KM» m iJcdincr Uolks Tribüne. M 13. Sonnabend, den 29. März 1890. iv. Jahrgang. Die UoKabonnenten unseres Blattes «rinnern wir daran, ohne Säumen und vor Monatsichlutz Abonnement zu erneuern, ihr das sonst von der Post als erloschen betrachtet wird. Post-Zeitungskatalog für 1890 Nr. 893. Preis pro Vierteljahr Mk. 1,50(bei Selbstabholung Postschalter.) Durch Briefträger fr. ins Haus Mark 1,65 pro Viertclj. am Die Kreuzbau dabonuenten bitten wir, wo-eS irgend angeht, vom 1. April direkt von der P o st a n st a l t zu beziehen. an Die Bestellungen müssen m öglichft bald, jedenfalls vor Monatsschlust bewirkt werden und können bei «llen Postanstaltcn des Reiches erfolgen. Wo Kreuzband aus besonderen Gründen weiter gewünscht wird, erbitten wir umgehende Nachricht; sonst nehmen tvir au, das? direkte Bestellung bei der Post erfolgt ist und senden daher vom 1 April ab nicht weiter. (Nachdruck verboten.> Der neuen Zeit ein neuer Sang! Nun höre auf zu klagen, Lied, Sing' jubelnd zur Frühlingsfeier: Der Lenzsturm, der die Welt durchzieht, Rauscht auch durch meine Leier. ES rauscht und es klingen die Saiten nach Und schwirren und summen und sagen: Der Frühwind weht, die Welt wird wach, Der Morgen beginnt zu tagen! Nun höre auf zu klagen, Lied, Nun sollst du Gewaltiges melden Bon der neuen Zeit, die uns erblüht, Bon Weisen, Duldern und Helden! Der neuen Zeit ein neuer Sang! Kein träges Zirpen und Summen! In der dumpfen Werkstatt ertöne der Klang, Wo die Räder surren und brummen. Wo der Kolben schwingt, wo der Riemen knackt, Dorthin soll der Sänger fliehen; Das sausende Schwungrad rausche den Takt Zu seinen Melodieen! Dort such' er die Helden, geschwärzt von Nutz, In der thranigen Arbeiterblouse; Das Dampftotz sei sein Pegasus, Die Wahrheit seine Mise! Und dem kräftigen Volk ein kräftig Lied Von der Macht, die ihm gegeben, Von den« neuen Geist, der die Welt durchzieht, Von Liebe, Licht und Leben! John Schikowski. Gristenie«. (Nachdruck vttboten.l Von John Henry Mackay  . Nach zehn Minuten waren wir wieder in dem über- füllten, dunstigchcißen Raum. Am Klavier saß der frühere Student und spielte seine Begleitung herunter. Er sah sich nicht um. Wieder aber ergriff mich das Gefühl eines ganz unerklärlichen Jntereffes für den fremden Menschen. Ich hälie lesen mögen, was diese Stirn dachte; wissen mögen, was diese Augen sprachen. Wir saßen in derselben Nische, wie das letzte Mal. Mein Begleiter hatte sich schon mit seinem Frauenzimmer begrüßt. Alles war unverändert: das Publikum und was es zu hören und zu sehen bekam. Wieder war es elf Uhr. Die Sängerinnen rafften ihre Noten zusammen und verließen die Bühne. Sie gingen nach hinten, die einen, um sich umzuziehen; die andern, um dort im Weinzimmer wüste Stunden mit denen zu verleben, welche dumm genug waren, diese dem Wirth in schlechten Weinen und noch schlechterem Sekt mit theuerem Geld zu bezahlen. Ich blieb noch sitzen, obgleich mein Bekannter mit seiner Geliebten längst ge­gangen war. Mich hielt noch etwas zurück. Aber ich wußte es nicht, was es war. Die Tische wurden allmählich leerer. Bon den Lichtern verlöschte eins nach dem andern. Ich stand aus und griff nach meinem Hute. Da stockte ich. Statt des gewohnten Marsches, dein unvermeidlichen, mit dem alle Konzerte in Berlin   geschlossen werden, spielte der Klavierspieler heilte eine einfache Weise, so einfach, so reizend, daß ich erstaunt zögerte und niich unwillkürlich wieder hinsetzte. Aber wieder packte mich der Aerger über den Spieler und mehr noch über den verlorenen Abend. Ich ging. Aber ehe ich noch die Thür erreicht hatte, stand der frühere Student neben mir und machte mir eine leichte Verbeugung. Ich sah erstaunt auf. Da hörte ich, wie er mit ruhiger Stimme sagte:Mein Name ist Jordens. Sie waren so liebenswürdig, mich vor einigen Tagen um meine Gesellschaft zu bitten. Es sollte mir leid thun, wenn ich Sie durch meine Absage beleidigt hätte" und da ich sehr überrasch! nicht gleich antwortete, fuhr er leise lächelnd fort:wenn ich Sie überhaupt beleidigen kann. Aber vielleicht würden Sie mir heute Abend, falls Sie nichts besseres vorhaben, das Vergnügen machen, mit mir ein Glas Bier zu trinken?" Ich habe ihn daraus hin gewiß sehr befremdet an- gesehen. Jedenfalls antwortete ich ihm ruhig und höflich: Gewiß, sehr gerne. Aber weshalb, wenn ich fragen darf, nahmen Sie dann mein Anerbieten nicht an?" Wie- der überflog das leichte Lächeln von vorhin seine Züge. Verzeihen Sie, ich werde Ihnen nachher antworten. Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gehen." Er öffnete die Thür und ließ mich vorangehen. Als wir auf der Straße standen, wandte er sich zu mir. Ich setze voraus, daß, wenn Sie dies Lokal" er wies mit der Hand nach der eben verlassenen Thür zu- rückbesuchen, Sie vielleicht auch nichts dagegen haben, wenn ich Sie in mein Stammlokal führe. Es ist sehr klein und einfach, aber durchaus anständig. Ist es Ihnen recht?" Ich verneigte mich höflich:Bitte." Er wandte sich nach rechts und wir gingen schwei- gcnd die Straße hinab. Ich lachte innerlich: die Geschichte war entschieden nicht ohne Humor. Ich wollte stillschwei- gend abwarten, was kommen sollte. Aber er ging ruhig und sicher neben mir her, und machte keine Miene, ein Gespräch anzufangen. Wir gingen ziemlich schnell durch mehrere, mir ganz unbekannte Straßen in der Richtung nach Nordosten. Einen Augenblick über- legte ich, ob es nicht doch besser sei umzukehren. Aber dies Gefühl des Unheimlichen hatte andererseits wieder einen solchen Reiz für mich, daß ich den Gedanken bald wieder aufgab und stetig neben ihm weiter ging. Die Straßen wurden immer stiller und menschen- leerer; die Häuserreihen immer niedriger. Sie schienen näher an einander zu rücken. Wir waren wohl zehn Minuten gegangen ohne zu sprechen. Da that sich eine kurze Sackgasse vor uns auf, in die mein Begleiter einbog. Am Ende derselben brannte ein trübes Licht. Wir stiegen mehrere, tief ausgettetene Steinstufen empor und standen in einem kleinen, aber ziemlich hohen Dirthschastsmum.@r frischer Sandgeruch, wie von frisch gescheuerten Dielen mischte sich in die be­hagliche Wärme, welche uns entgegenströmte. Alles war einfach und bescheiden, aber von einer peinlichen Sauber- keil. Die drei alten, gelben Tische mit den braunen Rändern, die wenigen Stühle, das große Büffet und die kleine graue Frauengcstalt, welche hinter demselben mit fteundlichcn Abcndgruß aus uns zutrat und dem anderen die Hand gab. Als er ihrem offenbar erstaunten Blick, wen er denn da noch mitgebracht habe, nicht antwortete, brachte sie uns in alten Steinkrügen, die ich sehr liebe, frisches Bier. Wir setzten uns. Man findet wenige derartige Lokalitäten in Berlin  , öfters jedoch in kleineren, süddeutschen Städten. Ich war ungeincin angemuthet. Mein Begleiter schien es freudig zu bemerken. Er erzählte mir, er verbringe jeden Abend nach der Vorstellung eine oder zwei Stunden oft auch noch mehr hier. Meist sei er völlig ungestört. Auch heute waren wir allein. Die Alte hatte sich bescheiden hinter ihr Büffet zurückgezogen. Mit diesem Abend haben einfache, aber tiefgehende Erinnerungen für mich begonnen. Ucber wenig kurze Wochen reichen sie hin und kein Dritter nahm an ihnen Thcil. Wo mag er jetzt sein, mit dem ich so manchen Abend in diesen Wochen so gegenübersitzend verbracht habe? Wir sprachen an diesem Abend über mancherlei. Ueber was, weiß ich kaum mehr. Es gehört auch nicht hierher. Aber nicht einmal im Laufe des Abends streifte unser lebhaftes Gespräch das Gebiet des Persönlichen, und als wir nach mehreren Stunden von einander schieden er brachte mich durch die fremden Straßen zur Friedrich- straße zurück wußten wir so wenig von einander, wie vorher, als wir uns auf so seltsame Weise kennen gelernt hatten... Er sprach, wenn ihn etwas interessirtc, sehr lebhast und schnell, aber immer mit einer gewissen Zurückhaltung. Als wir auseinander gingen, grüßten wir uns höflich, gaben uns aber nicht die Hand. Ein Wiedersehen wurde nickt zwischen uns verabredet. Indem ich nach Hause ging, fiel mir ein, daß er mir die Antwort aus meine Frage nach seiner überraschenden Einladung schuldig geblieben war. Da ich an diesem Abend sein Gast gewesen war- war nun die Reihe wieder an mir, und innerlich lachte ich über dies Wechselspiel. So wäre es wohl bei diesem ersten und letzten Abend eines Beisammenseins geblieben, wenn ich nicht ein paar Tage später kurz vor elf einmal wieder jenes Gesanglokal ausgesucht hätte, in dem er allabendlich spielte. Er er- widerte in der Pause meinen Gruß höflich und war sicht­lich erfreut, als ich ihn um elf Uhr fragte, ob wir nicht wieder in seinem Stammlokal eine Stunde verplaudern wollten. Wir gingen sofort und waren bald in lebhaftem Gespräch. Seine Zurückhaltung verlor sich immer mehr und mehr; wir waren offener und freundlicher gegen ein- ander. Aber noch immer streifte das Gespräch an jedem Persönlichen vorüber, das ihn betreffen konnte. Dagegen nahm ich eine Gelegenheit wahr, ihm einiges aus meinem Leben mitzutheilcn, nicht ohne den geheimen Wunsch, eine gleiche Offenheit bei ihm damit zu wecken. Aber er ging darüber hinweg und ich blieb zu fest bei meinem Vorsatz, durch keine irgendwie wißbegierige Frage ihn zu einer Mittheilung zu veranlassen, welche er mir nicht ganz aus freien Stücken machen wollte. So ging auch dieser zweite Abend vorüber, ohne mich dem Räthsel dieses Lebens näher zu bringen. Es ist mir später oft interessant gewesen, mich des Urtheils zu erinnern, welches ich mir nach diesen beiden Abenden über ihn bildete, nachdem ich ihn verlassen hatte. Ich konnte mir nickt zusammenreimen, wie ein. Mensch von seiner Bildung eine solche Stellung bekleiden konnte. Mit seinen Ansichten stimmte es offenbar überein: denn ich hatte ihn schrankenlos frei in seinen Urtheilen, und durchaus selbstständig gefunden. Ein tieferes Eingehen auf irgend eine allgemeine Frage vermied er absichtlich es lag ihm offenbar nicht das geringste daran, mich zu irgend einer seiner Anschauungen bekehren zu wollen, wenn es ihm auch ganz interessant zu sein schien, die meinen genau kennen zu lernen. Er ivollte sich offenbar ein Bild meiner Person machen. Nur so wenigstens erklärte ich mir das Hinlenken aus einige ganz allgemeine Punkte. Aber nicht etwa, daß er, so zurückhaltend er sonst war, irgend etwas in seinen Ansichten verhehlt hätte: er antwortete stets immer unter schärfster Betonung seines Standpunktes, meist zügel- los und herb in seinen Ausdrücken. Wir stimmten oft überein. Dann war es gut. Oft auch nicht. Dann blieb es einfach bei der Verschiedenheit der Ansichten, ohne den Versuch, sie ausgleichen zu wollen. Er schien in bezug auf seine Person nur seinem eigenen Willen zu folgen. Jede Beeinflussung lehnte er ab. Er lebte völlig vereinsamt und zurückgezogen das einzige ihn Betreffende, welches er einmal flüchtig aussprach. So dachte ich in diesen ersten Tagen über ihn. Ich suchte außergewöhnliche, seltsame Lebensschicksale bei ihm. Anders wollte ich es mir nicht erklären, daß eine so starke Natur aus solche Bahnen geschleudert werden konnie. Ich irrte mich fast in allem. Er halte sich so völlig frei entwickelt, war so nur seiner innersten Natur gefolgt, wie es heute nur wenige Menschen können und dürfen. In seinem äußeren Wesen lag eine Vornehmheit, welche ihn hoch über den Kreis hob, in welchem sich sein Leben jetzt abspielte. Von Verkommenheit konnte nicht die Rede sein; namenlos gleichgültig mochte er wohl in manchen Fragen sein, welche für viele Menschen das wichtigste iin Leben sind. II. Am liebsten hätte ich ihn schon am folgenden Abend wiedergesehen. Aber wer folgt heute noch einzig nur der Eingebung seines Gefühlxs? Wir sind vorsichtig gegen ein- ander geworden, und fragen uns zuvörderst: Was wird der andere dazu sagen? Es vergingen also einige Tage. Da ich aber keine Lust mehr hatte, ihn bei der Ausübung seines Berufes zu sehen, und ich ihn noch so wenig kannte, daß ich glaubte, es möchte ihm auch vielleicht nicht sehr angenehm sein, wenn ich ihn oft dort im Tingel-Tangel sähe, so ging ich direkt nach unserer kleinen Kneipe. Es war noch nicht elf Uhr, und er war also noch nicht da. Das Zimmer war wieder leer. Ich wurde von der Alten schon wie ein halber Be- kannter empfangen. Sie fragte sofort nach Jordens. Sie schien ungemein an ihm zu hängen, fast mit der Liebe erner Mutter. Er käme jeden Abend sagte sie. Dann begann sie unaufgefordert, neben dem Tische stehend, von ihm zu sprechen. Ob er nicht ein prächtiger Mensch sei? sie kenne ihn jetzt schon ein halbes Jahr so lange sei es her, daß er jeden Abend zu ihr komme. Er sei immer freundlich, wenn er auch oft Abende lang gar nicht mit ihr spräche. Als ich sie fragte, ob er immer allein komme, sagte sie, ich sei überhaupt der einzige, mit dem sie ihn zusammen gesehen hätte. Sie freue sich darüber, denn er hätte ihr immer leid gethan, ivenn er so einsam dasäße und sich um niemanden kümincre. Da trat er ein. Er lachte, als er sah, wie die Alte mir so eiftig erzählte. Tann verneigte er sich vor mir, und setzte sich auf seinen gewohnten Platz, sagte aber kein Wort, daß er sich freue mich zu sehen. Lassen Sie sich nicht zu viel von der Mutter er- zählen", sagte er dann. Ich antwortete ihm offen, daß wir von ihm gesprochen hätten. So." Und dann wandte er sich zu der Alten, welche ihm sein Glas brachte:Sie hätten auch etwas besseres thun können." Sie fuhr zusammen und schwieg Da wurde er sofort wieder freundlich, und gab ihr die Hand.Nicht traurig werden, Mutter. Ich weiß ja, Sie meinen es gut mit mir..." Dann sah er mich an, kurz und scharf. In diesem Augenblick mußte ich meinen Vorsatz vergessen.