Berliner Sortal-Politisches Wochenblatt. Zum Sturze Bismarcks.— Die Arbeiter- klaffe und das Genosfenschaftswesen.— Unsere Junker und der Schutz der landwirthfchaftlichen Arbeiter.— Stumm'sche Zwanghaus-Orduuug. — Temperenz-Spitzel in Amerika. — Die Groß- bourgeoisie bekommt wieder Muth.— Partei verhältniffc im neuen Reichstag.— Aufforderung zum Kontraktbruch. RoDelle von Schtfchedrin.— Ein kapitalistischer Spaziergang.— Zur Philosophie des Elends.— Geschichte eines Spinners von Lille . — Die Petition der Berliner Maurer. Der heutigen Nummer liegen S. 25— 40 der Rcichs- tagsbroschürc bei. Neuhinzutrctende Abonnenten erhalten die RcichstagSbeilage gratis nachgeliefert. Wir müssen nochmals dringend bitten, uns alle größeren Einsendungen bis Mittwoch, alle Vereins- notizcn bis spätestens Donnerstag Mittag zu über- senden. Zum Sturze Bismarcks. § Der Sturz btß Fürsten Bismarck kam dem deutschen ReichLphilister sicherlich unerwartet. Aber ob jener nun unerwartet kam oder nicht, der letztere hat sich bereits vollständig darüber beruhigt, und seine Seele schwimmt wieder behaglich in dem glatten Strom der gewohnten Sicherheit. Das Herabfallen der Figur von ihrem Postamente verursachte zwar eine Wolke von Staub und Moder, die darin gesessen hatten; aber als die Wolke, die aus einen Moment den freien Blick zu hindern schien, sich verzog und eine neue Figur mit nicht viel anderem Ausdruck in ihrer Haltung zum Vorschein kam, suhlte sich der ängstlich erschrockene Philister wieder beruhigt, im Grunde sogar vergnügt darüber, daß er einmal etwas Ordentliches erlebt hatte, was ihm reichlichen Stoff zu einer interessanten Bicrtischunterhaltung bot. Und den Rest von Unbehagen, der etwa noch zurückgeblieben war wegen der drohenden neuen Sozi alresorm, beeilte sich die Regierung baldigst zu zerstreuen durch die Bekanntmachung der Vorlage, welche sie dem Reichstage zuzustellen gedachte. So ist alles im alten Geleis und in bester Ordnung, und weder das philoktetische Geschrei noch die sentimentalen Deklamationen über die geschwundene Herrlichkeit, welche man auf dem Umweg über Hamburg aus Friedrichsruh vernimmt, vermögen den sicheren Bürger zu schrecken oder zu rührern� � unsere Bourgeoisie heute vernünftig und selbstverständlich, natürlich und richtig findet, früher hätte sie es nicht gefunden. Man braucht nur daran zu denken, mit welchen Augen und welchen Gefühlen die deutsche Nation, das heißt die deutsche Bourgeoisie, zu ihrem Reichskanzler aufschaute. Man erinnere sich nur, in welchen Kultus der Verhimmelung und Begeisterung gegenüber der„Heldengestalt" Bismarcks sie sich hinein- gefaselt hat, wie sie vor ihm als dem Begründer oder Wiederhersteller von Deutschland Einheit in tiefster Ehr- furcht erstarb, wie sie ihn als den Jnszeneur weltbewegen- der diplomatischer und kriegerischer Aktionen und hundert anderer historischer Großthaten, die man in den Werken von Geschichtsf-- orschern ersten Ranges, wie Sybel und Treitschke , des Breiteren nachlesen kann, anbetete und in den Himmel erhob, und wie sie ihn zum Dank für seine Mühen und Thaten mit Dotationen und Ehrengaben überhäufte. Wie oft ist es nicht ausposaunt worden, daß das Schicksal von Kanzler und Nation unauflöslich mit einander verknüpft sei, daß beide unmöglich von emander lassen könnten, daß Deutschland mit ihm stehe und falle. Die schnöde Wirklichkeit hat diejenigen, die solche Reden etwa für baare Münze nahmen, gar sehr enttäuscht, und sollte ihr Opfer auch zu diesen Leuten gehören, so würde sein Fall nur um so tragikomischer sein. Jene Redensarten haben sich jetzt herausgestellt als das, was sie faktisch waren, als leere Phrasen. Es hat sich gezeigt, wie fest die deutsche Bourgeoisie zu ihrem vergötterte» Kanzler gestanden hat. Zwar, der Exkanzler beweist fast täglich von neuem schwarz auf weiß, daß er von der deutschen Nation und— seiner früheren Stellung nicht lassen mag, aber von dem Umgekehrten, daß nämlich die Nation auch von ihm nicht lassen mag, ist wenig zu verspüren. Man fragt sich unwillkürlich: Wo ist denn die Liebe und Begeisterung für den großen Kanzler geblieben? Man fragt sich: Wo bleibt denn da der gerühmte deutsche Patriotismus und die sprichwörtliche deutsche Treue? In der That, ein besserer Beweis konnte schwerlich geliefert werden, was für hohle, taube Nüsse diese Begriffe sind. Wäre der Sturz der Person Bismarcks zugleich ein Sturz des Systems Bismarck gewesen, hei, hei, da wäre ein Entrüstungssturm flammender patriotischer Be- geisterung für den großen Mann durch die deutschen Lande gefegt. Aber der Sturz gast nicht dem System, sondern nur dem Kanzler, und das war freilich etwas ganz anderes. Als im Frühjahr, merkwürdiger Weise gerade vier- zehn Tage vor den Reichst�qswahlen, die Sozialreform- posaune ihre schmetternden SrnM- hören ließ. M w'tte? te das bürgerliche Preßgelichtcr dahinter sogleich einen An- griff auf den geweihten Kanzler und verlheidigte denselben in wüthendcn Preßartikeln, allen voran die„Kölnische Zeitung ", weil eben diese Presse wußte, daß sie damals in dem Kanzler— wie uneigennützig und ausopfernd patriotisch!— die Interessen ihrer eigenen Klasse vertheidigte. Als sich dann aber— nach den Wahlen — herausstellte, daß die Befürchtungen der bürgerlichen Presse gegcnstandlos gewesen waren, daß dem deutschen Bourgeois kein Härlein gekrümmt worden, sein Geldbeutel ein verschlossener Sesam bleiben sollte, für dessen Oeffnung einen Zauberspruch zu finden, alle Groß- und Kleinveziere der Regierung vergeblich sich ihre Köpfe zerbrachen, da fühlte sich der patriotische Deutsche bei dem wirklichen Sturze seines Kanzlers kaum bewogen, den kleinen Finger für ihn zu rühren, weil— ja weil von oben augenschein- lich keine Gefahr mehr für seinen Geldbeutel drohte. So steht es in der That: auf dem Grunde der Börse des Bourgeois liegt das Geheimniß der patriotischen Kanzler- bcgeistcrung von ehemals und auch das Geheimniß seines sang- und klanglosen Sturzes von gestern begraben. Nicht dem Kanzler, dem Diplomaten, dem„Einiger" Deutschlands , dem Vollbringer so und so vieler rühm- reicher Thaten, sondern dem unentwegten Vertreter der Bourgeoisinteresscn, dem erbitterten Gegner der deutschen Arbeiterklasse, dem Todfeinde jeder freiheitlichen Regung auf politischem wie wirthschaftlichem Gebiet hat die Be- gcisterung und der Patriotismus der Bourgeoisie gegolten. Wäre dies jemals ungewiß gewesen, die jüngsten Ereig- nisse hätten es außer Zweifel gestellt.»So hat sich die Begeisterung für den großen Kanzler als die Begeisterung für den eigenen Geldbeutel entpuppt. Und da Bismarck seine Mission als Geschäftsführer der kapitalistischen Klassen getreulich erfüllte, so konnten sich dieselben auch von ganzem Herzen zu der Gegenliebe verstehen, ihm Erfolg über Erfolg auf allen Gebieten an- zudichten und ihn auch da zu lobhudeln, wo nicht gerade etwas für ihre Taschen abfiel. Ja, bei ihrer Feigheit ließ:» sie es sogar ruhig geschehen, daß er über die Stränge schlug, und der Großgrundbesitzerklasse, den Edelsten der Nation, von der Gcsetzgebungsmaschine die fettesten Bissen servirt wurden, eine Episode, welche nicht gerade zu den ruhmreichsten der deutschen Bourgeoisie gehört. Daher endlich fand dieselbe das Schicksal der deutschen Nation mit dem ihres großen Kanzlers auch nur so lange unauflöslich verknüpft, als sie durch ihn ihr Interesse voll- kommen gewahrt wußte, und bei seinem Ablritt von der politischen Bühne war ihr patriotisches Herz auch nur so lange ängstlich bedrückt, als die Zukunft ein wenig unsicher schien. Aber diese Wolken— die auch wohl nur in der Einbildung bestanden haben— verzogen sich, und damit war das ideale Feuer des Kanzlerpatriotismus überflüssig geworden. Marx sagt einmal irgendwo, man könne die ganze Plattheit der Bourgeoisie an dem Kaliber ihrer große« Geister ermessen; wir möchten hinzufügen, den schmutzigste» Egoismus der Bourgeoisie kann man nirgends besser er- messen als an dem Sturze ihrer großen Geister. Die Arbeiterklalsr und das GenossenschaftsWese«. i. Gegenwärtig, wo in Frankreich wie in allen industriali- sirten Ländern die Proletarier mehr und mehr klaffen- bewußt ihr Haupt heben und die Abschlagszahlung einer umfassenden Arbeitsschutzgesetzgebung vom Staat fordern, da hat auf einmal die französische Bourgeoisie ihren Sold- schreibern die Ordre gegeben, die Bethäligung der Staats- gewalt, die ihr so natürlich und wohlthätig erschien, so lange dieselbe ausschließlich zu ihrem eigenen Vortheil monopolisirt, auch nur zu ihrem eigenen Gunsten geübt ward, als etwas wesentlich Unheilvolles zu malen, sobald sie sich zu Gunsten der Arbeiter manifestiren soll. So lange sich der ouüe S.and Mit der Menschheit identifizirtc, seine Interessen für die Interessen aller Gesellschaftsklassen hielt, sich sozusagen als dw Ge- sellschaft par excellence vorkam, da war es in der Ordnung und löblich— weil einträglich—, daß der Staat seine Gewalt in allen Verhältnissen„zum Wohle der Gesellschaft" pur excellence in die Wagschale warf. Kaum aber fängt das Proletariat an, die Rolle des Staats als Vertreter der gesummten Gesellschaft ernst zu nehmen und ihm zuzurufen:„auch wir sind Gesellschaft, auch wir sind Staat"—, so werden andere Saiten auf die Guitarre gezogen. Der behufs Besserung der Lage der Arbeiter geforderten Intervention der Staatsgewalt durch eine Arbeitsschutzgesetzgebung wird das allein selig- machende Heil der Selbsthilfe durch Kooperation(Genossen- schaftswesen) rc. gegenüber gestellt. Wie in Deutschland in jüngster Zeit die Hirsch- Duncker'schen Steifleinenen aufmarschirt sind und sich gegen Regelung der Arbeitszeit und Arbeitslöhne er- wachsener männlicher Arbeiter auf gesetzlichem Wege erklärt haben, weil sie alle diesbezüglichen Reformen nur durch die freie Initiative der Gewerkschaften errungen wissen wollen; wie sich in England erkaufte oder verbohrte Führer der Trades-Unions gegen die Intervention des Staats zu Gunsten der Proletarier sträuben, so lassen es sich in Frankreich Jules Simon , Leroy-Beaulieu, Say zc. angelegen sein, die Rolle des treuen Eckardt zu spielen, welcher die Arbeiterklasse nicht auf die„gleitende und gleißende Bahn einer Arbeitsschutzgesetzgebung gelangen lassen will, die direkt zum Staatssozialismus und damit zur Negation aller individuellen Initiative und Freiheit führt." Und um den Proletariern diese köstliche individuelle Initiative und Freiheit, die für Millionen heutzutage nur die Freiheit des Hungers und Kummers bedeutet, zu er- halten, flöten die Herren das einschläfernde Lied der Selbst- Hilfe, der Produktivgenossenschaflen, der Konsumvereine, kurz lauter sozialer Pflästerchen und Tränklein, die schon längst bei der Arbeiterschaft als arge Quachalbereien in Mißkredit gerathen sind. Es liegt System darin, daß die Bourgeoisie überall die Forderung einer Arbeilsschutzgcsetzgcbung damit ab- zuwehren sucht, daß sie die Schalten eines Tobten, das Gespenst eines todtgebornen Prinzips, beschwören läßt. Freilich wird die bei dem Geschäft aufgebotene Liebesmühe umsonst verschwendet sein. Die Erfahrung hat die Arbeiter- schäft so gewitzigt, die sozialpolitische Propaganda hat sie derart aufgeklärt, daß das Prinzip der bloßen Selbsthilfe nicht einmal durch Galvanisation für einen Moment lang dem Anschein nach in's Leben zurückgerufen werden kann.
Ausgabe
4 (31.5.1890) 22
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