Die Führer der neuen Bewegung, selbst langjährige Mitglieder gerade der bedeutendsten Gewerkschaften, kannten die Mängel und den positiven Schaden dieses Unter- stützungswesens aus eigener Erfahrung nur zu gut. Sie hüteten sich daher wohl in den gleichen Fehler zu ver- fallen. Kein neuer Fachverein ist mit Unterstützungs- lassen beschwert. Alle haben eine einzige Kasse, eine Kriegskasse wenn man will, lediglich dazu bestimmt, etwaigen Forderungen den gehörigen Nachdruck zu geben. Eine zweite sehr wichtige Verbesserung ist die Auf- Hebung des Grundsatzes, nur strikt Fachgenossen in die gleiche Organisation aufzunehmen; eine Beschränkung, die allerdings durch Amalgamirung ver- wandter Berussarten(Amalgamated Engineers z. B.) auch schon früher theilweise durchbrochen war. Der Titel oder Zusatz zum Titel„Allgemeine Arbeiter"(General Labourers) der meisten neuen Unionen zeigt an, daß sie Jedem, auch dem Geringsten, geöffnet sind und ihm Zuflucht und Schutz gewähren.*) Nur dadurch war es möglich, die untersten Schichten, die Gelegenheitsarbeiter, die ohne bestimmten Beruf heute dies und morgen das je nach der sich bietenden Gelegen- heit ergreifen müssen, zu organisiren. Selbstverständlich wurden Eintrittsgelder und wöchentliche Beiträge so niedrig als möglich gestellt. Man sieht, welch' frischer Hauch die neuen, auf breiter demokratischer Grundlage aufgebauten Unionen belebt und durchdringt. Der Erfolg war ein ungeheurer. Nicht nur sprossen und sprießen noch immer zahlreiche neue Gewerkschaften nach allen Richtungen empor, einige davon wie die Gas- arbeiter, die Dockarbeiter, die Eisenbahnarbeiter hatten in kurzer Zeit Mitgliederzahlen, die von den ältesten und bestorganisirten Trades-Unions nicht erreicht werden. Die Vereinigung sämmtlicher Arbeiter einer Branche, oder gar die sämmtlicher verwandter Berufe in eine Union , das so lang erstrebte und nie erreichte Ziel, der nie erfüllte Traum der„gelernten" Arbeiter, die „ungelernten" Dock- und Gasarbeiter haben es nahezu erreicht und die Eisenbahnarbeiter sind auf dem besten Wege dazu. Welche Machtfaktoren damit geschaffen, weaden die nächsten großen Streiks zeigen. Wohl mancher Sozialist wird geneigt sein, die jetzige gewaltige Regung in der englischen Arbeiterwelt als bloße Gewerkschaftsbewegung zu unterschätzen. Man täusche sich da nicht. Ein jedes Land hat seinen eigenen durch Geschichte und Tradition bedingten Entwickelungsgang. Das noch heute verkümmerte Stimmrecht und die ungeheuren, beinah unerschwinglichen Wahlkosten schreckten bisher die Arbeiter- klaffe in England von einem selbstständigen politischen Kampfe zurück, während das unumschränkte Koalitions- recht, die vollständige Bewegungsfreiheit und das Beispiel und der Erfolg der früheren Trades Unions auch dies- mal aus die gewerkschaftliche Organisation hinweisen. Eine reine, oder auch nur überwiegend politische Bewegung hätte nie die Arbeitermassen in gleichem Grade ergriffen und in Fluß gebracht. In Deutschland führte umgekehrt das ein- geengte Koalitionsrecht, der Mangel an Bewe- gungsfreiheit, aber das zu gleicher Zeit be- stehende allgemeine Stimmrecht und die größere Freiheit während des Wahlkampfes zuerst auf die p olitische Or ganisation, der die gewerkschaft- liche erst jetzt in größerem Maße folgt. Man bedient sich eben zunächst der Waffe, die man vorfindet. Wie in Deutschland die Fachorganisation die politische, so wird in England die politische Organisation die gewerk- schaftliche ergänzen. Denn es ist kein Zweifel, daß die heutige Bewegung eine bloß gewerkschaftliche nicht bleiben wird und schon jetzt es nicht mehr ist. Die veränderten Anschauungen über die Ausgabe der Arbeiterklasse machen sich nicht nur in den neuen Trades Unions fühlbar, auch die alten Unions werden mehr und mehr von dem Zuge der Zeit ergriffen. John Burnett, der Bericht- erstatter über Arbeiterangelegenheiten an das Handels- Ministerium, früher selbst Arbeiter und langjähriger Gewerk- schaftler, behauptet, daß der Sozialismus bereits in den meisten Gewerkschaften Fuß gefaßt habe. Vermöge seiner Stellung und seinen Erfahrungen ist dieser Mann in der Lage, ein kompetentes Urtheil zu fällen. Daß die Gründer, Organisatoren und Führer der neuen Trades Unions meist ausgesprochene Sozialisten und dabei Mitglieder der alten sind, beweist die Richtigkeit des obigen Aus- spruches. Aber ein anderes bedeutsames Zeichen des Umschwunges in der Arbeiterwelt ist die total veränderte Haltung der zahlreichen Arbeiterklubs. Früher mit wenigen Ausnahmen blinde Nachfolger der liberalen Partei, durchtränkt von dem öden Manchesterthum, zeigen sie heute eine ganz andere, weit selbstständigere Physiog- nomie. Es war das dankbarste Feld für die sozialistische Propaganda, dessen spezieller Beackerung Frau Aveling und Andere jahrelang sich unterzogen. Wenn man bedenkt, daß die intelligentesten Arbeiter in diesen Klubs vereinigt, daß die große Mehrzahl zu- gleich Mitglieder und jedenfalls nicht' die unthätigsten in den Gewerkschaften sind, dann wird man die Wichtigkeit dieser stillen und lautlosen Agitation begreifen. Man braucht nur die angekündigten Themata der heutigen Vor- lesungen und Diskussionen mit denen von noch vor einigen *) Die 55 000 Mitglieder der Dockarbeiter-Union z. B. um- fassen 25 verschiedene Berufe. Die General Railway Wolters- Union wahrscheinlich noch mehr. Jahren zu vergleichen, um den vollen Umschwung zu würdigen. Ja, die heutige ökonomische Situation drängt zu einer Aenderung; sie ist ganz dazu an- gethan, den englischen Arbeiter neuen Ideen zugänglich zu machen. Wie Engels schon im Jahre 1885 aus- führte, schwindet die exzeptionelle Stellung Englands auf dem Weltmarkt langsam und damit auch die exzeptionelle Lage der gelernten englischen Arbeiter. Die Ausdehnung der gewerkschaftlichen Organisation bis in die untersten Schichten hinein bedroht diese Sonderstellung noch rascher. Der Zeitpunkt muß bald kommen, und die anmarschirende wirthschaftliche Krise wird ihn beschleunigen, wo auch der blödeste Arbeiter einsieht, daß der rein gewerkschaftliche Kampf nicht genügt. Er wird dem Beispiel seiner kon- tinentalen Brüder folgen müssen und eine unabhängige politische Partei außerhalb der Trades Unions bilden. Bei dem durch lange Zeit geübten und vererbten Organi- sationstalente, bei der Gewohnheit am öffentlichen Leben theilzunehmen, wenn auch bis jetzt nur im Gefolge An- derer, ist die Bildung einer politischen Arbeiterpartei keine allzu schwere Aufgabe. Es wird sich dann der große Vortheil der im sozialistischen Geiste gegründeten Unionen offenbaren. Diese Hunderttausende, die früher stumpfsinnig dahin vegetirten und erst durch die Organi- sationen zu neuem Leben und neuen Hoffnungen erweckt wurden, werden sich wie ein Mann mit Begeisterung einer politischen Arbeiterpartei zuwenden. Das englische Prole- tariat wird dann wieder mit an die Spitze der modernen Klassenbewegung treten und ihr einen mächtigen, un- widerstehlichem Impuls verleihen. Die Einsichtsvolleren in der liberalen Partei fürchten etwas Derartiges. Sie wissen, daß sie ohne die Unter- stützung der Arbeiter den Konservativen nicht gewachsen und genöthigt sind, in politischer Hinsicht weitgehende Zu- geständnisse zu machen, um die Arbeiterklasse auch ferner- hin an sich zu fesseln. Das allgemeine Stimmrecht, die Uebernahme der Wahlkosten auf die Gemeinde, kürzere Parlamentsperioden, vielleicht auch Diäten, alles das sind Reformen, denen sich die Liberalen bei ihrem demnächst sicher zu erwartenden Regierungsantritt nicht mehr länger entziehen können. Und damit werden sie zu Todten- gräbern ihrer eigenen Klaffe. In keinem Lande der Welt ist die Eroberung der politischen Macht der Arbeiter- klaffe so leicht gemacht, als in England. Es ist das einzige Land, wo die Bevölkerung der Städte diejenige des platten Landes überwiegt und in allen Städten geben die Arbeiterstimmen nicht nur den Ausschlag, son- der» sind auch im Stande, ihre eigenen Kandidaten allen anderen gegenüber durchzubringen. Zudem giebt es einen Kleinbesitz an Grund und Boden bekanntlich schon lange nicht mehr; das Gegengewicht des„antikollektivistischen Bauernschädels" fehlt somit gänzlich. Das allgemeine Stimmrecht in den Händen einer zielbewußten sozial- demokratischen Arbeiterpartei in England bedeutet das Ende der Bourgeois-Herrschaft. Geleonomisches ans Rußland . 0. Der russischen Zeitschrift„Der Sozialdemokrat" ist eine Reihe von Thatsachen und Schlußfolgerungen über die wirthschaftliche Lage Rußlands zu entnehmen, die auch für den westeuropäischen Leser Interesse haben, und umsomehr Interesse, da fast alles, was seitens der russischen Revolutionäre über das Moskowitenreich bisher geschrieben ist, nur die„volksthümlichen" Anschauungen wiedergiebt. Demgemäß erscheint Rußland als ein Land, welches von Natur aus für den Sozialismus bestimmt sei, so das es nicht nöthig habe, erst noch diejenigen Stufen durchzumachen, welche bedingen, daß die Ent- Wicklung Europa's jetzt dem mit der Emanzipation der Arbeiterklasse unauflöslich verbundenen Sozialismus zu- strebt. Rußland soll eine Art europäisches China sein, das um jeden Preis vor den unglückseligen Folgen der kapitalistischen Entwicklung, vor dem Proletariat und vor dem modernen Elend behütet bleiben müsse. Der So- zialismus in Rußland müsse sich andere Wege bahnen, sich andere Mittel suchen, als in Europa . In Rußland bestehe schon thatsächlich der gemeinsame Besitz an Grund und Boden, der russische Bauer sei darum schon jetzt Mitglied einer Gemeinschaft, die bei aller ihrer Unvoll- kommenheit durch vernünftige Einrichtung des Staates sich zu einer vollkommenen sozialistischen Organisation fortbilden könne. Es müsse nur das richtige geschicht- liche Genie kommen, und die gegenwärtige Lage würde umschlagen und sich im raschen Lause auf die sozialistische Gesellschaft hinbewegen. In der Person des kämpfenden Theils der russischen Intelligenz sei dieses Genie er- schienen. Die Umsetzung dieser Theorie in die Praxis ist indeß mißlungen. Nach einem erbitterten, heroischen, ja nicht- dagewesenen Kampf sind die Kräfte der nihilistifchen In- telligenz gebrochen und mit ihnen die sich an ihre Rolle anknüpfenden schönen Hoffnungen gescheitert. Eine Pe- riode der Gährung ist gekommen, neue Ideen brechen sich Bahn. Andre Zeiten— andre Vögel Andre Vögel— andre Lieder. Es wäre wohl überflüssig besonders darauf hinzu- weisen, daß in einem Lande, dessen Produktion auf länd- lichem, wenn auch gemeinschaftlichem Kleinbetrieb beruht, von einem direkten Uebergang zur sozialistischen Gesell- schaft ebensowenig die Rede fein kann, als in Persien , Indien oder bei den primitiven Völkern. Interessant dagegen ist es zuzusehen, ob Rußland wirklich noch das Land des patriarchalischen Idylls oder ob es bereits auf die Bahn der kapitalistischen Ent Wicklung gerissen und damit den immanenten Gesetzen der kapitalistischen Entwicklung unter- warfen ist? Auf diese Frage werden wir Antwort in der genannten„Rundschau" suchen. Bevor wir aber in die Besprechung eintreten, müssen wir den Leser darauf aufmerksam machen, daß er in derselben weder ein umfassendes Bild des ökonomischen Lebens Rußlands , noch eine eingehende Kritik der sozialen Theorien finden wird, die beim revolutionären Theile der russischen Intelligenz vorherrschen. Schon vor einigen Jahren ist beides geboten worden und zwar in glänzender Weise in einem Werkchen von G. Plechanow , „Unsere Kontroversen" betitelt. Dem Werkchen liegt zu Grunde die Kritik eines Artikels des feit zwei Jahren im Himmel des Zaren selig gewordenen Herrn Ticho- mirow„Was ist von der Revolution zu erwarten?", eines Artikels, in dem alle volksthümlichen Theorien(von Bakunin und Tkatschew) treuen Widerhall gefunden haben. Indem Plechanow das von Tichomirow mit großer Mühe errichtete Gebäude spielend zerschlägt, führt er unter anderem aus, daß eine geschichtliche Umwälzung nur da stattfindet, wo die ökonomischen Bedingungen dafür vorhanden sind. Von einer Revolution im Sinne des Sozialismus könne also nur dort die Rede sein, wo die ursprüngliche Naturalwirthschaft und der Kleinbetrieb von der kapitalistischen Produktion, respektive der Groß- Industrie, weggefegt worden ist, wo sich die Produktions- mittel unaufhörlich konzentriren, wo die immer breitere, gemeinsame Produktion ökonomische Nothwendigkeit wird, große Städte entstehen und die Armee der Proletarier daselbst angehäuft wird. Rußland könne mithin von der ländlichen Gemeinde nicht zu einer sozialistischen Ge- sellschaft übergehen, ohne im Wesentlichen dieselbe dialek- tische Bewegung durchgemacht zu haben, die sich in Eu- ropa vollzogen hat. Dies solle übrigens nicht heißen, daß sich Rußland genau nach europäischem Muster und mit der Langwierigkeit des Westens entwickeln müsse. Der Zersetzungsprozeß der Gemeinde könne sich in kür- zester Zeit vollziehen, je nach den inneren und äußeren Verhältnissen, unter denen sich die wirthschaftliche Ent- wicklung Rußlands gestalten wird. Die Statistik beweise, daß die russische Naturalwirthschaft im Begriffe sei, in die kapitalistische überzugehen; alle ökonomischen Faktoren wirken dahin, die Auflösung der Gemeinde zu beschleu- nigen und so zwei Klaffen zu schaffen: Reiche, die sich zur ländlichen Bourgeoisie entwickeln, und Arme, die sich in Proletarier verwandeln. Das ländliche Gewerbe werde zu einem System der tapitalistischen Ausbeutung durch Vermittler und Aufkäufer. Das Werk von Plechanow war die erste konsequente Anwendung der Theorie des modernen Sozialismus und der von Marx und Engels aufgestellten materialistischen Auffassung der Geschichte auf die russischen wirthschaft- lichen Verhältnisse. Sehen wir nun zu, inwieweit seine Ausführungen von den in der„Rundschau" gebotenen Thatsachen be- stätigt werden. Der Autor konstatirt zuerst, daß die Zersetzung der alten Formen des wirthschaftlichen Volkslebens schon durch den mechanischen Druck des Staates gefördert wird. So liegen Nachrichten aus dem Gouvernement Smolensk�) vor, daß daselbst in den letzten Jahren die Bauern ihre Grundstücke sehr oft vor Ablauf des Ablösungstermins freikaufen.�) Im Distrikt von Juchnow haben bis 1887 nicht weniger als 167 Personen 760 Grundstücke losgekauft, im Distrikt von Gschatsk bis 1886, 221 Per- sonen 629 Grundstücke, im Distrikt von Stytschewsk in demselben Zeitraum 174 Personen 489 Grundstücke und in dem von Wiasemsk 74 Personen 222 Grundstücke. In den übrigen Distrikten des Gouvernements sind die Loskaufungen weniger zahlreich. Bemerkenswerth ist, daß die Mehrzahl der losge- kauften Grundstücke in unfruchtbaren Distrikten liegt, in denen nur geringe Bodenkultur getrieben wird und deren Bevölkerung das ganze Jahr hindurch nicht selbst erbautes, sondern gekauftes Brod ißt, dessen Anschaffung durch den Verdienst ermöglicht wird, dem fast die ganze Bevölkerung außerhalb der Gemeinde nachgeht. Der Widerspruch, daß die Bauern werthloses Land loszu- kaufen suchen, erklärt sich dadurch, daß auf dem bäuer- lichen Grundbesitz so schwere Lasten ruhen, daß sie die Einkünfte weit übersteigen. Weit davon entfernt, daß das Grundstück den Wohlstand des Bauers fördert und sichert, wird es umgekehrt zur Quelle aller Art von Lasten. Der Bauer kauft es also sobald als möglich los, um es sich vom Halse zu schaffen. Dann müssen die Leute doch Geld haben; es haben die Steuern also ihren Wohlstand doch nicht untergraben! Dieser neue an- scheinende Widerspruch erklärt sich ebenfalls sehr einfach. Die Beobachtungen zeigen, daß es die wohlhabenden Bauern sind, welche für die ärmeren Gemeinde- Mitglieder die Grundstücke loskaufen, damit letztere nicht zu ihren Grundstücken geschlagen ') Wir werden hier wie weiter die Quellen nicht angeben, aus denen der Autor geschöpft hat, weil dieselben für die deutschen Leser unzugänglich sind. Die russisch Lesenden werden dieselben im russischen„Sozialdemokrat" finden. e) Für die Leser, denen die Bedingungen des bäuerlichen Grundbesitzes in Rußland unbekannt sind, muß hinzugefügt werden, daß bei der Befreiung der Leibeigenen dem Bauern Grund und Boden unter der Bedingung gewährt ward, daß er in einem Zeit- räum von 40 Jahren durch Theilzahlungen losgelaust sei. Die Ab- lösung kann aber auch erfolgen vor Ablauf der Frist durch Ent- richtung der dem Werth des Grundstücks entsprechen'""' Summe, in welchem Falle der Bauer Eigenthümer seines Grundstückes wird.
Ausgabe
4 (16.8.1890) 33
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