„Welche Unverschämtheit von den Händen!" Die Fensterhöhlen, die Thören, die Souterainöffnungen, alles klaffte schwarz oder war mit Brettern verlegt. Man hätte an eine stattgefundene Beschießung denken können, aber mit recht großen Kugeln. Wann wird denn hier Feierabend gemacht? wandte sich mein Freund an einen Mann im Arbeitskittel, der scheinbar gleichgültig bei unserer Annäherung herangekommen und stehen geblieben war. Der Befragte sah den Anderen groß an, wie Einen, mit dem man wegen seiner bodenlosen Unwissenheit nur Mitleid haben könne.— „Und da hatte er nicht so Unrecht!" Dann sagte er kurzweg:„Weet So denn nich, min leve Mann, dat de Muurlüd streickt?" Richtig. Ich hatte ja davon gelesen, nur nicht daran gedacht, meinem Freund jedoch, in seiner Melbeschästigung, war die Sache neu. Sie machte großen Eindruck auf ihn. „Begreiflicherweise! Denn nun war es ja mit der Geburtstags-Bowle Essig." Wortlos traten wir an die Umzäunung des Gartens und stellten uns auf die Fußspitzen, um wenigstens zu sehen, wie es im Hintergebäude aussieht. Doch auch hier war das Aussehen nicht weit her. Glich das Haus dornen einem beschossenen Kastell, so war es hinten herum um nichts besser bestellt. Der einzige Unter- schied bestand darin, daß das Haus vornen wie mit Vollkugeln, hinten aber wie mit Sprenggeschossen behandelt aussah. Mein Freund suchte den Bauunternehmer auf. Wie wird es mit dem Beziehen meines Hauses im April werden? redete er ihn an. Der Unternehmer zuckte die Achseln. Es ist Aussicht auf Beilegung des Streiks vorhanden, sagte er kleinlaut. Im Uebrigen habe ich für Sie ohnehin mehr gethan, als für irgend einen uieiner Auftraggeber. Denn während bei allen anderen gefeiert wird, wird bei Ihnen wenigstens im Innern des Hauses gearbeitet. Im Inneren? Ei, davon haben wir aber gar nichts gesehen, obwohl wir rund um das Haus herum gegangen sind. Das glaube ich Ihnen gerne, gab der Unternehmer zurück, die zwei zuverlässigen älteren Leute, die in dem Treppen- hause Kacheln legen sollen, fangen überhaupt erst zu arbeiten an, wenn die Anderen zu Bette gehen, oder sicher in der Kneipe sitzen. Haben Sie denn nicht den Streikerwachtposten gesehen, der in der Nähe Ihres Hauses tagsüber aufpaßt, obJemand zur Arb eit kommt? „Sie sind ja ein wahrer Künstler, unterbrach ich den kapitalistischen Dichter. Welch ein ergreifendes Bild: Das rohe Arbeitsvolk ist widerspenstig gegen seine Brotherren, will keine zehil Stunden arbeiten und obendrein nichi dulden, daß andere— wie sie sagen, zuverlässige ältere Leute— für den Unternehmer schuften. Drum stellt es Posten aus, die den Streik überwachen sollen. Aus Angst vor diesen gefährlichen Individuen, die ja zu Allem fähig sind, halten sich die arbeitslustigen„zuverlässigen, älteren Leute" dem Schauplatze des Streiks fern. Aber heimlich, bei Nacht und Nebel, während das rohe arbeitscheue Pack — wie Sic treffend bemerken—„sicher in der Kneipe sitzt" oder die faulen Knochen im Bette wälzt, schleichen die Biedermänner— sonst Streikbrecher genannt— herbei, um sich für den lieben guten Unternehmer abzurackern.— Das haben Sie sein ersonnen! Thränen des Mitleids mit sich selbst müssen bei dieser Vorstellung dem Kapitalisten ins Auge treten; und zugleich muß dieses Auge grollen über einen Staat, welcher das Sozialistengesetz abschaffen will und den eisernen Kanzler sowie den schneidigen Streik- Erlasser und Beschirmer„pflichttreuer" Beamten hat gehen heißen.--— Aber verzeihen Sie diese Unterbrechung und fahren Sie gütigst in Ihrer Erzählung fort. Also der Streikwachtposten!" Der Streikerwachtposten! Das also war der Mann, der bei unserer Anfahrt vor dem Hause meines Freundes anscheinend so gleichgültig an uns herangetreten war! Mein Freund bat den Unternehmer, seinen Leuten nach Kräften entgegen zu kommen und ans ihre Forderungen einzugehen, damit zu dem bedungenen Termine das Haus wenn schon nicht bis auf den letzten Wasserspeier fertig, so doch überhaupt beziehbar ge- macht wäre. Die Mehrkosten wolle er gerne tragen. Der Unter- nehmer zuckte die Achseln. Er sei ohnehin schon weiter gegangen in seinem Anerbieten als einer seiner Kollegen, doch die Arbeiter erklärten abtheilungsweisc Vereinbarungen durchaus nicht eingehen zu könnnen. Alle für Einen, oder u. s. w. u. s. w. Hier pustete der kapitalistische Dichter, als versagten ihm vor Entrüstung die Worte. Dann fuhr er fort: Im März trafen wir uns wieder.—„Das Haus dürfte am Gebuttstage meiner Frau mit Ach und Krach gerade fertig sein, rief mir mein Freund schon von weitem zu, aber eben nur das Haus. Dafür ficht es mit dem Garten gräulich aus. Da haben sie Alles von Unterst zu Oberst gekehrt und just da die Gärtner damit beginnen sollten, das Oberste wieder nach Unten zu legen, hat Die wiederum die Streiktarantel gestochen!" Also die Gärtner! Das ist zwar unangenehm, aber kein Un- glück. Am Ende kann man ja auch ohne Magnolien leben und ohne Rosen fröhlich sein. Das fand auch mein Freund und mit den Worten„und nun erst recht auf ein ftöhliches Wiedersehen bei der Gcburtagsbowle meiner Frau!" gingen wir auseinander. „Ich merke schon— warf ich ein— es ist eine Geburtsrags-Bowle mit Hindernissen. Wie wär's, wenn Sie als Titel wählten:„Im Zeichen der Streikes oder die Geburtstags-Bowle mit Hindernissen"? — Trotz dieser Hindernisse aber behält der wackere Bourgeois den Kopf oben und verzichtet„nun erst recht nicht" auf die Bowle." Das ist brav!— Aber bitte, fahren Sie fort. Aber schon nach einigen Tagen kam eine Postkarte mit einer unumwundenen Absage:„Die Geburtstagsfeier im neuen Hause ist endgültig aufgegeben. Die Gärtner sind zwar wieder angetreten, dafür aber haben jetzt Maler und An- streich er die Arbeit eingestellt und das Haus sieht aus, wie ein Hase, dem man theilweise das Fell abgezogen hat. Wir wollen dafür nachträglich um so vergnügter sein, doppelt ver- gnügt, nicht wahr, mein Alter?" so schloß der Brief. „Ihr Bourgeois erhält allmählich einen geradezu heldenhaften Anstrich. Erst streiken die Maurer, dann die Gärtner und nun drittens die Anstreicher. Der Bourgeois muß also das Feld räumen. Aber der Held verzichtet keineswegs auf die Geburtstags-Bowle, sondern denkt:
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und hinterher ist man doppelt vergnügt." Ich beeilte mich, meinem Freunde zu betheuern, daß er unbedingt aus mich zählen könne. „Das war edel von Ihnen! Sie haben Recht: einen Freund läßt man nickt im Stich, am allerwenigsten bei einer feinen Geburtstags-Bowle." Nebenbei war ich jedoch nicht frei von Sorge. Wir standen ja am Ausgang des März, wenige Wochen also noch vor dem, diesmal in doppeltem Sinne so unerfreulichen Mai- termine. Die alte Wohnung war gekündigt, und wenn die neue noch nicht beziehbar gemacht, wohin sollte mein Freund sich wenden? Der aber beruhigte mich mit seinem guten Humor._„Das Dach sitzt auf und Thören und Fenster klappen auch. Somit wird Mitte April eingezogen und wenn es Schusterjungen regnen sollte!" Das waren seine Abschiedsworte und dabei blieb es. Und als wir uns so um den Zwanzigsten herum wieder trafen, zwinkerte er gar lustig mit seinen treuen hellen Aeuglein und, indem ein vergnügtes Lachen sein gMes breites Gesicht überlief, rief er mir zu:„Sitzen schon innen. Famose Bude das. Meine Rangen schlafen wie die Möpse in ihrer neuen Stube und meine Nenni(Nennt ist nämlich das Jntimitäts-Diminutiv für die Frau Doktor!) auch. Nächsten Sonntag also die bewußte Bowle! Wird ein Hauptspaß werden Kommen alle möglichen Leute. Also gleichfalls pünktlich kommen und durchaus nicht im Nobelflaus. Bitte mir das entschieden aus. Straßentoitette Bedingung, einzigste aber unumstößlich!" Und damit war er mit einem stillen und vergnügten Lachen, das etwas von einem Schelmen an sich hatte, dem ein gar feiner Streich gelungen ist, wieder um die Ecke. Und so kam der Sonn- tag. Wider Willen hatte ich mich verspätet und kam zu einer Stunde, die schon zu spät war für das Mittagessen, aber immer noch früh genug für die Bowle. Das Haus war nicht wieder zu erkennen, so schmuck sah es aus. Aus dem Rahmen des ersten Grüns, das die hellen Wände von allen Seiten umgab, guckte es heraus, wie ein frisches Mädchenangesicht aus einer nagelneuen Morgenhaube. Ich klingelte. Eine niedliche Magd öffnete. „Ei, Sie Schäker Sie! Sie haben wohl gar die Scköne in die Backen gekniffen? Ja, so gehört es sich! Wenn man in ein seines Haus geladen wird, weshalb soll man dann blos Augen für die prunkvolle Einrichtung haben? Ist nicht solch eine niedlicke Magd oft die Perle des Inventars? Also die niedliche Magd öffnete; erzähle» Sie weiter!" Die Herrschaft zu Hause? Alles im Garten. Unnütze Frage, das liiitte ich mir selber sagen könne», denn von der Gartenseite her erscholl lautes Gelächter und ein Gcwirre von Stimmen. Die Geister der Bowle waren also schon am Werke. Ich durchschritt den Korridor. Hübsch wie das Aeußerc war auch das Innere des Hauses. Alles ge- täfelt, der Boden parkettirt, an den Wänden gute Kupferstiche, selbst hier im Durchgehraume,— ei, der Mensch versteht zu wohnen. „Da läuft Ihnen wohl das Waffer im Munde zusammen?" Beim Eintritt in den Garten empfing mich ein überraschendes Bild. Da war ein Dutzend männlicher und weiblicher Personen in Arbeitskitteln, mit Farbtöpfcn in der einen, und schweren Anstreicher- pinseln in der anderen Hand in emsiger Thätigkeit. Die Einen waren beschäftigt, das Gitterwerk mit Schwarz zu überziehen, die Andern überstrichen Gartcubänke und Tische mit dem giftigsten Schweinfurtergrün- Zwei Männer standen auf Leitern und Pinselten an den Fenstersimsen— und alles das geschah in der lustigsten Weise, unter Scherzredcn und neckenden Zurufen, und unter häufig wiederkehrenden Hciterkeitsausbrüchen. Einen Augenblick schien es, als wäre ich in eine ambulante Anstreicher- und Malertruppe mitten hineingerathen, die eben erst die Zusage einer löOprozcn- tigen Lohnerhöhung gegen ein dreistündiges Maximal- arbeitsmaß zugesichert erhalten hat, und nun daran ist, ihren Arbeitgeber weidlich zu verlachen. „Haha! Famoses Bild! Das wirkt, das hetzt so recht gegen die verfluchten Arbeiter.. Kos! Kss!— Sie sind ein brillanter Agitator! lööprozenlige Lohner- höhung... dreistündiges Maximalarbeitsmaß.. Arbeitgeber weidlich verlachen... großartig!" Einer der beiden Männer in vielfach bekleckstem Drilchkittcl, eine blaue, kühn aufs Ohr geschobene Papievmlltze auf dem Kopfe, der auf einer der Leitern gestanden, kam jedoch mit einem wahren Ungethüm von einem Borstenpinsel in Händen, sogleich auf mich zu und führte mich lachend in die Wirklichkeit ein. Es war der Arzt, mein Freund, der Hausherr selbst.„Nimm mir den Spaß nicht übel", rief er, mir seine blau-grau-grün besprenkelte Rechte zum Willkommen entgegenhaltend,„aber der Spaß ist für mich im Grunde verteufelter Ernst. Die Maler und Anstreicher streiken nämlich noch immer und wer weiß für noch wie lange. Da habe ich gedacht, wozu hätte man denn Freunde, wenn sie einem nicht in der Roth aushelfen sollten, und so war die Einladung zur Bowle eigentlich nichts anderes als eine maskirte Einladung, mir meinen nackten Garten ein wenig auf den Glanz herstellen zu helfen. Es war, wie ich ja reuig zugeben will, das gewiß eine recht niedrige That von mir, aber wir leben leider nun einmal im Zeit- alter des Gemeinen..." Und dabei lachte der Schalk, daß es ganz unmöglich gewesen wäre, ihm gram zu sein, auch wenn man es hätte wollen, was mir aber begreiflicherweise ganz und gar nicht in den Sinn kam. Und die Anderen, nämlich die Genossen des lustigen„Reinfalles" ringsumher lachten mit, und ich beeilte mich, in die Heiterkeit mit einzustimmen, und als spät am Abend die Sonne sank, da hatte ich die rückwärtige Seite einer Sitzbank, die bei meiner Ankunft noch ganz holzbraun gewesen, so wunder- schön grün angestrichen, daß ich empfand, wie auch ich ein volles Anrecht erworben habe, theilzunchmen an der allgemeinen Lohn- aufbesserung, die unser Arbeitgeber aus freien Stücken in Gestalt' einer Extrabowle anrücken ließ. Der Sonntag hatte sich schon recht ansehnlich dem Montag genähert, als wir auseinander gingen.„Wir Gcgenwarts- menschen sind viel zu weichlich und viel zu verwöhnt geworden", sagte unser launiger Gastfreund zum Abschiede. „... Und das war sehr gut gesagt von dem Herrn Doktor. Ja wohl, wir Bürger sind die eigentlichen Gegen- wartsmenschen. Die millionenköpfige Masse zählt gar nicht. Drum wollen wir immer stolz sagen: Der Staat, das sind wir— die Bourgeoisie!— Doch verzeihen sie die Unterbrechung. Wie sagte denn der Herr Doktor weiter?" Bei allen Fortschritten, die wir in der Wissenschaft und auch sonst gemacht, haben wir uns in ein Abhängigkeits-Verhältniß hinein- gelebt, wie es unsere Altvordern sich niemals haben träumen lassen. Zu allem, was wir für unsere Bequemlichkeit und Nothwendigkeit brauchen oder doch zu brauchen vermeinen, rufen wir immer erst fremde Hülfe an. Thäten wir es in manchen Dingen so, wie wir es heute mit den Mal- und Anstreichearbeitcn gethan, bücken wir unser Brot selbst im Hause, webten unser Zeug, nähten unsere Leinen und so fort, es sollte
den Herren Streikregisseuren wahrhaftig nicht so leicht werden ihr Unwesen so wie jetzt zu treiben."— „Bravo ! Das ist eine geniale Idee! Das wäre in der That ein Mittel, um das begehrliche Proletariat kirre zu machen. Wohlan, Kapitalisten, emanzipirt Euch von Euren Arbeitern! Arbeitet selber! Baut eigenhändig eure Häuser, webt und näht eure Kleider, dreht eure Maschinen- räder! Dann seid ihr unabhängig von den Streikregisseuren; dann kann es vom Pöbel nicht mehr heißen: „Alle Räder stehen still, Wenn dein starker Arm es will" Man stimmte dem resoluten Manne bei und schied mit dem Versprechen, am Abend des zweiten Montags im Mai sich wieder zusammenfinden zu wollen, an dem an Stelle der verschobenen Ge- burtstagsbowle der Frau Dottor eine solche Bowle zu Ehren des Geburtstages des ältesten Söhnleins, der auf diesen Tag fiel, nach- geholt werden sollte. „Das ist wahrhaft rührend! Ja, in unserm Bürger- thum steckt eine sittliche Hoheit, die wohlthuend absticht gegen die pöbelhafte Gesinnung des Proletariats."
Zur Uhilosophie des Elends. P. E. Eine beliebte Hebung des moralischen Spießbürgers ist es, über das Elend in der Welt zu jammern. Wie entsetzlich! Er hat einen anständigen Rock, und wie viele, viele Menschen giebt es, welche keinen anständigen Rock haben! Er ißt gut und trinkt gut, und wie viele Menschen haben gar nichts zu essen zu trinken! Es macht keinen Unterschied, ob das Jammern von den entsprechenden Handlungen begleitet ist oder nicht; der eine beschränkt sich auf seine sentimentalen Redensarten, der andere ist außerdem noch„wohlthätig"; die Wohl- thätigkeit ist indessen ein Luxus, den sich verhältnißmäßig nur wenige gestatten. Der Effekt ist, wie gesagt, in beiden Fällen derselbe; denn weder durch das Jammern, noch durch die Wohlthätigkut kann man das Elend aus der Welt schaffen; und das Ganze hat meist weiter keinen Zwecks als die eitle Persönlichkeit des Spießbürgers an's Licht zu stellen. Es ist überhaupt die Frage, ob ein Grund vorhanden ist, über das Elend zu jammern; mit andern Worten: Ist das Elend ein Ucbel? Der schlaue Bourgeoisphilosoph ist natürlich gleich bei der Hand.„Natürlich ist es ein Uebel! Das Glück besteht in Lustempfindungen. Das Elend hemmt aber die Lustempfindungen und verursacht Unlustgefühle." Selbst wenn man diesen Beweis für richtig hielte— und er ist unrichtig— so märe doch damit nur bewiesen, daß das Elend für den Einzelnen ein Uebel wäre. Damit ist noch nicht gesagt, daß es auch ein Uebel für die Gesellschaft ist. Freilich, wenn man nach der Manier der bürgerlichen Philosophie die Gesellschaft als die Summe aller Einzelnen auffaßt, so kann man sagen: Was für den Einzelnen gilt, das gilt um den betreffenden aliquoten Theil auch für die Gesellschaft; was dann sehr hübsch mathematisch und hauptbuchmäßig ist. Aber die Gesell- schaff ist etwas anderes, als die Summe der Einzelnen. ie ist ein selbstständiger Organismus, welcher eigenen Gesetzen gehorcht und eigene Empfindungen hat; sie ge- horcht nicht den Gesetzen, welchen der Einzelne unterthan ist, und hat nicht die Empfindungen der Einzelnen. Das Elend, gesellschaftlich betrachtet, ist der Antrieb zum Fortschritt. So lange es dem Menschen gut geht, hat er natürlich keine Veranlassung, sich nach Veränderung zu sehnen, er ist„zufrieden". So jst das Vieh ans der Weide auch zufrieden. Es wird des Morgens ausgetrieben, des Abends eingetrieben, dann wird es gemolken, und am Ende geschlachtet. Das ist sein Loos, und darin fühlt es sich zufrieden. Elend unter den satten Hausthieren existirt nicht. Sobald der Mensch Elend empfindet, ist ihm auch der Grund gegebe», weiter zu streben. Das Elend ist das rcvolutionirende Element in der Geschichte, der Antrieb zum Fortschritt, das Bewegende des geschichtlicheil Lebens, es macht die Geschichte. Der Spießbürgerinstinkt ist bewunderungswürdig, wie er in seinem unklaren Drange das Richtige trifft. Das Elend bejammern und lindern, ihm möglichst seinen Stachel, seine revolutionäre Kraft rauben, ohne doch an seiner Grundlage etwas zu ändern— welche bessere Politik kann es für diese Leute geben? Wäre es möglich, sie möchten eine Klaffe sich glücklich fühlender Kulis schaffen. Das Huhn im Topfe ist zuweilen ein besseres Unterdrückungs- mittel wie der Gensdarm. Das Huhn im Topfe kostet den Bürger freilich Geld und er möchte gern die Sache so billig wie möglich haben. Und ein feiner Psycholog, wie er ist, sobald es fich um seine Interessen handelt, kommt er bald auf die richtigen Sprünge. Das Elend ist nichts Objektives, nichts, was da ist und nun, empfunden wird; es ist nur eine Relation, eine Beziehung; eine Beziehung des Menschen zu seinen Ver- Hältnissen. Was ein Rothschild Elend nennt und als Elend empfindet, ist etwas ganz anderes, als was der Arbeiter als Elend empfindet. Das Huhn im Topfe versucht nun eine Bestimmung auf die eine Seite des Verhältnisses auszuüben. Wenn die umgebenden Bedingungen besser werden, so verschwindet das Elend. Eben so gut kann man aber auch auf die andere Seite des Verhält- nisses einwirken: man kann eine Veränderung im Menschen zu stände bringen, so daß er das nicht mehr als Elend empfindet, was er vorher empfunden hat. Man nennt das „dem Arbeiter Zufriedenheit mit seiner Lage verschaffen." Die Huhn-Methode und die Zufriedenheitsmethode erscheinen beide gleich geeignet, zum Ziel zu führen. Beide