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ribiim.
Sozial-Politisches Wochenblatt.
Spießbürgerliche Zlef-rmideen znr Lösung der sozialen Frage.— Znr„Sozialreform" — Der Kapitalist als Denker.— Offenbarnng — Zigennerfttten.— Konlanger.— Käcker elend.— Alkohol.— Christliche Ausbeutung in Indien. — Produktion und Technik.— Gedicht.— Uonelle.— Ans meinem Kauern fpiegcl.— Kerlinrr Arbeiter- stildnng.— Der Kapitalmerth des landliche« Grnndbestkes.
Spießbürgerliche Reformibeen zur Kösung der sozialen Frage. i. §. Die Existenz der sozialen Frage wird heute kaum noch von irgend welcher Seite ernsthaft bestritten. Verheimlichung und Vertuschung des furchtbaren Elends und der dampfen, entnervenden, Geist und Körper todtcn- den Misere, worin breite Gesellschaftsschichten schmachten, sind längst unmöglich geworden. Dazu liegen die'Miß- stünde zu offen da, und die nicht offizielle Anerkennung derselben seitens der Bourgeoisie, sowie die offizielle seitens der Regierung inußte früher oder später erfolgen und ist erfolgt; zwar in einer Weise, die Umfang und Intensität des sozialen Elends möglichst abzuschwächen sucht, aber nichtsdestoweniger ist die Existenz der sozialen Frage keine Frage mehr. Darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen. Die soziale Frage ist jedoch nicht allein eine Frage der ausgebeuteten und unterdrückten Klasse. Sie ist kein Phänomen, welches derjenige, der das soziale Elend nicht am eigenen Leibe empfindet, als Unbetheiligter aus geniüthlicher Entfernung verfolgen kann, etwa wie man im Theater ein Schauspiel behaglich in seinem Parquet- sitz zurückgelehnt in aller Ruhe durch das Opernglas betrachtet. Das Elend ist nicht nur das Elend, es be- deutet zugleich die schließliche Empörung des Elenos. Die soziale Frage ist daher nicht nur eine Existenzfrage der unterdrückten Klaffe, sondern auch eine Existenz- frage der herrschenden Klasse. Diese unangenehme Kehrseite der Medaille kommt der herrschenden Klasse immer mehr zum Bewußtsein, sie müßte denn ihre Augen verschließen. Gleichviel, ob sie es für Recht hält oder nicht, daß das Proletariat immer dringender und ungeduldiger seine Forderungen stellt, sie muß mit den Thatsachen rechneu. Die�Dinge werden ernsthaft. Die proletarische Bewegung schwillt beständig, besonders bei uns immer drohender, fast springfluthartig. Es muß unbedingt etwas geschehen, das sehen sie ein. Aber was? Darum handelt es sich. Ja, zum Teufel, was in aller Welt? Gewalt- und Unterdrückungs- Maßregeln haben schmählich Fiasko gemacht, damit geht es also nicht. Dieser schöne Ausweg ist leider als aussichtslos ver- wmmelt. Eine andere Antwort auf die proletarischen Forderungen scheint erforderlich. Nunmehr stehen die kleinen und die großen Bourgeois erst recht vor einem unlösbaren Räthel. Eines steht aber fest: Zur Erfüllung der Proletarischen Forderungen werden sie sich nicht ver- stehen; niemals werden sie sich zur Annahme eines Vor- schlages verstehen, der sie ihre soziale Position als Bourgeois opfern müssen. Aber auch Konzessionen, welche die Jntereffenkreise der Bourgeoisie mir im Entferntesten stören könnten, sind von derselben nicht zu erwarten. Sie wiedersetzt sich standhaft selbst denjenigen Forderungen, die durchaus auf dem Boden der heutigen Gesellschaft stehen, die Grund- Ursache der heutigen Misere gar nicht berühren. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Kleinbürgerthum kaum von unserem Großbürgerthum, trotzdem gewisse starke wirthschaftliche Gegensätze zwischen beiden existiren, und in anderen Ländern bei der vorliegenden Frage auch zum
Ausdruck gelangen. Bei uns hingegen nimmt Kleinbürger- thum wie Großbürgerthum in dieser Frage denselben bornirten Standpunkt ein, und wenn irgendwo, so ist hier der deutsche Proletarier dazu berechtigt, seine ge- sammte Gegnerschaft als reaktionäre Masse zu bezeichnen, wiewohl sich seine politische Taktik nicht hiernach, sondern nach den jeweilig vorhandenen Umständen richten mag. Unserm Spießbürger stellt sich die soziale Frage daher als das alte Problem dar, den Pelz zu waschen, aber ihn nicht naß zu machen. Gewiß, man kann seiner Versicherung unbedingten Glauben schenken, daß er die soziale Frage nur zu gern aus der Welt schaffen möchte. Das geschieht in der Erkenntniß, daß seine Ruhe und Sicherheit davon abhängen. Denn nicht etwa nur das Mitgefühl für die Bedrückten, welches wirklich vorhanden sein mag, sondern das eigene Klaffeninteresse gebietet ihm, irgend etwas zu thun. Aber seine bornirte Vorstellungs- welt, die auf einer unglaublichen Unkenntniß der faktischen Verhältnisse beruht, verhindert ihn, die tiefer liegenden Ursachen des Massenelends zu erkennen, und sein Klassen- egoismus macht es ihm zudem unmöglich, auch nur das kleinste Opfer zu bringen. Jeder Vorschlag ist annehm- bar, wenn es nur kein Opfer oste!. Klassenbvruirtheit und Klassenegoismus sind daher jedem Resormplane an die Stirn geschrieben, der von dieser Seite gemacht wird, gleichgültig, ob er in gutem Glauben an seine Wirksam- keit ausgeheckt wurde oder nicht. Da der Spießbürger nicht den inneren Zu- sammenhang in dem wirthschaftli chen Elend sieht, welches auf allen Gebieten des gesellschaft- lichen Lebens zugleich hervorbricht, so faßt er jede Erscheinung als Einzelerscheinung, sucht sie allein aus ihr selbst zu erklären und dem- gemäß auch zu kuriren, ohne sich an die tiefer liegende, immerfort wirkende Ursache derselben zu kehren. Er sieht nicht ein, daß eine Maßregel, soll sie anders den gewünschten Erfolg haben, wieder eine andere umfassendere Maßregel erheischt, diese wiederum eine andere und sofort, bis er zuletzt vor einem gesell- schaftlichen Gebäude steht, welches auf einer gänzlich anderen Grundlage ruht als das jetzige. Diese Konsequenzen zu ziehen ist der Spießbürger vollständig unfähig. Anstatt: Weg mit dem ganzen System! heißt es bei ihm: Hier ein Pflästerche:! da ein Pflästerchen, und von den armseligsten Bagatellen er- wartet er Wunderwirkungen. Wir haben es hier nicht mit den akademischen Weihe- Priestern und Klopffechtern der heutigen Wirthschafts- Ordnung zu thun. Man merkt ihrem hohlen sittlichen Pathos zu sehr das Gemachte, Einstudirte, mit Fleiß und allerhand Rücksichten Zusammengedrechselte an. Die eigentliche und ursprüngliche Denkungsweise des Spieß- bürgerthums kommt bei ihnen nicht zum Ausdruck. Eine kürzlich erschienene Broschüre, welche den Titel führt:„Elend und Zufriedenheit, über die Ursachen und Abhilfe der wirthschaftlichen Roth" von Leopold Heller (Dresden und Leipzig , 1890.) ist dagegen ein vortreff- liches Beispiel jener Litteratur, welche die Ansichten des bornirt naiven Spießbürgerthums über die Lösung der sozialen Frage vertrittt. Der Verfasser verkörpert in sich die Gestalt eines idealen Durchschnittsspießbürgers, einerseits insofern, als er an geistiger Fähigkeit und Be- weglichkeit, an 5lenntmß und Verständniß der wirklichen Welt weder über noch unter dem Niveau des gewöhn- lichen Durchschnittsspießbürgers steht, andererseits in- sofern, als er sich die verschiedensten Rezeptchen und Mixtürchen, die das Hirn seiner Mitspießbürger zur Heilung der vielen Wunden am heutigen Gesellschafts- körper erfand, unterschiedslos zusammengeborgt hat. Daß sein Buch an Unbedeutendheit nichts zu wünschen übrig läßt, ist selbstverständlich, aber als Gedankenausdruck einer gewissen Klasse verdient es immerhin Beachtung. Eine soziale Frage als einheitliches Ganzes kennt Heller, wie schon oben von dem Spießbürgerthum im Allgemeinen ausgeführt wurde, natürlich nicht, da ihm
der innere Zusammenhang zwischen den verschiedenen Er- scheinungen, in denen sich das wirthschaftliche Elend do- kumentirt, verschlossen bleibt. Er sieht daher so viele soziale Fragen, als er Uebel in unserer Gesellschaft ent- decken kann. Die Ueberarbeit, die Arbeitslosigkeit, die Wohnungsüberfüllung, die industrielle Ueberproduktion, die miserable Ernährungsweise der unteren Klasse, der Luxus der oberen Klasse, der Alkoholismus u. s. w., sind ihm lauter besondere soziale Fragen, die er auch demgemäß jede besonders löst mit Rezepten, deren Ge- meinsames für seine Anschauung allein darin besteht, daß sie„natürlich",„naturgemäß" sind. Hören wir den Herrn an! Die soziale Frage ist„zuerst eine Magen- frage, da die Befriedigung des Hungers alle andern menschlichen Triebe in den Hintergrund drängt". Un- zweifelhaft. Sie ist die Frage der Fragen. Heller läßt es nicht an kräftigen Worten fehlen, um die herrschende: Roth zu schildern: „Ungezählt ist der Jammer derjenigen, welche im Bestreben, ihrer Familie das tägliche Brot zu schaffen, grau werden vor Sorgen, welche verzweifeln im Kampfe unis Dasein.' Biete Exch.c-izei. dco Mi�elsianftes gehcli alljährlich zu Grunde und vermehren das Proletariat. Viele leiden Hunger; dabei ist das Getreide unverkäuflich" u. f. w. Die Magenfrage handelt es sich nun zu lösen. In diesem kritischen Moment greift jeder Spießbürger, durch die vorangegangenen kräftigen Worte geängstigt, unwill- kürlich nach seinem Beutel. Zur allgemeinen Belehrung uitd Beruhigung bemerkt unser Autor jedoch vorher: „Wir verstehen unter sozialen Reformen nicht, daß man dem einen nehme, um dem anderen zu geben, wie sich, zu ihrem Schrecken, zuweilen die besitzenden Klassen die sozialen Reformen vorstellen." Die Magenfrage hat also mit dem Geldbeutel nichts zu thun. Ihr werdet sagen, die Magenfrage, das ist doch in erster Linie eine Einkommenssrage, eine Frage nach der Höhe des Einkommens, für die Arbeiter also äugen- blicklich eine Lohnfrage:c. Ei, eben dies bestreitet Heller; Nichts einfacher als zu beweisen, daß die Magenfrage nicht eine Einkommensfrage ist.„Der Bericht des Brünner Gewerbe-Jnspektors, Herrn Cerveny, konstatirt, daß die Arbeiter ihren Verdienst vielfach für nutzlose Genußmittel verausgaben und sich daher schlecht nähren. Aber man findet auch im Bürgerstande Familien, welche bei verhältnißmäßig großen Ausgaben ihre verlorenen Körperkräfte ungenügend ersetzen. Der Statistiker Engel erbringt sogar Fälle von Hungertyphus in den höheren p reußischen Beamteufamilien." Ein schlagender Beweis! Es ist nach Heller somit klar, daß die Ernährung keineswegs vom Einkommen be- stimmt wird. Die Magenfrage ist eben eine Magenfragc, das heißt eine Frage des Magens, die nur den Magen angeht, wie schon der Name sagt. Zwar kommt Heller auch flüchtig einmal auf„Hungerlöhne" zu sprechen, wo- durch der hungernde Magen doch in bedenklich nahe Be- ziehung zu den Löhnen gesetzt wird. Aber das macht weiter nichts. Denn die Magenfrage gehört zur Sozial- reform; Sozialreform aber bedeutet doch nicht,„daß man dem einen nimmt, um dem anderen zu geben". Natürlich, sonst würde das Prvudhon'sche: Eigenthum ist Diebstahl gar zum Seitenstück erhalten: Sozialreform ist Diebstahl. Und das würde die Sozialreform kompromittiren. Man sieht, das oben gestellte Problem des zu waschenden Pelzes wird glänzend gelöst. Die Lösung der Magenfrage kostet erstens der besitzenden Klasse nicht einen Pfennig; zweitens aber wird dieselbe, was ja für die Ruhe der besitzenden Klasse äußerst wichtig ist, wirk- lich gelöst. Denn die Magenfrage liegt, wie gezeigt wird, nicht am Portemonnaie, sondern am Speisezettel. Kurz, die Lösung für die erste Theilfrage der sozialen Frage heißt Vegetarianismus, zu deutsch „naturgemäße Lebensweise",„die Philosophie der Bescheiden- heit", wie Heller wörtlich sagt.