Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.
Nr. 29.
Der Wunsch.
Ein Traum.
Und wieder saß ich spät mit mir allein, der Geisterstimmen dumpfe Schlacht belauschend, die wild im Hirn um meine Seele rangen, und wußte nichts von mir: ein schwirrend Heer von Wünschen kreiste vor mir selber ich und sah die Wunschgespenster sich verknäueln in Wuth und Gier, von Wuth ich miterwühlt, von Qual und Wollust, wie die Flatternden sich würgten und sich fraßen und sich lüstern umwanden, neue Schaaren zu gebären. Bis sich auf einmal, im verzückten Rausch des Mitgefühls, mir in die Augenhöhlen die Nägel meiner Finger krallend gruben, daß ächzend ich emporfuhr aus dem Brüten. Und taumelnd wankt' ich auf, zum Fenster hin, inbrünstig langend nach der sanften Nacht. Da dehnte sich im Dunstlicht unter mir Berlin mit seinen Thürmen, seinen Kuppeln, mit seinen Schloten, seinen Ruhmessäulen heraufgebaut ins fahle Blau, als langte aus ihrem Grabe scheintodt eine Riesin und reckte alle Finger bettelnd hoch:
nur leben will ich leben athmen
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essen!
Und rauschen hört' ich die Milliarden Wünsche die ungestillten, die das Mauerwerk das nachtumarmte barg in seinem Schooß, den Hunger, der mit dürrem Knöchel sich das Grablied trommelte auf nackter Diele,
die Noth, die winselnd durch die Straßen kroch, das Elend, das in Träumen wüst sich narrte. Und ich erschrack ob meiner eitlen Qual; und ein Erbarmen graunvoll, grenzenlos stieß mich zurück in meine Einsamkeit. Und trübe starrt' ich in die grelle Lampe und trüber noch auf meinen Schatten, der langwehend an der Wand hing und starrte
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schwankend nickend, und entsegte mich: der Schatten bewegte, drehte sich und winkte, nickte und wandelte vor mir und trat zu mir, und eine Stimme tönte matt und hohl:
Komm! Wunsch ist Lust, Erfüllung Tod! Komm, schaue! Wir wandelten. Ein greller Mittag lag
schwül brütend auf dem gelben Sand der Wüste;
und um mich nur der schwarzvermummte Führer,
der stummen Mundes immer weiter wallte;
in seine Spuren trat ich wie gebannt.
Da gähnte jählings uns ein Abgrund an.
Zurück ich wich; doch ruhig stand der Düstre
und wies zur Rechten, wo emporgethürmt
am Abhang ragte ein gewalt'ger Bau,
und aus dem Mantel Klang es schwer und dumpf: Der Tempel der Erfüllung!
und ich bebte,
von ungewissen Schauern angefaßt.
Da tönte wieder mir die Grabesstimme: Drei Wünsche sind gewährt dir! wähle! sprich! und rasselnd sprangen droben auf die Pforten.
Und grübelnd stiert' ich in des Tempels Schlund,- mir war, als wogten die Milliarden Wünsche des Erdrunds drin, die ungeſtillten alle, von Schmerz und Lust erglüht' ich, Rachedurst durchbrannte mich, zu strafen den Versucher, und heiser knirschte ich in Haß und Wonne: So soll denn jeder höchste Wunsch auf Erden erfüllt sein jedem Einzigen! Jedem Einzigen
gleichgiltig scholl es wider im Gewand. Und rückwärts deutete der Ungerührte dem Saum der Wüste zu; der regte sich, und aus dem Boden hob ein Tummeln sich, als schwärmten Geier wimmelnd um ein Aas. Und fort vom Rand her schob es schwärzlich sich gleich Wolkenklumpen, ballte sich und schwoll, erbrauste, schwoll und löste sich und rollte und wälzte tosend auseinander sich heran zu uns, die Ebne überströmend
wie Qualmgebrodel sturmgepeitscht, und näher
und näher immer zog's und schüttete
sich aus vor uns zu Haufen, Schaaren, Zügen
von Leibern gelb und weiß und schwarz und braun;
die Erde stöhnte, wie sie rasend rannten
ihnen nach
und keuchend flogen; und da schossen schon die Ersten uns vorbei, vom Wettlauf triefend, hinauf am Abgrund, zu den Stufen hin den gleißenden des Tempels, der Unzählbaren brandendes Gewühl. Und schaudernd sah ich ihrer Augen Gier; doch unbewegt stand neben mir der Führer. Und aus dem Säulenthor zurück nun tauchten mit dem errafften Gut, dem höchsterstrebten, dem tiefstersehnten, Die zuerst gewählt; und freudebangend, zitternd spähte ich.
Wahn, o Hoffnung!
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wie sie kindisch johlten und tanzten, in den Händen Tand und Spielwerk! Doch Andre amen fiebernd spähte ich;
da schleppte unter beiden Armen Einer
verstaubte Folianten, Einer krümmte
sich goldbepackt, behutsam trug ein Dritter ein Pflänzlein, eine Schöne äugelte verliebt mit ihrem Diamantenschmuck, und jetzt aufröchelnd griff ich in die Luft wildjauchzend stürmte aus dem Thor ein Häuptling, die blutige Kopfhaut eines Feindes schwang er, und oben auf den Stufen rangen Zwei zum Mord verknotet um ein jammernd Weib. Mitfühlend wand sich, bog sich krampfgezerrt mein Arm; da ließ mich's los; ein weher Grimm, ein ekler Zorn, ein unermeßlicher stand auf in mir und bäumte mein Genick, zum Himmel stieß ich die gepreßten Fäuste: Orotte, Allmacht, aus dies Wurmgezücht! vertilgt sei, wer nicht liebt! es lebe nur, wer in der Einen Sehnsucht sich verzehrt, die Alle glücklich macht! es lebe nur, wer Alle will von Leid und Schmerz erlösen! Erlösen tönte die vermummte Stimme;
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der zweite Wunsch! klang's schaurig mahnend nach. Und plöglich, mir zu Füßen tam's gerollt herab vom Abhang, knackend, schollernd, krachend, hinab zum Abgrund, Leiber über Leiber,
Sonnabend, den 19. Juli 1890.
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verrenkt im Todeskampf; doch toller immer den Berg empor zur Tempelhalle tobte der unzählbaren brandendes Gewühl, und aus dem Säulenschooße quoll und quoll es die Stufen nieder, krachend, schollernd, knackend, von Sterbenden und Leichen, mir zu Füßen den Schlund hinunter. Und die Sonne sant und sank und sant, und immer neue Haufen Zerschmetterter verschlang der grause Rachen. Aufschreien wollt' ich flehen, daß nur Einer, nur Einer spräche das geweihte Wort, mein Mund schloß auf sich, doch der Laut zerbarst: der Freund, der liebste, prallte her zermalmt zermalmt die Brüder beide beide Schwestern! und da, da Mutter! meine Mutter flomm da, da! hinauf; jest bat sie; weh für mich, für ihres Sohnes Glück blos flehte sie und starb für ihr Gebet! Stier sah ich an das Gräßliche, hohlgloßend, thränenleer; verdorrt mein Herz mir däuchte, irr mein Sinn; mein eigen Angesicht, im Dämmerdüster rings um mich schwamm es, fahl, zerfurcht, verſteint von Gram und Grauen; in die Kniee brach ich, die Fäuste schlug ich hämmernd mir an's Ohr, zu tödten das Gedröhn das marternde der Knochen, die zum Abgrund rasselten im Rücken mir; da neigte nieder sich Der im Gewand, ein mildes Dunkel hüllte mein flirrend Aug', ein tiefes Schweigen floß süßkosend um mein Haupt, und wie ein Hauch sanftraunend klang die Frage: Und dein dritter, dein eigner Wunsch? dein lepter! Säuselnd sog der Nachtwind ein das lockende Gemurmel. Und stammeln wollt' ich; doch die Worte kreisten im Hirn mir, hezten sich in toller Jagd gestaltlos, schemenhaft, und eine Angst, ein Schrecken vor mir selbst, und eine Furcht vor meiner eignen Gier, der lauernden, umklammerte die Kehle mir,
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zerknirscht
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im Staub ich lag: nicht wagt' ich mehr zu wünschen. Und endlich bettelnd stöhnt' ich: Gnade Gnade! und schlug die Augen auf da grüßte mich langwehend, nickend an der Wand der Schatten, und schwelend stand die Lampe
[ Nachdruck verboten.]
Rückfall
von
( 1. Fortsetzung.)
IV. Jahrgang.
„ Ich danke Kind, daß Du mich errinnerst! Es ist wirklich so: verzeihen Sie, Bernhard!"
,, Nun, wie ist das Geschäft gegangen?" fragte Anna. „ Gut und schlecht," sagte Paul.„ Das Nüßliche steht tief im Preise, aber das Unnüße ziemlich hoch."
Die einfache Mahlzeit, bestehend aus Pilzen und Essig- Gurken, sowie aus Milch und dem stets gegenwärtigen Samowar, nahm nun für eine Weile ihre Aufmerksamkeit in Anspruch.
" Heute ist Johannistag," sagte Paul nach beendigtem Essen.
" Jawohl," sprach die Frau und seufzte.
„ Du seufzst, Annischka. Ist es heute schwer?" Sie beugte sich hinab und legte ihren Kopf auf feine Kniee.
„ Weine Geliebte, dann geht's vorüber," sagte Paul. " Ja, wenn Du mitweintest, sonst ist's nicht der Mühe werth."
„ Ist es nicht drückend, fremde Erde zu bebauen?" fragte Annischka.
„ Die Muttererde ist härter, aber sie ist schöner. Doch das sind nur Grillen. Die ganze Welt ist ja unsere Mutter."
"
Sage, daß Du Dich sehnst nach dem Stückchen Erde , das Du der mörderischen, erstickenden Umarmung der Steppe entrissen hast, sage, daß Du heute dort sein wolltest und sehen, wie Deine Aepfelbäume blühen, Deine Rosen fnospen, Deine Erdbeeren stehen: sage das, Paul, und ich werde Dir sagen, wie ich mich sehne!"
" Ich leugne nicht, daß ich mich an die Scholle gebunden fühlte, nachdem ich den ersten Spatenstich in unsere alte schwarze Erde gethan, gefäet, Bäume gepflanzt und gesehen hatte, wie der garstige Boden gesegnet war. Es ist thöricht, sich zu binden. Die Erinnerungen habe ich mit den Pfählen herausgerissen, die zartesten Bande zerschnitten, aber ich fühle mich unfrei. Wenn meine Gedanken heimwärts gehen, wandern sie nicht zur Stätte meiner Kindheit, wo ich Sklavendienst lernte, nicht zum Grabe meines Vaters oder meiner Mutter, nicht zu der grimmen Erinnerung einer falschen, vergangenen Größe; sie wandern zu dem Acker, wo meine Nahrung wuchs, zu den weißen Birken, wo frische, neue Gedanken mich belebten, zu den dunklen Tannen, die meinen Schmerz betäubten, aber am liebsten und jetzt fast immer zu dem fleinen Fleck Erde, den ich bebaut hatte. Siehst Du, so
Als Paul mit dem Karren auf seinen Hof kam, materialistisch, so egoistisch bin ich! Erinnerst Du Dich, sprangen ihm seine beiden Mädchen entgegen und füßten wie die Aepfelbäume aufwuchsen und ich so weither das ihn. Beide waren blond und trugen einfache Leinwand- Wasser für sie holen mußte. Und die Bauern saßen an kleider von gewöhnlichem Schnitt und Strohhüte. In den Zäunen und zerbrachen sich den Kopf, wozu das der Thür erschien die Gattin. Eine kleine aschblonde gut sein sollte."
Frau mit großen, schwarzen Augen, anmuthig abgerun-„ Und dann," fuhr Annischka fort,„ dann fuhren wir deten Gesichtszügen und einem Teint, der etwas ins im Herbst in die Stadt, als wir aber im Frühjahr wieder Olivenfarbene spielte. Das Haar umgab den Kopf wie hinauszogen, da waren sechs Aepfelbäume erstorben. eine weiche Ranke und kletterte ringsumher, um die Ohren, Nikolas sagte, es sei der Frost gewesen, aber Andreas über den Nacken und die Stirn. Sie sah ruhig und erzählte Dir, daß Nikolas Lauge darüber gegossen hatte. hoffnungsvoll aus, aber ein Flor von Düsterheit war und da weintest Du." über die früher so heiterbeweglichen Züge gebreitet; die Trauer über etwas Vergangenes, der Bruch mit lieben, aber hinderlichen Erinnerungen, der Kampf gegen das über die Bosheit der Menschen weintest Du." Anerzogene, gegen Pietät und Vorurtheile sprach daraus.
11
"
Guten Tag, Väterchen!" begrüßte sie Paul.
Guten Tag, geliebte Frau und Kinder!" antwortete
er und küßte die Mutter und die Kinder.
„ That ich das? Wie schwach!"
" Jawohl, Du thatest es, aber nicht über die Bäume,
,, Unerfahrenheit, Annischka."
„ Unerfahrenheit, ja! Und Du pflanztest neue, streutest Samen von Aepfeln, Pflaumen und Kirschen massenweise und sagtest den Bauern, sie würden die Früchte, wenn „ Hole dem Vater einen Stuhl," sagte die Mutter sie kommen, erhalten, ebenso das Reis der Bäume. Und zu dem ältesten Mädchen, das zehn Jahre sein mochte. dann, Paul Petrowitsch, dann kam das große Ereigniß ,, Nein, Annischka," sagte Paul,„ Vera soll keine und wir mußten fort. Seitdem hast Du nichts mehr Sklavin werden." von unserem Acker gehört; aber Du denkst an ihn, Du „ Ich will nicht," hatte Vera schon geantwortet. träumst davon." " Darfst Du das sagen?" hub die Mutter an. Schwäche, Annischka, Kleinigkeiten, Kleinigkeiten! Aber " Jawohl," sagte Paul, so soll man antworten. jetzt denke ich nicht mehr daran! Nicht mehr! Aber Wer nicht lernt, zu wollen und seinen Willen auszu- sprich nicht so traurig! Ich bin heute froh in meiner sprechen, wenn er jung ist, der wird ein Mensch ohne Seele, denn ich habe heute eine große, große Freude Willen oder ein Lügner, wenn er groß ist! Annischka! gehabt."
Weßhalb sollen wir unsere Kinder zu unseren Sklaven ,, Erzähle, erzähle!" erziehen? Nach acht Jahren wird Vera im Leben stehen.
Paul goß sich eine neue Tasse Thee ein, als der Da haben wir in ihr feine Sklavin mehr, und unsere Briefträger mit der Post eintrat. Es war eine Karte Meinung ist es doch wahrscheinlich nicht, sie zu erziehen, und ein Brief. Paul las zunächst die Karte.
um Anderen Stühle herbeizutragen. Aber will Vera mir„ Sie ist doch wenigstens nicht geöffnet," sagte er, einen Stuhl vorseßen, so danke ich ihr, denn sie ist mir ehe er las. Die Karte, welche einen russischen Postnichts schuldig."
"
„ Du hast recht, Paul Petrowitsch," sagte die Mutter, aber ich kann nicht immer die Dinge vom neuen Gesichtspunkt aus sehen."
,, Nein, mein Kind, das kann auch ich nicht immer, aber wir müssen uns daran gewöhnen. Mit„ wir" meine ich nicht Dich, sondern ich meine wirklich uns beide! Aber ich sehe, Du hast schon gedeckt! Rufe Bernhard!"
Bernhard war ein vierschrötiger Waadtländer mit schwarzem Schnurrbart und schwarzem Haar, egyptischen Augen und starken Schulterblättern. Er setzte sich ruhig an den Tisch, nachdem er die Hände gefaltet hatte. Werden Sie das denn nie ablegen Bernhard?" fragte Paul.
stempel trug, hatte folgenden Inhalt:„ Wenn die Sonne, die ein Gott ist, Leben in einem Aas erwecken kann, warum sollte sie es in einem Brief nicht können?"
Hm," sagte Paul. Was soll das bedeuten?" „ Das wirst Du wohl aus dem Brief erfahren," antwortete Annischka.
„ Du hast recht! Aber der Brief ist natürlich geöffnet worden; hier siehst Du die Spuren..."
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Paul las: Paul Petrowitsch, Großhändler, Ouchy, Lausanne . In Folge Ihrer werthen Ordre vom angegebenen Datum übersende ich Ihnen sechs Tonnen Kaviar à 2 Rubel Silber ohne Faß. Der Abrechnung sehe ich umgehend entgegen. Hochachtungsvoll Dimitri, Baranow."
Paul saß stumm und überlegte, konnte aber keinen Sinn herausfinden. Daß alles Geheimschrift war, wußte er wohl. Anna half ihm nachdenken, aber ohne Resultat. ,, Religionsfreiheit, Paul Petrowitsch , Religionsfrei Da warf Paul den offenen Brief auf den Tisch und sagte: heit," sprach Annischka warnend. ,, laß uns von etwas anderem sprechen, mir wird schon
,, Nein," sagte er.