2. Beilage zum„Vorwärts" Berliner VolkMatt.Ur. 238.Sonnabend, de» 10. Oktober 1896.13. Jalm».Die englische Sozinldemokentieund die nrmenifche Fenge.London, den 2. Oktober.Die englische Sozialdemokratie hat sich in ihrer Mehrheitder Agitation gegen die Mißwirthschaft in der Türkei ablehnendwenn nicht seindselig gegenübergestellt. Es ist ja begreiflich, daßeine Partei, deren spezielle Mission die Aufdeckung und Be-käinpfung der Mißivirtbschaft daheim, im zivilisirten Europa istsich jeder Agitation kritisch gegenüberstellt, welche dazu geeignetist, die Aufmerksamkeit des Volkes von dieser ab- und sernliegeudenAngelegenheiten zuzuwenden. Eine kritische Haltung erscheintauch schon deshalb angezeigt, weil in der Agilation gegen dasSultan-Reziment die maßlosesten Uebertreibungen und unsinnigstenVorschläge aufgetischt werden. Was die radikale Londoner Presse indieser Hinsicht geleistet, forderte wirklich den entschiedenste» Wider-spruch heraus. DieseBlätter übergladstoneten den altenGladstonc nochWen» dieser von Howarden aus die Donner seiner unzweifelhafttiesempfundenen Entrüstung gegen den Sultan Abdul Hamid er-tönen ließ, ihn der Mitschuld an den Niedermetzelungen derArmenier anklagte, so wurde im„Star",„Chronicle"„Sun" ii. f. w. der Krenzzeug gegen den Attila des 19. JahrHunderts gepredigt; und wenn Gladstone in Liverpool den Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der Türkei empfahlum dadurch einen nachhaltigen Druck auf den Sultan nnd daseuropäische Konzert auszuüben, so ward in jenen Blättern undvon Rednern, die ans ihnen ihre Inspiration schöpften. schonder halben Welt der Krieg erklärt. Lord Rosebery.der als weiland Minister des Auswärtigen sich derSchwierigkeiten der Situation voll bewußt ist und daherabgelehnt hat, dem derzeitigen Inhaber der Stelle ins Handwerkzu pfuschen, wird vom„Chronicle" mit ausgesuchter Gehässigkeittraktirt— diese Zeituugsdemokratie gleicht dem Wilden, derseinen Fetisch in Stücke zerschlägt, wenn er nicht thut, wie erwill oder es grade brauchte. Daß Rosebery in der Zurückhaltungübertreibt, ist freilich auch meine Ansicht. Als Führer derOpposition dürfte er schon etwas mehr aus sich heraustretendem Bedürfniß seiner Partei nach Belhätigung etwas mehr Rechnung tragen. Daß er jedoch in das Kriegsgeschrei des FleetStreet-Radikalismus nicht einstimmen mochte, wird man ihmnicht verargen können. Und ebenso forderte dies Geschrei dieKritik der Sozialdemokratie heraus.Diese hat nun in einer großen-Versammlung im Rathssaal des Bezirks Holborn(östliches Mittel-London) ihren Aus-druck gefunden. Die Versammlung war von der Sozialdemokratischen Föderation etnberufen und glänzend besucht. JaniesMacdonald, der Sekretär des Londoner Trades-Council, präsidirteund Hyndrnan hielt das Referat. Der Inhalt desselben, dasmit stürmischem Beifall aufgenommen wurde, reflektirt sich infolgender, von der Versammlung beschlossenen Resolution:„Die Versammlung erklärt, hinsichtlich der Agitation wegendes Abschlachteus vbn Armeniern in der Türkei, daß. währendwir die Erneuerung der Jahrhunderte hindurch von Kurdenund anderen wilden Stämmen an den unglücklichen Armeniernverübten barbarischen Gewaltthaten beklagen und es bedauern,daß die europäischen Mächte zwei Generationen lang versäumthaben, die Durchführung der von der türkischen Regierungfeierlich akzeptirten Vertragsbedingungen zu erzwingen, die denderselben unterworfenen Völkern Freiheit und Sicherheit ge-währleisteten— daß die Versammlung dennoch ernsthaft gegen diejetzt von blutrünstigen Religiousvertretern gemachten Versucheprotestirt, Großbritannien in einen einseitig zu führenden Kriegfür die unglücklichen Opfer hineinzutreiben, da es klar ist, daßsolch' unbesonnenes Borgehe» unvermeidlich Greuel über Europaheraufbeschwören würde, noch weit größer als die. welche siemit recht in der Türkei verurtheilen. Die Versammlung brand-markt ferner die Verrätherei derer, welche, unbekümmert umdie scheußliche» Verbrechen der russischen Regierung gegenJuden, Siundisten und russische Volksfreunde(„Uussianpatriots'), dafür eintreten, daß die türkischen Völkerschaften inEuropa und Asien dem Schrecken moskowitischer Tyrannei ans-geliefert werden.„Des ferneren beschwört die Versammlung die ArbeiterGroßbritanniens, im Auge zu behalten, daß dieselben Leute,welche jetzt über die armenischen Greuel schreien und heulen.gegenüber den mafsenhaflen Abschlachtungen von Sudanesennnd Matabili's im Interesse der Kapitalisten- und Grundbesitzerklaffe ebenso gleichgillig gewesen sind und noch sind, wie siees gegenüber der Aushungerung von Kindern, der Auspressungund Vergiftung von Männern und Frauen und der absicht-lichen Degradirung von Millionen unseres Volkes im Interessederselben Klasse daheim sind. Die Versammlung richtet daheran alle Sozialisten und Demokraten den Mahnruf, dem wohl-berechneten Versuch, durch hysterische Schwindelreden und ekel-hafte Heuchelei das Volk irrezuführen und seine Aufmerksamkeitvon den eigenen wichtigen Angelegenheiten abzulenken, mitallen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzuwirken."Zieht man von dieser Resolution alles ab. was als Gegen-regung gegen die Uebertreibungen der Radikalen und gewisserKanzelredner nothwendigerweise selbst wieder Uebertreibung ist,so wird man finden, daß in der Sache selbst die Resolution sichebenso entschieden gegen die Fortdauer des jetzigen Regimentsin der Türkei wendet, wie die Masse der bürgerlichen Gegnerdieses Regiments. So erklärten auch Hyndman und andereRedner, die in der Versammlung auftraten, ihre Sympathiemit den für ihre Nationalität sich wehrenden Armeniern.Ferner wurde die Verfchleppnngspolitik der Großmächte,das System, die Tinge stets bis zum äußerstenkommen zu lassen. bis man die Hand rührt— dasgrundsatzlose Sichtreibenlassen— scharf gegeißelt. Für denstsbus quo in der Türkei ist heute kein Mensch in Eng»land. Die Politik Disraeli's. die Türkei— d. h. dieoltoinanische Regierung— als eine Schutzwehr gegen Rußlandzu behandeln, ist selbst vom Gros der Konservativen auf-gegeben. Lord Salisbury ist mindestens so antitürkisch gesinntwie Rosebery, und womöglich auch wie Gladstone. Zwischenden beiden erstgenannten soll eine Art stilles Einvernehmen überdie Behandlung der türkischen Angelegenheiten bestehen, ver-mittelt durch den Prinzen von Wales. Ist das Gerücht, dasseit Wochen darüber herumläuft, richtig,— und die Thatsache,daß der Prinz, ehe er nach Balmoral ging, Rosebery besuchte,spricht jedenfalls»icht dagegen— so würde damit die Zurückhaltung des letzteren und noch manchesandere erklärt sein. Es liegt auf der Hand, daßSalisbury dem Zaren gegenüber eine sehr viel besserePosition hatte, wenn er ihm Gewähr dafür bieten konnte, daß«in etwaiger Regierungswechsel in England keine Aenderungvon dessen auswärtiger Politik brmgen wird.Kein Zweifel, daß Englands maßgebende Staatsmänner eineAnnäherung resp. Verständigung mit Rußland suchen. Wenndiese nur dadurch zu erreichen ist. daß der schon sehr beschädigteBerliner Vertrag vollends zerrissen und der Vertrag von SanStefano in allen wesentlichen Pnnkten wiederhergestellt wird, sowird England wahrscheinlich darauf eingehen. Mit anderenWorten, es wird Rußland offiziell als die vornehmsteSchutzmacht der christlichen Unterthanen des Sultans an-erkennen, ihm offiziell das Uebergewicht am Bosporus ein»räumen, das es äs taoto schon besitzt. Die Frage desnahen Orients wird nach den Wünschen der russischen Diplomatiegeregelt, und man kann sich darauf verlassen, daß diese Regelungeine solche sein wird, die Rußland im voraus für spätere Konfliklsfälle die Trümpfe sichert.Ob England dabei der Hauptverliercr ist? Die meistenEngländer bezweifeln das. Es wird noch lange dauern, bisRußlands Kriegsflotte der englischen im Mittelmeer gefährlichwerden kann. Auf Jahre und Jahrzehnte hinaus würden ineinem Kriegsfalle die englischen Kriegsschiffe die russischen auf-zustöbern, nicht aber vor ihnen auszuweichen haben. Zudemerobert England»icht um der schönen Augen desKhedive willen den Sudan. Es giebt kein vitalesInteresse seines Weltreiches auf. wenn es darauf verzichtet,Rußland am Bosporus Steine in den Weg zu legen. Und amdem Weltmarkt hat es noch auf lange hinaus in Rußland mehreinen Geschäftsfreund als einen Rivalen. Eine wirkliche Gefahrwird die beispiellose Machtstellung, die Rußland im europäischenKonzert heute einnimmt, das erhöhte Ausehen, mit dem es ausdem gegenwärtigen Handel herausgeht dagegen für seineNachbarstaaten— eine Gefahr, die durch immer neue Zu-geständnisse wohl zeitweilig vertagt, aber nicht vermindertsondern vergrößert wird. Hier kann man jedoch 111117 sagen:tu 1'as voulu, Georges Dandin. Vor einem Menschenaltermochten ein Rodbertus, ein Lassalle und andere davon träumen,daß das geeinte Teutschland dereinst die Erbschaft der Türkei an-treten, dort europäische Kulturzustände schaffen werde— heute sinddergleichen Hoffnungen unmöglich. Es in auch vielleicht nicht schadedarum. Aber wenn statt dessin Rußland in Konstantinopelkommandirt, so ist das in erster Reihe das Verdienst der Staats-kunst, deren Orakel im Sachsenwalde sitzt.Für die Armenier im türkischen Kleinasien wird es ein nurmäßiger Gewinn sein, wenn sie aus der Gewalt der Kreaturendes Sultans unter die Schutzherrschaft Väterchens gelangen,darin haben unsere englischen Genossen sicher recht. Aber kannman es den ersteren übel nehmen, wenn sie zur Roth selbst mitdiesem mäßigen Gewinn zufrieden sind? Schließlich versprichter ihnen doch das liebe Leben und ihr kärgliches Eigenthuiu,während sie heute selbst dessen nicht sicher sind. Und daß dieWahl nur noch zwischen Zar und Sultan steht, wem ist dieswiederum geschuldet, als der mitteleuropäischen Diplomatie?So wird man den betreffenden Passus in der oben ab-gedruckten Resolution auch ihr oder vorzugsweise ihr zum Nachlesen empfehlen dürfen. �Unter dem 3. Oktober schreibt uns unser Londoner Korrespondent serner: Nachdem ich über die Resolution der Sozialdemokratischen Föderalion zur Agitation gegen die Mißwirthschaftin der Türkei berichtet, fei der Vollständigkeit halber auch dieResolution verzeichnet, welche die Nationale Exekutive der Independent Labour Parly am 1. Oktober in einer Zusammenkunftin Bradford gefaßt hat. Sie lautet:„Indern der Exekutivrath darauf besteht, daß daheim wirth-schaftkiche Metzeleien verübt werden, die in ihren Wirkungen undErscheinungen genau so bedrückend sind, wie die Ausbrüchetürkischer Brutalität, erkennt er doch an, daß EnglandArmenien gegenüber bestimmte Vertragsverpflichtungen zuerfüllen hat; er beklagt die neuerlichen Verbrechen gegendie Gesetze der einfachsten Menschlichkeit, erklärt fn'bereit, alle diejenigen ohne Unterschied der Partei. derReligion und der Nationalität zu unterstützen, welche dafürwirken, derartige Metzeleien in der Zukunft zu verhindern, unddrückt die Erwartung aus. daß die britische Regierung alle?, wasin ihrer Macht steht, aufbieten wird, dieses Resultat herbeizu-führen. Der Exekutivrath wünscht gleichzeitig seinem eniphalischeuirotest gegen die Massenmetzeleien Ausdruck zu geben, die zureit im Namen der britischen Regierung in Südafrika und demudan verübt werden."Dem Meeting im Hydepark, has morgen— am 4. Oktober— unter der Leitung des Londoner Trades-Council und dermeisten Ardeiterabgeordneten im Parlament und Grafschafts-rath abgehalten werden wird, wird folgende Resolution unter-breitet werden:„Dieses Meeting giebt seinem tiefsten Abscheu über diefürchlerlichen Metzeleien und Gewaltthaten Ausdruck, die imtürkischen Reiche an wehrlosen Armeniern verübt worden sind.Es fordert die Regierung ihrer Majestät auf, erneuten nnd ver-stärkten Druck auf die europäischen Großmächte dahin auszuüben, daß durch unverzügliche, energische und vereinte Aktiondem Sultan endgiltig die Möglichkeit genommen werde, feinenblutigen Karneval länger forlzusetzen, und es sichert der Rc-gierung Ihrer Majestät die enthusiastische Unterstützung seitensder Londoner Bevölkerung für jeden Schritt zu, den sie behufsBeendigung der heute die Menschheit entehrenden Tragödie er-greisen sollte."Ein Zusatzantrag, der jede Aktion ausgeschlossen wissen wollte,die einen europäischen Krieg herbeiführen könne, fand in derDelegirtenversammlung, in der die vorstehende Resolution verein-bart wurde, nur drei Stimmen Unterstützung. Nach Ansichtvieler ist garnicht daran zu denken, daß die Festlandsmächte einselbständiges Vorgehen Englands mit einer genieinsamen Aktiongegen dasselbe beantworten werden. Vielmehr würden imgegebenen Moment die heut zurückgedrängten Interessengegensätzemit elementarer Gewalt sich geltend und zede gemeinsame Aktiongegen England solange unmöglich machen, als dieses sich jederAneignung türkischen Gebiets enthalte— eine etwas sehr opti-mistische Ansicht, die weder von den Führern der Konservativennoch von denen der Liberalen getheill wird. Nur die Londonerradikale Presse geberdet sich so. als hätte England„nur Gottund sonst nichts auf der Welt" zu fürchten.>—Soweit unser Korrespondent.»««Hier die drei Punkte:Wir können niit den Ausführungen unseres Korrespondentennicht in allen Theilen übereinstimmen. Zunächst glauben wirnicht, daß die englische Regierung bereit ist, den Russen die Türkeiüberlassen. Und des weiteren glauben wir nicht, daß die christ-lichen Völker der Türkei sich unter dem Zaren besser befinden würdenals unter dem Sultan.„Rebellische Unterthanen" werden vonVäterchen" gewiß nicht sanfter behandelt wie vom Sultan, undwenn die wirklich Getödteten des polnischen Leichcnfeldes— Polen ist in der Resolution der Social DemocraticFederation auffälligerweise nicht erwähnt— gezählt werden,so kommt sicherlich keine kleinere Zahl heraus, als wennman die des armenischen und der übrigen türkischenLeichenfelder zählt. Daß eine Stärkung der russischen Machtim Interesse der Kultur liegt, bezweifeln wir sehr; da-gegen ist es ganz gewiß, daß der Sultan sie nicht mehr ge-fährden kann. Und was die Ueberlassung der Dardanellen anRußland betrifft, so scheint unser Korrespondent die Tragweitedoch zu unterschätzen. Die russische Flotte ist� freilich für sichallein den Engländern im Miltclmcer nicht gefährlich, aber mitder französischen vereinigt könnte sie ihnen das e g y p t i sch eSpiel doch arg verderben.Soziale Nerfzksp�tegv.Eine» Streit um die Grenze des Arbeitsplatzes, derzwischen der Plätterin N. und ihrer Kollegin B. im Betriebedes Wäschefabrikanten Berendson ausgebrochen war, suchte dieDirektrice durch ein Machtwort zu erledigen. Sie verlangte, daßFrau N. den von ihrer Mitarbeiterin benutzten Karton, densie auf die Erde gesetzt hatte, auf dem Tischedulde. In der Ausregung entfuhr der Zurechtgewiesenender Ausruf:„Sie haben hier gar nichts zu sagen!"Frau N. wurde noch an demselben Tage entlassen.Sie klagte dann beim Gewerbegericht gegen Herrn Berendson,indem sie beantragte, diesen wegen unberechtigter Entlassung zueiner Lohnentschädigung an sie zu verurtheilen. Im Termin vorder Kammer I des Gerichts behauptete der Beklagte, die Klägerinhabe die Arbeit verweigert, was Frau N. entschieden bestritt.Der Gerichtshof unter dem Vorfitz des Assessors Hellwig wiesdie Klage mit folgender Begründung ab: Die Aeußerung, die dieKlägerin der Direktrice gegenüber gethan habe, rechtfertigean und für sich schon die sofortige Entlassung. Es liegedarin eine Verweigerung des Gehorsams; dem Arbeitgeber unddessen, Stellvertreter gehorsam zu sein, sei aber eine der erstenPflichten jedes Arbeiters. Klägerin hätte sich nicht sträubendürfen gegen das, was die Direktrice anordnete.— Andiesem Urtheil ist auszusetzen, daß keine beharrlich«Weigerung festgestellt worden ist, während doch K 123Nummer 3 der Gewerbe- Ordnung die Verweigerung„derden Arbeitern nach dem Arbeitsvertrage obliegenden Verpflich«tungen" nur insoweit als Entlassungsgrund gelten läßt, als sieeine beharrliche ist. Ferner befremdet die mit bezug aufeinen Arbeitsvertrag doch etwas sonderbare Betonung des G e-horsams, besonders wenn man bedenkt, wie oft das Zustande«kommen des Arbeitsvertrages infolge„freier Verein«b a r u n g" hervorgehoben wird.Z« der Frage, wie in Fabrikbeiriebe» der Arbeits-vertrag zustande kommt, hat die Kammer III des Gewerbe«gerichts in einer Entscheidung einen Standpunkt angenommen,der nicht übereinstimmt mit der von anderen Kammern ver-treten«» Auffassung, uns aber richtiger zu sein scheint.Sie hat nämlich ausgesprochen, daß die gesetzlich fürFabrikbetriebe vorgeschriebene Arbeitsordnung nicht schondurch ihren bloßen Aushang rechtsverbindlich wird,sondern daß der Arbeiter darauf verwiesen werden»1 u ß, wenn er auf die in ihr enthaltenen Bedingungen ver-pflichtet werden soll. In dem Aushang an sich sieht dieKammer III nur eine einseitige Willenserklärung. Durch diefragliche Entscheidung ist das in letzter Zeit mehrfach aufgestelltesonderbare Prinzip beiseite geschoben worden, wonach inFabriken durch den Aushang allein jede Arbeitsordnung ver-kindlich wird, die so hängt, daß sie der Arbeiter findet, wenner sich danach umthut. Natürlich war ihre Lesbarkeitvorausgesetzt worden.Thätlichkeiten zwischen Mitarbeiter» berechtigen nichtzur sofortigen Entlassung. So hat die Kammer VI des Gewerbe-gerichts in der Klagesache des Bäckers K. gegen die Inhabereiner größeren Bäckerei entschieden. Der Kläger verlangte eineLohnentschädigung wegen unberechtigter Entlassung, wogegen derVertreter der Beklagten geltend machte, daß die Entlassung erfolgtsei, weil K. einen seiner Kollegen während der Arbeitszeit blutiggeschlagen habe. Nach den Angaben von Augenzeugen habe derKläger den Streit zwischen sich.und dem anderen veranlaßt undauch zuerst zugefaßt. Der Gerichtshof, dem Assessor Krause vor-saß, hielt es für überflüssig, zu untersuchen, ob diese Angabenzuträfen. Er verurtheilte die Beklagten mit der Begründung,daß die Gewerbe- Ordnung leine Vorschrift enthalte, nach derThätlichkeiten zwischen gleichberechtigten Arbeitern, auch wennsie im Betriebe vorkämen, als ein Entlassungsgrund angesehenwerden könnten.GevichksTast niemand ungestraft unter Palme» wandeln darf,schien die Polizei dem Schaukwirth Hahn durch mehrere Straf-Mandate zu Gemüthe führen zu wollen. Hahn betreibt in derFriedrichstraße ein Schankgeschäft mit Damenbedienung. ZurAusschmückung feines Lokals hat er in dem Mittelgangdesselben auf beiden Seiten in gewissen Entfernungen künst-liche Palmen aufgestellt und zwischen diesen und den Wand-pfeilern durchbrochene Weiuspaliere mit künstlichen Weinrankenbehangen. Das Polizeipräsidium erblickte in dieser Ausstattungdes Lokals einen Verstoß gegen den K 3 der Verordnung vom27. Juli 1892 über die Damenbedienungslokale, weil die durchdie geschilderte Ausschmückung gebildeten Nischen den freien Ein«und Ausblick im Lokale verhinderten.Einen weiteren Verstoß gegen diese Verordnung sollteHahn dadurch begangen haben, daß er seine Kellnerinnen zuauffällige Kleidung tragen lasse. Er trug gegen sämmtliche ihmzugegangene Strafmandate auf richterliche Entscheidung an. Imgestrigen Termin vor dem Schöffengericht brachte der Vertheidigerdes Angeklagten, R.-A. Dr. Schöps, eines der Weinspaliere, welchedas Lokal schmücken, zur Stelle. Er zeigte dem Gerichtshof an demselben,daß in dem schon an sich sehr schmalen und kleinen Lokale durch der-artig niedrige, kaum die halbe Wandhöhe erreichende, durch-sichtige Spaliere und durch die aufgestellten Palmen der freieEin- und Ausblick in keiner Weise behindert werde. Die Kostümeder Kellnerinnen seien die der Radfahrerinnen, bis an denHals geschlossen und bis über die Fußgelenke reichend.Wenn sich die Damen der vornehmsten Gesellschaft in derartigenKostümen auf der Straße zeigten, ohne Anstoß zu erregen, werdees auch wohl einer Kellnerin erlaubt sein, sie in geschlossenenRäumen zu tragen. Der Vertheidiger stellte zwei Kellnerinnenin diesem Kostüme vor.Der Gerichtshof vermochte sich ebenfalls nicht der Ansichtder Polizeibehörde anzuschließen und fällte ei» freisprechendesUrtheil.Elise Sänke ans Kolportage. In dem Verlage des Buch-Händlers Bartels erscheint eine Druckschrift unter dem Titel„Elise Sauke oder das Schicksal des Dr. Steinthal, Sensations-Roman aus dem Leben." Auf eine Anfrage von Bartels theilteihm das Polizeipräsidium mit, daß auf grund des§ 5« Ziffer 10der Reichs-Gewerbe-Ordnung die Druckschrift von dem Feilbietenim Umherziehen und von dem Kolportagehandel ausgeschlossensei. Hiergegen wendete sich Bartels mit der Klage. Das Polizei-Präsidium legte in der Klagebeantwortung dar, wie durch dieausführliche Schilderung sittlich anstößiger Verhältnisse der In»halt der Druckschrift auf die Vorstellung der Bevölkerungsklassen.für die sie bestimmt sei,in verderblicher Weise wirke und somitin sittlicher Beziehung Aergerniß errege. Der Bezirksausschußerkannte auf Abweisung der Klage.Gesundheit nnd Gericht. Von einem merkwürdigen Prozeßberichtet die„Volks-Zeitung": Ein Fleischer B. halte im Schlacht-hause die bekannte Polizeiverordnung übertreten, welche„jedeVerunreinigung dieses Ortes" verbietet. B. behauptete, ein Leidenzu haben, welches ihn gerade an jenem Tage derart gepeinigthabe, daß eS ihm unmöglich gewesen sei, noch rechtzeitig eine»