Gek anomisches aus Rußland . (Schluß.) 0. In den Ortschaften, in denen die Bauern be- sonders wenig Boden besitzen, hat der Zersetzungspr�zeß der Gemeinde einen frappirend scharfen Charakter an- genommen. So haben laut Bericht des Gouverneurs vom Gouvernement Jaroslaw den Grund aus die ein- zelnen Bauernhöfe vertheilt: im Jahre 1880, 13 Ge­meinden. 1881, 49, 1882, 77 und im Jahre 1885 gar 100 Gemeinden. In dem Maße, wie sich die Familie zerstückelte, ging auch die Bildung von Klassen im Dorfe, die den Bauern unbekannt gewesen, vorwärts. Nasch entstand ein Proletariat, und andererseits tauchte der Dorfwucherer auf, welcher der Gemeinde die um ihren Hals geworfene Schlinge zuzog. Es begann die Knech- tung der armen Bauern durch die wohlhabenden, die zu einem selbständigen Faktor im Zersetzungsprozeß der Ge­meinde wurde. Die Gemeinde ist unrettbar verloren.Sie muß untergehen, weil ihre Existenz keinen ökonomischen Sinn mehr hat. Heutzutage ist sie in den Händen der Wuche- rer und des Staats zu einem Mittel der Ausbeutung des Volkes geworden, aber auch als solches ist sie ver- altet, darum werden auch weder der Staat noch.die Wucherer an ihr lange festhalten. In Bezug auf die Erhaltung der alten wirthschäft- lichen Formen hat man stets viel von der Auswanderung der Bauern nach weiten entlegenen Gebieten Rußlands erwartet. Die öffentliche Meinung, welche Ansichten sie auch sonst vertreten mochte, erklärte sich stets zu ihren Gunsten. Nur die Gutsbesitzer, die den Abfluß der billigen Arbeitskräfte und den Verlust williger Pächter ihres Bodens fürchteten, sahen die Auswanderung mit scheelem Auge an. Unter ihrem Einsluße wurde die Organisation der Auswanderung durch die Regierung immer und immer wieder aufgeschoben. Da aber dieselbe von allen anderen Seiten gefordert ward, so kam die Regierung endlich mit einem diesbezüglichen Gesetz(vom 13. Juli) nieder, das der Auswanderung aber gerade nicht zu günstig ist. Angenommen jedoch den Fall, die Auswanderung sei durch die Verordnung so gut als möglich organisirt, sie erhalte die größte Ausdehnung. welche Wirkung wird dies auf die«wirthschaftlichen Lebensformen der Bauern ausüben?j_ Bei der Untersuchung dieser Frage muß man vor allem die wirkliche Lage des modernen Rußlands ins Auge fassen. Es gab eine Zeit, wo die Auswanderung die damals hauptsächlich aus der Initiative des Volkes hervorging und sehr oft sogar gegen den ausdrücklichen Willen der Regierung bewerkstelligt wurde, wirklich die alte Ordnung des bäuerlichen Lebens befestigt. Wenn Sibirien , das Transwolgasche Gebiet, Reurußland u. s. w. nicht in denselben Beziehungen zu Zentralrußland standen, wie die europäischen Kolonien zu deren Mutterstädten, so lag der Grund davon darin, daß wie in Zentral- rußland, so auch in den von russischen Emigranten be- völkerten Ortschaften der Ton des wirthschaftlichen Lebens von den Bauern angegeben ward, die unter Naturalwirthschast lebten. Die modernen Beziehungen der Kolonien zu den Mutterstädten haben die Waaren- Produktion und eine weite Arbcitstheilung zur Voraus- setzung. Verhältnisse, die dem bäuerlichen Rußland ganz unbekannt waren. So war es einst. Aber die Entwicklung des russischen Kapitalismus hat jetzt den Auswanderungen einen ganz anderen Cha- rakter aufgedrückt. Aus dem BucheSibirien als Ko- lonie" ist zu ersehen, daß der Zufluß von Auswanderern aus den zentralen, industriellen Gouvernements Ruß- lands ganz unbedeutend ist. So sind in der Periode von 1846 bis 1878 in das Gouvernement von Tobolsk eingewandert: aus dem Gouvernement von Wadimir 91 Personen, Moskau 22, Tula 429, Jaroslaw keine einzige Person, während aus den ackerbauenden Gou- vernemcnts in derselben Periode eingewandert sind: Woronjesch 5427. Pensa 2312, Witebsk 2343, Kursk 5337, Pskow 7031. Wenn man sich die Mühe giebt die Aus- Wanderungsbewegung in der periodischen Presse zu ver- folgen, so überzeugt man sich leicht, erstens, daß die Auswanderer ausschließlich aus den Ackerbauenden Gou- vernements stammen, und weiter, daß sich dieselben nicht aus dem ärmeren Theil der.Bauern rekrutiren, sondern aus der mittleren Dorfschicht, die auf Grund und Boden Werth legt, aber keinen genügenden Grundbesitz hat. Die ärmeren Bauern des Dorfes denken auch i» diesen Ort- schaften nicht mehr ans Auswandern und suchen ihren Lebensunterhalt als Taglöhner auswärts zu erwerben. Was die zentralen, industriellen Gouvernements an- betrifft, so denkt dort fast Niemand ans Auswandern, weil daselbst nicht ländliche, sondern industrielle In- teressen vorwiegen. Daher kommt es, daß selbst eine um- fassende Organisation der Auswanderung keinen unmittel- baren Einfluß auf die ökonomischen Verhältnisse der Gouvernements ausüben könnte. Wahr ist es, daß ihr mittelbarer Einfluß bedeutend sein würde. Erstens, würde sie zu der Bildung neuer Märkte an den Grenz- gebieten führen und zweitens, die Kauffähigkeit der Be- völkerung der ackerbauenden Gouvernements, die jetzt in Folge des Mangels an Grundbesitz sehr daniederliegt, gehoben haben. Die gesteigerte Nachfrage nach den Pro- dickten der industriellen Gegenden Rußlands müßte theil- weise die Nachfrage nach Arbeitskräften steigern, wodurch die Lage der armen Dorfbevölkerung, die auswärts dem Enverb nachgeht, verbessert, theilweise auch eine Ver- vollkommnung der Produktionsmittel herbeigeführt würde. All dies wäre freilich sehr schön, würde aber dadurch die Entwicklung des Kapitalismus verhindert werden? Umgekehrt, sie wäre gefördert worden und mit ihr auch die Zersetzung der alten Produktionsformen. So kommen alle Projekte, durch welche die Volksthümler gegen den Kapitalismus ankämpfen wollen gerade diesem zu gute. Könnte man auch etwas anderes von Ländern erwarten, die schon dem Einfluße der natürlichen Gesetze der ka- pitalistischen Entwicklung unterliegen?" Die Anhänger der alten Dorfgemeinde haben für ihre Erhaltung ebensoviel von der ländlichen Hausindustrie, wie von der Auswanderung und der Bodenkreditbank, gehofft. Aber wie der bäuerliche Kleinbetrieb verfällt, so geht auch die ländliche Hausindustrie Schritt für Schritt zu Grunde. Die Kräfte derKustari"(läud- liehe Hausindustrielle) reichen immer weniger aus, um gegen die Aufkäufer und Fabrikanten anzukämpfen. Von den vielen veröffentlichten Berichten über die Haus- industrie wird derjenige von Stange andie Ge- sellschaft znr Förderung der russischen Industrie und des Handels" angeführt. Zur Karakteristik des berühmken Dorfes Pawlow heißt es darin, daß der äußere Wohl- stand, den man noch jetzt konstatirt, nur ein Ueberrest des früheren Gedeihens sei. Jetztnähren sich viele Familien Monate lang nur von Brod, und auch davon haben sie nicht genug, und doch arbeitet die ganze Familie Frau, Mutter und Kinder von 1 Uhr morgens an bis spät abends. Die Hütte bleibt ungeheizt, die Beleuchtung besteht aus einem Kienspan, die Arbeiter sind fast nackt." Die Quelle dieses Elends sieht der Berichterstatter in der schädlichen Wirkung der Zwischen- Händler, welche die Produkte zu Spottpreisen auskaufen und dadurch den Verdienst auf ein sehr niedriges Niveau herabdrücken.Seit sieben Jahren", erzählt eine Zeitung, ist der Kampf zwischen den Zwischenhändlern und den Kustari" für Erstere günstig ausgefallen. Diese haben eS verstanden, dieSemstwo"(Landstände), die öffent- lichen Gewalten zu hintergehen, jede von außen den Kustari zugedachte Hülfe zu konfisziren, und dieselben fast verhungern zu lassen." Die armen Kustari hatten bei der Regierung ein Gesuch eingereicht, das von mehr als 500 Familienvätern unterschrieben wurde, die um schnelle Hülfe flehten. Es hieß, daß der Finanzminister und der Minister der Staatsgüter dem Gesuch ihre Sympathien zugewendet hätten, auch von Seiten der Semstwo wurden den Bittstellern alle möglichen Ver- sprechungen gemacht. Bleibt nur die Kleinigkeit zu wissen übrig, wann die Versprechen erfüllt werden. Gesetzt aber auch, daß die Versprechen gehalten werden, was kommt dabei für die Kustari heraus? In Rußland zählt man bis 7 Millionen Menschen, die in der ländlichen Hausindustrie beschäftigt sind. Um keiner Uebertreibung geziehen zu werden, nimmt der Autor an, daß ihre Zahl nur 3 Millionen beträgt. Trotz alledem wird man jedenfalls zugeben müssen, daß viel, sehr viel Geld erforderlich wäre, um ihnen auch das Mini- INN IN der nöthigen Hille zu gewähren. Angenommen aber, wenn auch ohne jeden triftigen Grund, daß der Staat die so bedeutenden Summen zu Gunsten der Kustari verausgabt, was können die Leute damit an- fangen? Offenbar nur das, was ihnen ihre wirthschäft- liche Lage vorschreibt, welche durch folgende Merkmale charakterisirt wird: 1. Der Kustar arbeitet in seiner Werkstatt durchaus nicht gänzlich unabhängig, 2. er produzirt nicht aus Bestellung, wie der Handwerker, sondern für den großen inneren und theilweise auch für den ausländischen Markt, dessen Forderungen ihm jedoch unbekannt sind, und 3. seine Produktionsmittel sind sehr zurückgeblieben und unvollkommen. Der ländliche Hausindustrielle arbeitet darum nicht gänzlich selbstständig, weil in der That nicht selten einige Arbeiter in seiner Werkstatt beschäftigt sind, die ihrerseits baldigst unabhängig zu werden hoffen. Was wäre nun die Folge, wenn eine Kreditbank für die Hausindustriellen eröffnet würde? Um gegen die Großproduzenten mit Erfolg kämpfen zu können, müßten sich die Kustari voll- kommenere Produktionsmittel anschaffen. In der Mehr- zahl der Fälle wäre dies jedoch unmöglich, weil nepe Produktionsmittel nur in großen Werkstätten zur Ver- Wendung gelangen können. Wir wollen annehmen, daß manche Kustari sich iu Artelli(Assoziationen) organi- siren, um gemeinschaftlich größere Werkstätten und neue Produktionsmittel zu beschaffen. Allein nicht alle Kustari werden den Organisationen beitreten, und was werden die außerhalb der Artelli gebliebenen beginnen? Während erstere mit neuen Produktionsmitteln arbeiten, werden sie noch mit den alten weiter produziren. Dies die erste Ursache zur Förderung der Ungleichheit zwischen den Kustari. Aber bei dieser ersten Ungleichheit bleibt es nicht. Indem die projcktirte Bank Vorschüsse gewährt. kann sie dem Kustari nicht das Recht nehmen, mit Hilfe von Lohnarbeitern zu produziren. Das vorgeschossene Geld könnte also nicht selten dazu benutzt werden, mehr Arbeiter zu engagiren. Dies wäre eine zweite Ursache, welche die Ungleichheit fördern müßte. Aber weiter: Die Kustari produziren nicht auf Bestellung, sondern für einen ausgedehnten, theilweise den ausländischen Markt, dessen Forderungen ihnen unbekannt bleiben; sie pro- duziren auf gut Glück los, gerade wie die großen Unter- nehmer. Wohin muß die Unbekanntschaft mit den Ver- Hältnissen des Marktes und überhaupt die moderne Anarchie in der Produktion führen? Die Schwachen werden zu Grunde gerichtet, die Starken bereichert. Die Bank, anstatt die Kustari vor dem Einfluß des Marktes zu schützen, wird umgekehrt dadurch, daß sie ihnen auf dem Markte eine thätigere Rolle sichert, ihre Abhängigkeit von seinen Gesetzen noch größer machen. Man kann also wohl mit allem Recht behaupten,daß die Bank auch auf dem Gebiete der Hausindustrie, wie im Ackerbau, die Klassenbildung nur fördern kann. Dies will heißen, daß der industrielle Kredit, wie der Bodenkredit, anstatt die Entwickelung des Kapitalismus zu hindern, seinen endgültigen Triumph nur rascher herbeiführen wird." Wir machen hier Halt. Weitere Erörterungen würden überflüssig sein, denn die angeführten Thatsachen sprechen für sich. Zum Schlüsse nur noch einige Worte. Es gab eine Zeit, wo die russischen Revolutionäre bei ihren wenig geklärten sozialen Theorien die Frage stellen konnten, ob Rußland die Phase des Kapitalismus passiren müsse oder nicht, und wo sie das Letztere hofften und wünschten. Die materiellen Verhältnisse haben sich aber stets stärker erwiesen, als die frommen Wünsche der bestgesinnten Menschen. Die materiellen Verhältnisse sind es also, die jetzt den russischen Sozialisten kategorisch die Frage stellen: wollt ihr mit oder gegen uns gehen? Die nähere Zukunft der revolutionären Bewegung Ruß- lands wird von der Antwort hieraus abhängen. Ein Theil der russischen Sozialisten, die russischen Sozialdemokraten, haben sich, wie wir oben bereits sahen, entschieden. Nachdem alle alten Theorien und die aus denselben abgeleiteten praktischen Programme ihre Ohnmacht be- wiesen haben, nachdem die alte Bewegung nach einem ungeheuren Kraftaufwand zersplittert und verfallen ist, müssen sich neue Kräfte unter neuem Banner in Reih' und Glied auf den Kampfplatze stellen. Das Feld ist jetzt frei._ Dieses Bewußtsein gelangt auch in derRundschau" zum Ausdruck, in der es zum Schluß heißt: Einige Jahre zurück, bestand die nächste und wichtigste Aufgabe der russischen Sozialdemokraten in der theore- tischen Entwicklung und Verbreitung ihrer Auffassungen unter den revolutionären Ideologen. Jetzt kann diese vorbereitende Arbeit als beendet betrachtet werden. Jetzt können und müssen die russischen Sozialdemokraten ihre praktische Thätigkeit unter den Arbeitern aufnehmen. Der Boden ist von der Geschichte genügend vorbereitet, wir haben ihn nur zu bearbeiten. Und es wäre geradezu schändlich, nicht alle dazu erforderliche Energie anzu- spannen, nmsomehr da uns diejenigen Strömungen des sozialen Lebens Rußlands nicht verwirren können, vor welchen die früheren Revolutionäre in Verlegenheit standen. Wir fürchten nicht die rasche Entwicklung des Kapitalis- mus: wir verstehen, daß er uns unserm Ziel nähert. Auch fürchten wir nicht den zeitweiligen Triumph der Reaktion: wir sehen, daß die unbeugsame Logik der Ge- schichte die Reaktionäre selbst zwingt, durch ihre Wirth- schaftspolitik, diejenige Basis zu zerstören, auf der das so abscheuliche Gebäude des russischen Absolutismus ruht. Wir kennen die unüberwindliche Kraft der geschichtlichen Bewegung und vermögen daher mit fester und ruhiger Energie an unsere Arbeit gehen." Zur Lage des deutschen Schuhmachergewerdes. § Auf Schritt und Tritt macht sich der Mangel an eingehender Kenntniß und zuverlässigem statistischen Mate- rial über die soziale Lage der Arbeiter in den einzelnen Berufszweigen fühlbar. Regierung wie Volksvertretung in Deutschland haben sich in Bezug auf die Klarstellung der thatsächlichen Arbeitcrverhältnisse schwerer Unter- lassungssünden schuldig gemacht. Und das Geringe, was durch Spezialenqueten und die Berichte der Gewerbe- iuspektoren darüber zu Tage gefördert worden ist, ver- liert noch dadurch an Werth, daß die gesetzeskundigen und ordnungsliebenden Büreaukraten, durch deren Hände solche Berichte vor ihrer endgiltigen Abfassung gehen, wie Personen, so auch Thatsachen, die zum Klassenhaß aufreizen, thunlichst zu beseitigeu suchen. Unsere Herr- schende Klasse kann noch immer nicht einsehen, daß es viel mehr in ihrem eigenem Interesse liegt, durch gründ- liehe und unbeeinflußte statistische Erhebungen ein un- geschminktes, klares Bild von den tieferen Gesellschafts- schichten zu erhalten, als darüber einen dichten Schleier zu decken. Die englische Bourgeoisie ist hierin der deutschen, wie in manchem anderen, bedeutend überlegen. Mit Genngthuung ist es daher zu begrüßen, wenn diesem Mangel von anderer Seite abgeholfen wird, wenn sich in den einzelnen Branchen selbst Leute finden, welche, von Sachkeuntniß und Erfahrung nnterstntzt, unter Herbei- bringnng genügender statistischer Angaben eine eingehende Darlegung der Lebensverhältnisse der im gleichen Berufe thätigen Arbeiter vornehmen. In dieser Hinsicht hat sich eine soeben bei Bock in Gotha erschienene werthvolle Broschüre über bie Ver- Hältnisse im Schuhmachergewerdes ein anerkennenswerthes Verdienst erworben, zumal da sie die Lage der Schuh- macher direkt aus den verschiedenen in diesem Gewerbe angewandten Methoden der Produktion herzuleiten weiß. ; Der Verfasser der Schrift behandelt die Zustände im Schuhmacherkleingewerbe, in der Großindustrie und der Hausindustrie für sich besonders, indem er die ver- schieden schattirten grauenvollen Verhältnisse, in welchen heute die Schuhmacher existiren, in Zusammenhang bringt mit der verschiedenen Art und Weise, nach welchen die ') Die Lage der deulschen Schuhmachergehilfen und deren Aufgaben für die nächste Zukunft. Von L. Freiwald.(Bock, Gotha , 1890). 49 Seilen.