüne",„Nordhäuser Zeitung." In einer Zuschrift an das„Berliner Volksblatt" be- zeichnete ein Abgeordneter dieses Vorgehen als verfrüht und forderte auf,„erst die Fraktion sprechen" zu lasien, was„auch erst acht Tage vor dem 1. Mai" geschehen könnte, da am 1. Mai die„Agitation" überhaupt erst „beginnen" sollte. Er rieth, nichts zu lhun, bevor nicht die Fraktion gesprochen hätte. Anderer Meinung ist hinwiederum der Abg. Liebknecht, der am Montag in einem Briese an Herrn Max Schippel um sofortige Einsendung eines Entwurfes zu einer Resolution bat, die in allen Versammlungen angenommen werden könne, da es„hohe Zeit sei, daß Einheitlichkeit in die Agitation kommt." Unterdeß mehren sich zusehends die Versammlungen zum Achtstundentag in Berlin , der Provinz und den Bundesstaaten, so daß unseres Erachtens die Schaf- fung einer festen Direktive nicht länger mehr hinausgesckoben werden kann. Wir empfehlen— wenn eine allgemeine Fraktions- konserenz zu umständlich sein sollte— sofortigen Zusammentritt des Fraktionsv orsto ndes unter Hinzu- ziehung aller(eicht erreichbarem Abgeordneten. Das„Berliner Volksblatt' veröffentlicht den Aufruf der französischen Parteiführer zum 1. Mai. In München faßten die Kommissionen und Delegirten von 25 Gewerkschaften Beschlüsse im Sinne des in voriger Nummer veröffentlichten Aufrufes. Ueber die Beschlüsse anderer Versammlungen hoffen wir in nächster Nummer eine Uebersicht bringen zu können. Die neue Aera. pe. Daß an dem Umschwung" der deutschen Politik, wie er äußerlich in dem Sturz Bismarcks zum Ausdruck kommt, die Behandlung der Sozialdemokratie einen sehr großen Antheil hat, ist keine Frage. Wir sind nicht fehr gespannt aus diese Veränderung in der Behandlung. Befser wird es uns auf keinen Fall gehen, und viel schlechter kann es auch nicht werden. Man kann höchstens die Formen verändern; die Sache an sich wird schon so bleiben, wie sie ist. Mögen unsere Gegner von den neuen Formen aller- Hand erwarten— wir stehen ihnen ziemlich ruhig und gelasien gegenüber. Die Gegensätze des sozialen Lebens spitzen sich immer mehr zu; und mit ihnen die Gegensätze des politischen Lebens; die Mittelparteien verschwinden; sie mögen vielleicht ihre alten Namen behalten, in der Sache verlieren sie ihre Selbständigkeit; immer klarer tritt der Gegensatz zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie hervor; und daß das keine Verwerfung der alten Politik gegen uns zur Folge haben kann, sondern nur eine Verschärfung, wenn sie möglich ist, ist klar. Aber viel straffer läßt sich die Sehne nicht mehr spannen. Es wird also im Wesen alles so bleiben, wie es ist. Die bis jetzt ausfälligste Veränderung ist das starke Ueberwiegen der Versuche, uns durch allerhand Kon- Zessionen zu kapern. Man meint, daß man uns zu- sriedenstellen kann, indem man einige verhältnißmäßig neben- sächliche Punkte unseres Programms erfüllt; das heißt in der Sprache dieser Herren„der berechtigte Kern." Schon früher hat man uns mit den famosen Versicherungen ab- zufinden geglaubt; jetzt kommt man mit einer krüppelhaften Arbeiterschutzgesetzgebung. Offenbar ist die Schutzgesetz- gebung etwas mehr werth, als die Versicherungen; und deßhalb werden wir sie auch annehmen; aber die Anschauung, daß wir für diesen Bettelpfennig aus unsere anderen Forderungen verzichten werden, ist denn doch zu naiv. In noch viel höherem Maße, wie früher, wird von jetzt ab die„Kreuzzeitung " für die Psychologie der Regierung wichtig sein. Es ist deßhalb sehr instruktiv, gerade auf ihre Aeußerungen in der Frage zu hören. Zunächst brachte sie die bekannte Ente von dem Interview eines sozialistischen Abgeordneten. Derselbe sollte gesagt haben, daß die Sozialdemokratie durch die Schutzgesetzgebung eventuell bestimmt werden könnte, ihre„antimonarchische" Gesinnung aufzugeben und„positiv mit zu arbeiten." Daran knüpfte sie die Hoffnung, daß man jetzt kein Sozialistengesetz mehr ge- brauchen werde. Besonders auffällig war die Bemerkung. daß nunmehr mindestens eine Spaltung der Partei statt- finden würde. Ihre Haltung gegniüber dem Sozialistengesetz hielt sie auch später noch ausrecht, als die Erdichtung ihres Interviewers nachgewiesen war— aus andern Gründen, die sie nicht mittheilen wollte. Zuletzt erschien dann noch ein Aussatz, in welchem die Bemerkung von der Spaltung in der Partei weiter ausgeführt wurde. Durch die enorme Vergrößerung der Partei seien ihr sehr viele opportunistische Elemente zugeführt, sodaß sich das Terrorisiren der radi- kalen Richtung nicht mehr länger werde fortführen lasten; die Partei werde sich spalten in eine opportunistische und eine radikale Richtung; zum Beweis wurden einige Stimmen aus unserer Preste zltirt. Natürlich würde die Kreuzzeitung die Opportunisten mit offenen Armen auf- nehmen. Gleichzeitig mit diesen süßen Tönen erschollen die Berichte der Vorgänge in Köpenick . Daß dort keine s�avzialdemokraten die Tumulte begonnen halten, das war wohl jedem Menschen klar. Wir begehen nicht solche dummen und einfältigen Streiche. Plump, wie immer, verrieth sich sofort die Spitzelmache: durch Lockspitzel wurde, in Ermangelung eines wirklichen Aufruhrs, ein Polizei- a ufruhr in Scene gesetzt. Der Zweck ist ja klar: man will den„opportunistischen Elementen" vor den„radikalen" einen Schreck einjagen; man sucht den alten Popanz mit Knüppel und Schnapsflasche wieder hervor, um die noch neuen Elemente zu erschrecken. Und sehr schlau spekulirt man: den Opportunisten werden wir um den Bart gehen und ihnen vor den Radikalen Angst ein- jagen; dann werden sie sich von den Radikalen trennen; wenn wir jetzt die Radikalen allein haben, so fallen wir mit desto größerer Kraft über sie her und werden mit ihnen fertig; und dann werden wir die Opportunisten auch schon kriegen. Wir kennen diese dummschlaue, bornirt pfiffige Politik schon lange; es ist uns nicht ungewohnt, gegen eine große soziale Bewegung die Weisheit eines Polizeiwachrmeisters augewendet zu finden; das ist ja die berühmte Realpolitik. Die herrschenden Parteien halten Haus mit ihren Ideen. Aber diese ganzen Hoffnungen sind eitel. Erstens giebt es gar keinen Unterschied zwischen Radikalen und Opportunisten. Ein Sozialdemokrat ist ein Mensch, welcher glaubt, daß die gegenwärtige privatkapitalistische Gesell- schaftsordnung im Auslösen begriffen ist und der sozia- lisiischen Platz macht. Wer also mit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung paktirt, der ist logisch kein Sozial- demokrat. Hätte die Regierung mit ihren Erwartungen Recht, ließe sich einer von uns nur auf eine einzige der Quacksalbereien ein, mit welchen man dem morosen Gesell- schastskörper wieder auf die Beine helfen will— auf die positive Mitarbeit ims Sinne der„Krcuzztg."— in demselben Augenblicke wäre er kein Sozialdemokrat mehr, er hätte seine Sache verrathcn. Bei uns giebt es kein Handeln und Schachern. Das Handeln überlassen wir unfern Gegnern. Fürwahr, wir müßten solche Schwächlinge sein, wie die übrigen Parteien, wenn wir das verkaufen wollten, wofür so viele Märtyrer zu Grunde gegangen sind, verkaufen— für ein Linsengericht! Und wir müßten so einsichtslos und unwissenschaftlich sein, wie unsere Gegner, wenn wir glaubten, daß solche Manöver aus die wirkliche geschichtliche Entwicklung einen Einfluß hätten. Unsere Politik rechnet nicht von heute auf morgen und lebt nicht von der Hand in den Mund. Wir wissen, wir sind nur der Mund, durch den die sozialen Ereignisse sprechen, und wir haben nichts zu thun, als den Gang dieser sozialen Ereignisse zu studieren, damit wir das Richtige sagen, und die so als nothwendig erkannte Ent- Wicklung zu beschleunigen. Auf diese Entwicklung aber hat
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4 (29.3.1890) 13
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