I Ich ging die Friedrichstraße hinunter, die ich so un- zahlige Male gegangen war halb gleichgültig, halb interessirt. Aber nie hatten mich solche Gefühle durch- wogt, wie in dieser Nacht. Früher hatte ich über all dem Gewoge gestanden, heute war ich mitten drin in all seinem Elend. Es war vielleicht zwei. Aber noch herrschte volles Leben, wie am Tage. Zum ersten Male begann ich Berlin  zu verstehen... Ich hörte, was sie zu mir sagten die Weiber, die an mir vorüber gingen, aber zum ersten Male verstand ich ihre Worte. Ich hörte aus ihnen heraus, was in ihnen lag: die Frechheit, das Verlangen der Jammer und die Noch die Angst vor dem kommenden Tage und die Furcht und die Gier die Scham und die zuchtloseste Gemeinheit-- Auf der Weidendammcr Brücke engte sich das Leben am stärksten zusammen. Ich bog mich über den Rand der Brücke und sah hinunter in die trübe, schwarze Fluth der Spree, welche hier schon so viel von dem Schmutze chrer Stadt aufgenommen hatte, und doch träge und ge- duldig weiterfloß. Und weiter. Der Stadtbahnhof lag ruhig. Aber unter den Linden war wieder das nächtliche Lichtmeer am Cafe Bauer. Hier kreuzten die Lebensadern sich in un- verminderter Stärke. Und doch, auch hier: immer dasielbe Spiel des Lebens, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ein Wechsel ohne Unterschied. Hier hatte die Nacht ihre Herrschaft verloren. Aber das blendende Leben war ohne innere Kraft. Es konnte reizen, aber nicht befriedigen; es war ein Leben, das vom Tode lebte. Und weiter. Nach Hause. Und dort saß ich noch lange in dem kalten Zimmer und dachte an ihn. Ich dachte an seine reiche Jugend und an sein armes Leben; an seine bewundernswerthe Kraft, und seine verächtliche Schwäche.. Wie war es möglich, so das eigene Leben hinabzuzerren, mit Füßen zu treten und doch wieder nichts als nur dessen Werth zu kennen? So allem Schönen erschlossen zu sein, und doch ihm den Rücken zu kehren, ohne jeden Anspruch auf die allergewöhnlichste Achtung aller Anderen? Mit klarem Blicke mitten in den Schmutz hineinzutreten, und doch ihm mühelos ausweichen zu können? Wohl konnte ich begreifen, wie er in einer Art wahn- finniger Laune, grenzenloser Verzweiflung oder kühlster Betrachtung einen solchen tollen Entschluß fasten konnte. Aber- nicht, wie er darin ohne innersten Widerwillen ver- harren konnte? Aber ich begann ihn zu verstehen, je länger ich über ihn nachdachte; zu ahnen, auf wessen Seite heute die Be­schränktheit des Blickes, die Ungerechtigkeit des Urtheils, die Kleinheit des Empfindens gewesen war. Ich glaube, ich habe in dieser Nacht begonnen, gerecht zu werden. HL Als ich am folgenden Abend lange vor der elften Stunde in dem Cafe chantant war, und er mich sah, flog ein leichtes Lächeln über seine Züge. Ich ging in der ersten Pause auf ihn zu und begrüßte ihn. Aber er schien es nicht gern zu sehen, und wir verabredeten uns schnell, nach Schluß der Vorträge zusammen fort zu gehen. Ich sah an diesem Abend meine Umgebung mit ganz anderen Augen an, als sei ein Schleier zwischen ihr und «ir gefallen. Ich suchte zu verstehen, und fühlte, wie es mir gelang. Aber er machte mich nicht fröhlicher, und als ich nachher Paul Jordens gegenübersaß in der kleinen Kneipe ließ ich mir lange und viel von ihm über das Leben und Treiben dieser Menschen erzählen. Er enthüllte Schicksale vor meinen Augen, welche mir bis dahin so fremd gewesen waren, daß ich sie nicht einmal geahnt halte. Und mehr und mehr begann ich in den nächsten Wochen, in denen uns mancher Abend so bei- sammensah, auch ihn zu verstehen, und was es war, das ihn an diese Kreise band. Tiefer und tiefer sah ich in den Zwiespalt seiner merkwürdigen Natur hinein. Die Wochen sind schnell vergangen. Er selbst hat ihnen ein Ende gemacht, und ich weiß es jetzt, aus welchem Grunde. Er wollte nicht gekannt sein. Und als er mir an dem letzten dieser Abende die Geschichte seiner Liebe erzählt hatte, da kannte ich sein ganzes Leben. Bis dahin hatte er mich interessirt. Nun ich ihn zu lieben begann, habe ich ihn verloren. -- Es war mitten im Winter. Wir trafen uns zwanglos wie immer. Eines Abends war er in besonders aufgeregter Stimmung. Seine ganze Verbitterung war in ihm wach geworden, und seine Stimme klang schneidender noch, wie sonst. Er sagte mir selbst, er werde immer mehr zu Allem unfähig die Tage verbringe er halb durchschlafend,(und das sei das Beste), und halb in dumpfem Brüten; die Nächte durchwache er trinkend meist hier in der kleinen Kneipe. Ich fand ihn verändert. Er fing an müde zu werden; wir hatten an manchem Abend fast stumm einander stunden- lang gegenüber gesessen. Am Tage wollte er Mick nicht sehen. Ich wußte nicht einmal, wo er wohnte. Er that mir leid, aber ich hätte jedem Anderen eher helfen können, wie ihm. Dennoch lag in seiner ganzen Erscheinung noch immer nicht eine Spur des Heruntergekommenen. Er war wie immer sehr einfach, aber tadellos sauber gekleidet. Aber in seiner Haltung war schon unbewußt jenes Uebermaß des Widerwillens erkennbar, welches mich das Schlimmste für ihn fürchten ließ. An diesem Abend nun war er so lebhaft, wie ich ihn seit langem nickt mehr gesehen hatte. Ihn beschäftigte offenbar ein Gedanke, zu welchem er immer wieder von unserem Gespräch absprang. Dann schien er sich plötzlich zusammenzunehmen, wie zu einem langgehegten Entschluß. Komm", sagte er, wir standen schon lange aus Du miteinanderich will Dir noch etwas erzählen. Ich hatte es schon länger vor, aber gerade heute sollst Du es hören. Du sollst erfahren, daß ich auch einmal so etwas wie ein Herz in meiner Brust gefühlt habe, sonst glaubst Du es doch nicht." Damit stand er auf'und ging zu der Alten hinter das Büffet. Sie können zu Bett gehen, Mutter, es kommt ja doch Niemand mehr. Wir bleiben heute lange. Unser Bier holen wir uns heute selbst, den Schlüssel bringe ich morgen früh oder vielleichl sind wir dann auch noch da." Als die Alte mit ihrem gewohnten freundlichen Gruß aus der Stube über den Sand geknirscht war, setzte er sich wieder zu mir. Es war lautlos stumm um uns. Die Hausthür fiel in's Schloß, und ich hörte wie die Alte den Schlüssel umdrehte. Dann begann er. Und wie er- zählte er! Mitlebend milbclebend.-- So haben mich nie wieder Worte aus einem Menschenmunde gepackr Nichts habe ich vergessen; ich möchte sagen, kein Wort. (Fortsetzung folgt.) Sozialistische Spaziergänge. B. W.   Junges Gras, da bist du wieder! Kindlich zarte Knospen und Blättchen an Strauch und Baum, gelb und weiße Blüthen, und darüber trunken schwebend ein neugeborenes Bicnchen, Sonnenschein, Lerchenwirbel, Pfeifen der Amsel und allerlei Gezwitscher... alles wie früher im April, alles wie einst, als ich ein Kind war und noch ein Haupthaar trug, so seidenweich und unschuldig duftend wie dies Büschel Frühlingsgras. Wunderlich wird mir zu Much  : Ist denn überhaupt eine Zeit verflossen von damals bis jetzt? Mir scheint, Maler und Bildner verstehen sich nicht ans den Frühling, wenn sie ihn als Knaben darstellen; der Frühling ist vielmehr ein Greis freilich einer von jenen kerngesunden Greisen, an denen die Jahre vorübergehen, ohne die heilere Rüstigkeit zu vermindern. Dieser Frühling ist derselbe, wie einst vor zehn, vor zwanzig Jahren genau ders elbe! Und dennoch! Nicht genau derselbe! Manches ist anders! Viel sogar! O freilich! Bin ich denn blind gewesen? Dieser Frühling ist ja durchaus verschieden von den Lenzen meiner Kindheit und Jünglingszeit. Nur die Acußerlichkeiten sind die gleichen; aber innerlich fühlt sich dieser Frühling doch ganz anders an, als der damalige so kalt, trocken, rauh, farblos!... Mein Gemüth hat sich eben verändert: der Spiegel ist angelaufen, fleckig und zersprungen; drum ist das ge spiegelte Bild nicht mehr schön. Einst war ich froher Er- Wartung voll, harmlos, sorglos und unschuldig. Heute bin ich vielfach das Gegentheil. Woran liegt das? Wer trägt die Schuld an der Veränderung? Etwa das Alter? Ich bin ja erst drei Jahrzehnte alt! Und ich weiß, daß es einzelne Menschen giebt, die noch mit grauen Haaren ein junges Gemüth haben. Ich kenne auch genug Leute, die sehr jung an Jahren sind und doch schon die Hoffnung, Harmlosigkeit, Sorglosigkeit und Unschuld eingebüßt haben. Folglich wird das Alter, mag es auch ein wenig vertrocknend wirken, nicht wesentlich schuld an der Gemüthsverwandlung haben. Das Leben" trägt vielmehr die Hauptschuld, d. h., das Leben in der bestehenden Wirthschaftswelt! Als ich noch Knabe war, schienen mir von jedem Punkte, wo ich stand, tausend Pfade strahlenförmig in die Welt zu gehen und zu allerlei schönen Ländern, Lebens- lagen, Berufen, Freundschaften, Erlebnissen zu führen. Vom Lichte dieserRomantik" war mir die Welt verklärt. Heute ist das anders! Heute lebt in mir das Bewußtsein: Du bist Proletar und wirst es bleiben; das Leben ist ein- förmig; zu hoffen giebt es wenig, zu fürchten mancherlei; und so grau wie dein Tag, und oft weil trüber, ist der Himmel, der sich über deinen Brüdern ausspannt. Einst, als ich noch außerhalb des Erwerbslebens stand, war ich sorglos; daß ich leben würde, war mir selbst- verständlich und kein Gegenstand der Sorge.   Das ist nun anders geworden, seit ich hinausgeschleudcrt wurde in unser wirthschaftliches Leben. Da habe ich eingesehen, daß der bestehenden Gesellschaft das Leben des Einzelnen höchst gleichgültig ist. Er mag selber sehen, wie er sein Leben erhält! Wenn er das nicht versteht, mag er ver- hungern!Soll ich meines Bruders Hüter sein?" Da geht denn die Sorglosigkeit zum Teufel. Wer erfahren hat, was es heißt, auch nur einen Tag ohne Essen zu bleiben, während Stiefmutter Gesellschaft sich kalt lächelnd zu Tische setzt in dessen Herz hat sich eine unheimliche Macht dauernd eingenistet, welche den Blick verändert, das Auge düster umflort, so daß sich fortan die Welt trübe in ihm spiegelt. Auch mein Benehmen gegen meine Mitmenschen hat sich sehr verändert. Früher war ich harmlos, vertrauens­selig, freundlich gegen jedermann wie ein junger Hund, der ja jeden Menschen anwedelt. Heute bin ich mißtrauisch, zurückhaltend, zuweilen feindselig gestimmt. Und das haben nicht die Jahre gemacht, sondern unsere wirthschastlichen Zustände mit ihrem rücksichtslosenKampfe ums Dasein", alias: Konkurrenz. Bei der heutigenUeberproduklion" an Arbeitskräften muß ja derjenige, welcher in der Lage ist, durch Arbeit zu leben, diese seineStelle" eifersüchtig lieben und in manchem Menschen, der sich ihm nähert, einen Nebenbuhler wittern, der ihm den Nagcknochen ent- reißen will. Aber nicht nur ist der Andere mein Konkurrent, ich bin auch sein Konkurrent; und dies Verhältniß verdirbt die Herzen, stiftet sie an zu Lüge, Betrug, Prostitution, Kriecherei, Neid, Haß, Ausbeutung und Gewaltthätigkeit; die heutigen Erwerbsverhältnisse sind Mächte, auf welche Gölhes Wort paßt: Ihr laßt den Armen schuldig werden, Dann überlaßt ihr ihn der Pein." Daß die Gesellschaft, wie sie bis dato ist, den Menschen zwingt, schuldig zu werden, ist mit Naivität in Schillers beliebtemLied von der Glocke  " ausgesprochen, woselbst vom Manne wie etwas Selbstverständliches aus- gesagt wird: Der Mann muß hinaus In's feindliche Leben, Muß wirken und streben Und pflanzen und schaffen, Erlisten, erraffen..." So bin auch ich schuldig geworden; die Unschuld ist vernichtet, und wie eine getrübte Quelle spiegelt nunmehr meine Seele den Frühling da draußen matt wieder. Moderne Gesellschaft, du große Sünderin, so greifst du also mit deiner rohen Hand auck hierher, in den stillen Frieden der Natur", über die knospenden Bäume hinweg in mein Herz, so daß dieses den Frühling anders empfindet, wie einst.... Der einzige Trost ist, daß die heutige Wirthschaft sich einmal abwirthschaflen muß, daß an die Stelle des Kampfes ums Dasein ein freundschaftliches Zusammen- arbeiten zum Zwecke allgemeiner Beglückung treten wird, und daß folglich die Menschen der Zukunft sich Hoffnung, Harmlosigkeit, Sorglosigkeit und Unschuld nicht wie heute, selten, sondern gewöhnlich bewahren werden, auch wenn sie nicht mehr jung sind. Wohldem, der frei von Schuld und Fehle Bewahrt die kindlich reine Seele!" Daß doch ein Sozialist allenthalben, wo er spaziert, selbst zwischen Gras und Knospen, sozialistisch spazieren muß! Eine Enquete über Frauenarbeit in den großen Städten der Vereinigten Staaten  . Ii. Die Enquete des statistischen Arbeitsbureaus hat statt- gesunden in Atlanta  , Baltimore  , Boston  , Brooklyn  , Buffalo, Charleston  , Chicago  , Chicundalo, Cleveland  , Jndianopolis, Louisville  , Newark  , New-Orleans  , Newyork  , Philadelphia, Providence  , Richmond, San-Francisco  , San-Jose, Saint- Louis, Saint-Paul, Savannati. Das mittlere Alter der in der Industrie der Ver- einigten Staaten beschäftigten Arbeiterinnen beträgt 22 Jahre 7 Monate, in Saint-Louis beträgt es 20 Jahre 9 Monate, in Chicago   20 Jahre 8 Monate und in Char  - leston 25 Jahre 1 Monat. Das Durchschnittsalter der Arbeiterinnen ist am niedrigsten in den Städten, in denen Industrien mit mechanischem Betriebe vorherrschen, es steigt in den Städten, wo die Frauen besonders in der Konfek- tions-, Mode- und Wäschebranche:c. thätig sind. 75 pCt. der vernommenen Arbeiterinnen rekrutiren sich aus dem Alter von 14 25 Jahren. Von den 17 427 Arbeiter­innen waren nicht ganz 300 13 Jahre und darunter, 267 über 48 Jahre alt. Für Boston   hat man Hinsicht- lich des Durchschnittsalters der in der Industrie verwen- beten Frauen das Resultat der vorliegenden Enquete mit dem von 1883 verglichen und gefunden, daß das Durch- schnittsalter um 4 Monate gesunken ist.(24 Jahre 9 Monate 1883, 24 Jahre 5 Monate 1888.) Je nach den verschiedenen Industriezweigen steigt und fällt das Aller, in dem die jungen Mädchen ansangen, daselbst zu arbeiten. Die verhörte weibliche Arbeiterschaft der 12 Städte ergab im Durchschnitt 15 Jahre 4 Monate als Altersgrenze. In Philadelphia beträgt dieselbe nur 14 Jahre 11 Monate, in Newyork  , Providence   und Ein- cinnati 14 Jahre 10 Monate, in Savannate 17 Jahre 5 Monate, in San-Jose 17 Jahre 10 Monate und in Charlcston 17 Jahre 10 Monate. 126 der Arbeiterinnen waren seit ihrem neunten Jahre in der Industrie thätig, 337 seit dem zehnten und 464 seit dem elften Jahre. 13 679 der Arbeiterinnen hatten zwischen dem dreizehnten und siebzehnten Jahre ihr industrielles Erwerbsleben begonnen. Die Zahl derer, welche über 20 Jahre alt waren, als sie Arbeit nahmen, war gering. Im Durchschnitt war bis zur Enquete jede Arbeiterin 4 Jahre 9 Monate in der Industrie thätig gewesen, im Vergleich jedoch zu ihrem jetzigen Alter und dem, i« welchem sie ihre Arbeit begann, 7 Jahre 3 Monate. Gegen 8000(7887) Arbeiterinnen hatten bereits ein oder mehrere andere Gewerbe betrieben, ehe sie in die Industrie getreten, in welcher sie im Augenblick der Enqueie thätig waren, 13 333, 77 pCt. der gesammlen vernommenen Arbeiterinnen waren weniger als 7 Jahre und 31 pCt. weniger als 2 Jahre in der betreffenden Branche be- schäftigt. 15 387 der Arbeiterinnen waren unverheiraihete Mädchen, 745 verheirathete Frauen, 1038 Wittwen, 43 geschiedene Frauen und 214 von ihren Männern getrennt| lebende Frauen. Die Mehrzahl der Arbeiterinnen, 14 918 leben in ihren Familien. 8754 führen ihren ganzen Verdienst an die Familie ab, 4267 haben die Wohnung frei und zahlen nur für Beköstigung, und nur 701 können de» i