Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.

14.

Existenzen.

Bon John Henry Mackay  .

Sonnabend, den 5. April 1890.

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IV. Jahrgang.

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[ Nachdruck verboten.] viel erlebt haben, um gegen Vieles einen solchen Haß ein- läufe vor meinem Blicke zerfielen.- Nie hatte mein Leben bis dahin einen großen Schmerz, nie eine große Freude gesogen zu haben. Ich habe niemals Jdeale gehabt jene nebelhaften Bilder einer ungefunden Phantasie, welche gehabt. Nie hatte ich Jemand geliebt. Mein Onkel hätte nie mit den Erfordernissen des Lebens übereinstimmen. mich verlacht, wenn ich ihm mit dergleichen hätte kommen " Ich habe meine Eltern beide nicht mehr gekannt. Ueberall zeigte er mir unter dem schönen Schein die nackte wollen. Sein Leben reichte weit über alles Persönliche Bis zu meinem dreizehnten Jahre etwa lag meine Er Wirklichkeit in ihrer Rohheit und ihrem Elend, und hinaus, und dasselbe Denken erwartete er von mir. Nicht ziehung in den Händen einer älteren Dame, einer ent- meisterlich verstand er es, die innere Unwahrheit einer einmal edel genug war ich, um Zorn zu fühlen über meine fernten Verwandten meines Vaters. Wohin sollte ich auch Sache mit einem scharfen Worte zu treffen und zu rer- eigene Schwäche. Nur ein erbitterter Schmerz zuweilen sonst? Weitere Verwandte hatte ich nicht. Es lebte zwar nichten. Ich war damals wohl siebzehn Jahre alt, als und dann wieder die Verachtung die Verachtung noch ein Bruder meiner Mutter in irgend einem Winkel jene unvergeßlichen Abendstunden für mich begannen, in Er schwieg. Ich hatte ihm fast athemlos zugehört. Norddeutschlands, aber völlig von allem Leben zurückge- denen er mit mir sprach, wie mit einem reifen Manne, Seine Gedanken weilten in der Ferne, und er schien ganz zogen. Er war nach dem, was ich zuweilen von ihm immer an mein innerstes, gesundes Gefühl appellirend, vergessen zu haben, daß er sich selbst unterbrochen hatte hörte, eine bestgehaßte Persönlichkeit. Als ich in die Jahre immer an meinen noch durch keinen Wust angelernten und ich auf das Ende seiner Erzählung wartete. kam, wo ich mich zu wehren lernte, und mich nicht mehr Wissenskrams getrübten Geist. So ging mein Blick schon Ich mußte ihn daran erinnern. ganz so oft und ruhig durchprügeln ließ, griff die Alte in jenen Jahren weit über die Grenzen meiner engen Das Ende?! Nun ja, hören Sie weiter. Ich zu dem Mittel, mir mit diesen alten Onkel zu drohen. Umgebung hinaus. weiß nicht, ob Sie die Stunden kennen, wie solche sich Aber leider erreichte sie ihren Zweck durchaus nicht. Denn Noch heute danke ich ihm über Alles, daß er mir damals durch Wochen über mein Leben ausdehnten. Es je mehr sie über ihn herzog, desto fester ward der Ent- alles Kleine aus meiner Jugend entfernt, und alles Klare ist, als breite sich über alle innere und äußere Welt ein schluß in mir, später diesen Onkel kennen zu lernen. und Große schon früh nahegerückt hat. Er hat mir nie trüber Schleier; alle Farben fließen in ein Bleigrau zu­Meine findliche Phantasie übertrug mit der Zeit alle meine von Gutem, Edlem, sondern immer nur von Wahrem ge- sammen; alle Gefühle verebben, und der Wille sinkt sehnen­Sehnsucht auf ihn. sprochen. Und so ist mir das Unglück erspart geblieben, los in sich zusammen nichts, nichts als trostlose, schreck­Es war ein wundervoller Sommermorgen. Ich hatte in der Jugend mit schönen Worten gefüttert zu werden, liche Gleichgültigkeit gegen alle Menschen und am meisten Ferien und nur den einen Wunsch, den ganzen Tag draußen und dann im späteren Leben haltlos und verblüfft dem gegen sich selbst. So war es damals mit mir. Was im Freien zu liegen. So oft ich konnte, lief ich fort. Leben gegenüberzustehen und sehen zu müssen, daß es aus mir wurde, nicht eines Gedankens war es mir mehr Aber an diesem Morgen hatte die Alte mich erwischt. Ich eigentlich gerade umgekehrt beschaffen ist, als man es uns werth. Ja, nicht einmal so viel Kraft hatte ich noch, um sollte eine ganze Seite lateinischer Vokabeln lernen. Alles in der Jugend gezeigt hat. Halten Sie das nicht für noch die Sehnsucht nach dem Tode zu fühlen. Nichts fesselte mich mehr keine Liebe, keine Sträuben half mir diesmal nichts. Sie brachte mich auf einen unendlichen Vortheil? mein Zimmer und seßte mich vor mein Buch. Ich war Sehen Sie, das ist meine Jugend gewesen. Ich habe Hoffnung, kein Wunsch Kennen Sie dies Gefühl nicht, werden, müssen Sie wüthend. Da draußen der hellste Sommermorgen. Eine Sie Ihnen geschildert in wenigen, groben Strichen. Aber Einerlei. Es Fülle von Lust und Leben strömte verlockend zu mir herein Sie hätten ihn sehen müssen, den Mann mit den eisernen es kläglich, unmännlich, krankhaft nennen. - und ich durfte nicht heraus! Ich verbiß meinen Zorn. Zügen, dem scharfen, flugen Auge und der unerbittlichen war bei mir mehr als eine vorübergehende Stimmung, fonnte aber nicht hindern, daß mir die dicken Thränen Härte gegen alles, was unwahr war, dabei von einer der wohl Jeder einmal unterlegen ist. Nach Wochen dieser thatenlosen Tage, von denen über die Backen liefen. Entwischen konnte ich nicht, denn geradezu großartigen Gerechtigkeit gegen alle Fehler und noch keiner mir einen festen Entschluß, nicht einmal den ich wußte ganz gut, daß mein Drache unter mir im Zimmer Schwächen. Ich weiß nicht, was er sagen würde, wenn er sähe, Gedanken an einen solchen gebracht hatte, trieb ich mich war und mich abgefangen und eingeschlossen hätte. Ein­Wahrscheinlich garnichts. öfters an einem von den Orten herum, an welchen Sie geschlossen zu werden aber war für mich die schrecklichste was aus mir geworden ist. Strafe! Dann überfiel mich eine furchtbare Angst und Er ließe mich weiter gehen ohne ein Wort. Denn er mich kennen gelernt haben. Ich konnte da stundenlang ich war tagelang so verstört, daß die Alte nur selten zu wußte nur zu gut: ein freier Mensch kann nur dann fißen: apathisch, gleichgültig und dabei doch alles sehend, glücklich werden, wenn er seinem Willen uneingeschränkt was um mich her vorging. Dies ganze, fremde Leben diesem Zwangsmittel zu greifen wagte. Ich hatte eben das gehaßte, verabscheute Buch in die folgt. Und er wäre der Leßte gewesen, der auch nur den übte eine gewisse Anziehungskraft auf mich aus. Hier stießen die Gegensäße fest aufeinander, über die ich nicht Ecke geworfen und wollte mich troßig in mein Schicksal Versuch einer Beeinflussung gemacht hätte. Er starb, als ich zwanzig Jahre alt war" gerade hinweg konnte. 3nm ersten Male seit langer Zeit fühlte ergeben, da drang die gellende Stimme meiner Alten von unten zu mir herauf: Paul Paul tomm zur rechten Zeit", wie er wenige Stunden vor seinem Tode ich den Pulsschlag eines regeren Lebens in mir, der mich herunter!" Mit einem Saß war ich am Fenster. Die fagte. Ich stand neben ihm, als seine Augen brachen. aus der öden Leere der letzten Wochen aufzurütteln schien. Da trat eines Abends plößlich in dem Gesang und Alte streckte ihren Haubenkopf unter mir zum Fenster Noch einmal sprach er, und ich werde seine letzten Worte hinaus. Da ergriff ich in meinem Aerger ein Glas nie vergessen, die vielleicht zum ersten Mal einen direkten Spiel eine Pause ein. Der Klavierspieler war unwohl Wasser und patsch! schüttete ich ihr den ganzen Rath für mich enthielten: Gieb nie Dein Bestes den geworden und mußte hinausgehen. Das Publikum schrie In demselben Anderen preis! Es macht Dich nur unglücklich. Glaube ungeduldig nach Fortseßung. Der Befißer des Lokals war Inhalt desselben über den Nacken.. Augenblick war ich an der Thür, und stürmte die Treppe meiner Erfahrung. Und ich möchte wohl, daß Du glücklich in Verzweiflung. mit dem Ich saß vorn, nahe am Klavier. Da überkam mich hinunter. Aber da hörte ich aus dem Zimmer in das wirst." Dann starb er, wie er gelebt hatte Schreien der Alten hinein ein so dröhnendes Gelächter, Lächeln der Verachtung auf den Lippen, welches selbst der eine plögliche, wilde Laune ich sprang auf, setzte mich Schmerz nicht vermocht hatte zu erwischen. Ich war allein. an das Klavier und spielte das unterbrochene Stück weiter. daß ich unwillkürlich stillstand. Da lachte Jemand Erst lange nach dieser Stunde habe ich die Wahrheit Das Frauenzimmer sang weiter, das Publikum lachte dann konnte es nicht schlimm werden. Die Neugierde war stärker als die Furcht vor der Strafe. Ich öffnete seiner letzten Worte verstanden und nach ihnen gelebt. und ich spielte den ganzen Abend. Es war in der That leise die Thür, und sah im Zimmer einen fremden Herrn Vielleicht, daß ich einmal so thöricht bin, sie zu vergessen. nichts, als eine absichtslose Laune. Als der Abend zu stehen, der aus vollem Halse lachte, während er die Alte Einstweilen aber lebe ich für mich. Ich bin nicht ehrgeizig, Ende war, kam der Besizer auf mich zu, dankte mir und abhielt, fich auf mich zu stürzen. Komm herein, mein und ein entfagendes Märtyrerthum habe ich immer verlacht. gab mir für meine Mühe", wie er sagte brei Mark." dann lachte er wieder. Ich Aber lassen Sie mich nicht abkommen. Ich will Ich lachte, und überlegte eben, ob ich dem Menschen das Junge, komm herein." trat langsam ein und stellte mich halb hinter ihn. Nur Ihnen nichts über die nächsten Jahre sagen: ungebunden, Geld vor die Füße oder es einem der Frauenzimmer in mühsam suchte mein Drache sich zu beruhigen. Sie hatte selbstständig und noch ernster als meine Jugend eigentlich den Schooß werfen sollte, als mir ein Gedanke fam offenbar großen Respekt vor dem Fremden. Der lachte war. Doch das Glück meines Lebens hat nie in Frohsinn ich steckte das Geldstück ein, und fragte, ob ich wieder­noch immer. Du bist ja ein famoser Bengel," sagte er und Heiterkeit gelegen. Ich war glücklich, wenn ich frei kommen könne, um jeden Abend hier zu spielen. Es war gut. - mein Unglück! und sah mich an. Da durchzuckte mich ein Gedanke. war. Jede Schranke Du bist mein Onkel!"" Ja, ich bin Dein alter Onkel. Willst Du mit mir fommen, mein Junge?" jubelte auf.

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( Fortsetzung folgt.)

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Dann kam ich nach Berlin  . Vom ersten Tage an Ich ging an diesem Abend mit ziemlich seltsamen Ich wußte ich, daß hier die neue Heimath meines ferneren Gedanken nach Hause. Aber ich nahm, was mir ein Lebens sei, an die mich anklammern, die ich nie wieder Zufall geboten hatte. Und von jenem Abend an bin ich habe ein Einkommen, Wie oft haben wir beide später über diese ganze verlassen würde. Hier war ich frei. Hier ging der Einzelne wohlbestallter Klavierspieler Szene gelacht. Ich habe sie Ihnen so genau erzählt, weil unter. Hier fielen für seinen Willen alle Schranken zu welches meinen kleinen Bedürfnissen genügt und was mir mehr werth ist, den ganzen Tag über frei... Seit fie über mein Leben in gewissem Sinne entschieden hat, sammen. Hier war meine Zeit! Hier konnte der Einzelne sein jenem Abend aber habe ich das Leben kennen gelernt und dann, weil sie so außerordentlich charakteristisch für das ganze Wesen der Persönlichkeit ist, der ich alles ver: Bestes für sich behalten, ohne daß es ihm von Anderen in all' seiner Rohheit, in all' seinem Schmuß, und in all' seiner Wahrheit, wie ich es wünschte! Und ich darf ver­banke wenigftens das Schönste und Beste, was einem entrissen und zerpflückt wurde. Die legten Träume haltloser Sehnsucht zerflatterten. achten, glauben Sie es mir!" Menschen werden kann: eine glückliche Jugend, eine freie Er schwieg, und ich wußte ihm nichts zu ant­Erziehung, und Wahrheit über das Leben und gegen sich Wo ich hinsah, trat ich in den Schmutz der Rohheit und Gemeinheit des Lebens. Ich hatte ja keine schönen Worte, worten. Aber er schien eine Antwort auch nicht zu er­Selbst. Er nahm mich sofort mit sich. Dann haben wir wie die Anderen, um mich über die uuzähligen troftlosen warten. Unsere Gläser waren lange leer. Hinter dem zusammen gelebt, mehr als Freunde, nie als Erzieher und Wahrheiten mit einer Phrase hinwegzutäuschen. Aber ich Büffet schlief leise die Alte. Es war wieder alles lautlos Da stand er auf und trat still, ohne die müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, es sei alles still um uns. Zögling. Er lebte völlig zurückgezogen in dem kleinen Drte. schmerzlos in mir gewesen. Mein Jnnerstes ist nie durch Alte zu wecken, hinter den Ausschank und füllte selbst Mir ließ er in allen Stücken die größte Freiheit. Ich Kämpfe erschüttert, aber aus der schmerzlichen Bitterkeit, unsere Gläser. konnte thun und lassen, was ich wollte. Nie hat er mich erweckt in mir aus den täglichen Bestätigungen all der gestraft; nie habe ich eine Ermahnung von ihm gehört. Wahrheit, welche mir jahrelang von einem scharfen, er B. W. Der tiefe und ehrliche Denker Leo Tolstoi  Er hatte nur hier und da ein Wort feinen Spottes, welches fahrenen Geist gelehrt war, entstand nichts anderes, als tiefere Wirkung auf mich übte, wie die längste Rede. wieder Verachtung, und zuweilen auch ein Haß, der sich hat in seinem Buche Mein Glaube" nachgewiesen, daß die Lehre Jesu durchaus anders gewesen ist, als sie von Nur gegen jede unwahrheit, und wäre es auch die kleinste, aber immer wieder vor dem Verstande verkroch. In einer solchen Stunde stand ich vor einer Ent- der Kirche dargestellt wird, z. B. den Krieg, die Herrschaft war er unnachsichtig. Er strafte mich auch da nicht, kümmerte sich aber dann tagelang nicht um mich, denn", scheidung. Mein Onkel hatte mir so viel Vermögen hinter- und den Reichthum als etwas Sündliches bezeichnet hat, sagte er, mit unwahren Menschen will ich nichts zu thun lassen, um einige Jahre davon leben zu können. Das und daß das Christenthum  ", nichts anderes ist als ein war nun aufgezehrt, und ich mußte ernstlich daran denken, Compromiß  , den die Priester mit den weltlichen Mäch­haben." Als ich in die Jahre kam, wo ich anfing, selbständig mir einen Lebensunterhalt zu verschaffen. Aber was sollte ten schlossen, und der natürlich zur Beschönigung dieser zu werden, nahm er offenbar ein größeres Interesse an ich werden? Ich hätte meinem Leben vielleicht damals ein Mächte führte! Vor Kronen ,, von Gottes Gnaden" neigten mir. Ich habe oft später darüber nachgedacht und glaube Biel   gesezt, aber alles scheiterte an den Vorurtheilen, von sich die Priester und priesen die Schwerter, die sich mit bestimmt: ich war ihm ein Experiment, auf deffen Ausgang welchen ich mich umgeben sah, und an meinem nüchternen Gott für König und Vaterland" in Menschenblut tauchten. er neugierig wurde. Er zog mich öfters zu Fragen heran, Urtheil. Da ich nie verstanden habe, wie man dem Und so neigen sich viele christliche" Priester auch vor der und wollte meine Meinung darüber hören. Ünerbittlich Phantom des Erfolges sein ganzes Leben opfern kann, höchsten Macht unserer Zeit, vor dem Geldsack. Eine hübsche Illustration dieses modernen Verhält= war er gegen jede Unklarheit. Er mußte in seinem Leben, scheiterten meine wenigen, flüchtigen Pläne an den das in seiner Jugend wild und stürmisch gewesen war, Trümmern, in welche die Meisten dieser höheren" Lebens- nisses liefert ein Vortrag, welchen Konsistorialrath

Sozialistische Spaziergänge.