Berliner

Sozial-Politisches Wochenblatt.

Die ersten Tage de» fozialistische« Kon- grestes. Spießbürgerliche Reformideen xnr Lösung der sozialen Frage. II. Einiges über die Lage der im Berliner Papier Uerarbeitnngs- Gewerbe beschäftigten Ar beiter. Strindberg's..Dater". Natura lismns und Sozialismus. Gedicht. UoveUe. Der Kapitalwerth des ländliche» Grundbestbes. II. Die Zncker indnstrie nud ihr Proletariat. Ans meinem Kaneruspiegel.

Die ersten Tage des sozialistischen Kongresses. Donnerstag, den 16. Oktober. Der erste Kongreß, welcher wieder auf deutschem Boden im vollen Lichte der Oeffentlichkeit stattfinden durfte, nimmt einen glänzenden Verlauf. Groß und imposant, wie unsere Partei in den Wahlkamps des 20. Februar hineinschritt, bewährt sie sich auch in den Verhaudlungen des Parteitages. Ein tiefer demokratischer Zug geht durch alle Verhandlungen. Die Meinungen treten einander kämpfend gegenüber, aber jeder Ge­danke an die von der bürgerlichen Prefie mit so viel Behagen prvphezeihte Spaltung ist lächerlich geworden. Die Partei hat ihre Einigkeit zum Aerger ihrer Feinde dokumentirt und diese Einigkeit war nicht das Pro- dult irgendwelchen blinden Autoritätenkultus. Das zeigte sich überall, besonders auch in der berechtigten oder unberechtigten Polemik, niit der sich ein Theil der Genossen gegen das Verhalten der Fraktion in der Mai- seier und bei den Stichwahlen wandte. Die Verhandlungen begannen mit den Ansprachen unserer ausländischen Gäste. Holland , Belgien , Oester- reich, Schweven. die Schweiz . Italien und Frankreich hatten Repräsentanten ihrer proletarischen Bewegung nach Halle geschickt. Und die Worte internationalen So- lidaritätsgefühls, welche da an die deutsche Arbeiter- Partei, die Vorhut der gesammten Sozialdemokratie, ge- richtet wurden, sie gaben nur der wirklichen Gemeinschaft, die uns alle verbindet, den richtigen Ausdruck. Der mächtige Mahnruf, in welchen das kommunistische Manifest ausklingt er ist zur Wahrheit geworden. »Proletarier aller Länder vereinigt Euch", diese Parole, welche in riesigen Lettern über der Bühne des Sitzungs- saales prangte, überall in den Reihen des Proletariats hat sie Widerhall gefunden. Jeder unserer ausländischen Genossen trat aus, um dafür Zengniß abzulegen. Das wichtigste Ereigniß der Montagssitzmig war der Rechenschaftsbericht der Parteileitung, welchen Bebel dem Kongresse vorlegte. In kurzen Worten zeichnete er die Wucht der Verfolgungen, die unsere Partei zu erdulden bntte. Etwa 80 Genossen wurden in den ersten zwei Jahren des Sozialistengesetzes gezwiuigen, Deutschland zu verlassen und keiner derselben ist zurückgekehrt. Keine andere Partei hätte einen solchen Aderlaß, wie er damals a» uns vorgenommen wurde, ertragen. 1500 Genossen hat das Sozialistengesetz in das Gefängniß geworfen, ahne darum unsere Agitation und die Schaar unserer Jinhäiiger auch nur im mindesten zurückzudrängen. Von 103 000 Stinimen. die wir vor dem Ausnahmegesetz hatten, sind wir zu anderthalb Millionen bei der letzten Reichstagswahl emporgestiegen unaufhaltsam, unüber­windlich. Unsere Presse, her unscheinbare, tägliche, nie ermüdende Agitator des sozialen Gedankens gedeiht vortrefflich. Sie wird durch 104 Blätter mit zusammen etwa 600 000 Abonnenten repräsentirt. Aber auch in dem Punkte, welcher von Vielen für den wichtigsten bei jeder Kriegführung gehalten wird, haben wir die wunderbarsten Erfolge. Unsere Kassen sind so wohl gefüllt, daß der Agitationssonds unserer Gegenparteien zur Lächerlichkeit daneben zusammen-

schrumpft. Wahrlich, die Zablen Bebels sprachen eine ergreifende Sprache. Wir, die Partei der Proletarier, der lumpigen, hungernden Habenichtse wir besitzen als Partei weitaus das meiste Kapital. Unsere Genossen wissen von ihrer Armuth Opfer zu bringen, vor denen der Reichthum der staatserhaltenden Parteigänger zurück- schreckt! Das Vermögen, das blos in den Händen der Parteileitung konzentrirt ist, beträgt augenblicklich 171 830 Mark. Auch von dem Agitationsplan, der sich für die Partei jetzt nach Aufhebung des Ausnahmezustandes empfehle, sprach Bebel. Man müsse energisch gegen den Ultramontanismus vorgehen, ihm ein Gebiet nach dem andern ivegerobernd. Ferner sei für die gesammte Land- bevölkerung ein besonderes Blatt zu gründen, desgleichen für die lvhndrückende polnische Arbeiterschaft und die Elsaß-Lothringer. Auch die Einrichtung eines Bureaus für sozialstatistische Arbeiten sei im Interesse der Partei sehr zu wünschen. Zeigen wir unfern Gegnern, so schloß die treffliche Rede, daß unser Ruf trotz alledem ist: Vorwärts, vorwärts, vorwärts! Im Verlauf der DiSkussiau.rmrdc dann von-Berlin aus der Antrag gestellt, es möchte zur Schlichtung der zwischen Fraktionsmitgliederu und Berliner Genossen schwebenden sachlichen oder persönlichen Differenzen eine Kommission gewählt werden. Der Antrag wurde ab- gelehnt; nachdem jedoch Werner, der Vertreter der Opposition, sich über die Beschwerden, die er gegen Fraktivnsmitglieder, insbesondere gegen Grillenberger, vorbringen müsse, verbreitet hatte, nachdem Grillenberger, Liebknecht und Bebel ihm geantwortet wurde von allen Seiten die Einsetzung einer solchen solchen Kommission befürwortet. Die Wahl derselben wird auf die nächsten Tage verschoben. Im Uebrigen drehte sich die Debatte um die Mai- feier und den Beschluß des St. Gallener Kongresses, der bei Stichwahlen den Genossen Stimmenthaltung anempfohlen hatte. Es wurde von den verschiedensten Seiten der Vorwurf erhoben, daß die Fraktion niit ihrer Mahnung, bei der für den 1. Mai geplanten Arbeits­einstellung vorsichtig zu sein, nicht rechtzeitig hervor- getreten wäre. Dadurch sei Unentschlossenheit unter den Arbeitern entstanden und diese Unentschlossenheit habe das Fiasko der Maifeier und die darauf folgenden Arbeitermaßregelungen verschuldet. Es wurde ferner ge- tadelt, daß die Fraktion bei den letzten Stichwahlen, entgegen dem ausdrücklichen Beschlüsse des St. Gallener Kongresses, ein Eintreten für die freisinnigen Kandidaten befürwortet habe. Bebel wies in seinem Schlußwort diese Angriffe zurück. Weit dem St. Gallener Kongresse habe sich eben die politische Situation geändert. Räch dem Ausfall der Wahlen vom 20. Februar hätte man hoffen können, die Reihen der Opposition bei der Stichwahl so zu stärken, daß eine Verlängerung des Sozialistengesetzes ven der Majorität des neuen Reichs- tages abgewiesen werden würde. Darum habe die Fraktion jenen nicht mehr zeitgemäßen Beschluß, der auch von den Parteigenossen im Lande jetzt als Fessel empfunden wurde, gebrochen und sei dafür eingetreten, die Opposition schlechthin also auch die freisinnige bei den Stichwahlen zu unterstützen. Was die Mai­feier betreffe, so habe man einen Fraktionsbeschluß über dieselbe deshalb hinausgeschoben, weil man allgemein eine sehr viel frühere Einberufung des Reichstages, welcher die neue Fraktion vollständig in Berlin versammelt hätte, erwartete. Man konnte nicht wissen, daß dieser Termin so weit hinausgeschoben werden wRrde. Materiell müsse aber die Haltung der Fraktion durchaus gebilligt werden. Die Industrie ging schlecht und unser Unternehmerthum hätte mit Vergnügen ungezählte Arbeiterschaaren auf's Pflaster setzen können, Die Fraktion, welche bei einer solchen Lage Oel hi's Feuer goß, habe sehr viel gutes gewirkt, indem sie durch ihren Beschluß die Zahl der Feiernden und damit die Masse der Aussperrungen ver- minderte.

Am Dienstag reserirte Singer über die parlamen- tarische Thätigkeit der Fraktion. Er erläutert die ablehnende Haltung unserer Partei dem Militarismus, der Steuerpolitik, der Kvlonialpolitik und der offizieller Sozialreform gegenüber. Der Parlamentarismus sei eine unentbehrliche Waffe des Proletariats, nicht nur in den Agitation bewähre sich die parlamentarische Taktik unserer Partei, sondern auch in dem moralischen Drucke, welchen �sie ans die übrigen Parteien ausübe. Das kleine Bischen Sozialrefvrm, das wirklich Nutzen für den Arbeiter bringe, sei nur durch unsere parlamentarische Thätigkeit Erreicht. Verschiedene Redner schließen sich den Aus- sührungen Singers an und sprechen ihre vollkommene Zu- stimmnng zu der bisher von der Fraktion im Reichstage befolgten Taktik aus. Als einziger Opponent tritt Werner auf. Seiner Meinung nach hätten sich unsere Abgeordneten zu tief in die parlamentarische Thätigkeit eingelassen. Die Wichtigkeit des Arbeiterschutzes werde bei weitem übertrieben. Das eherne Lohngesetz mache alles, was man auf dem Wege des Arbeitcrschutzes ge- Winne, null und nichtig. Er führt dann im Besonderen einige bestimmte Fälle an, in denen er-ine rnnzipielle Haltung der Fraktion, besonders Bebels, nicht habe er- blicken können. Die stürmische Agitation, die Prokla- mining unserer Prinzipien, die stäte Bearbeitung der großen Masse das sei auch für unsere parlamen- tarischen Vertreter die eigentliche Aufgabe. Darauf nahm Bebel zur Erwiderung das Wort. Er widerlegte sehr eingehend und überzeugend die spezialisirten Einwürfe, die Werner gegen ihn und die Fraktion erhoben. Er rügte scharf die Unklarheit in den allgemeinen ökonomischen Ausführungen Werners, durch welche er die Nutzlosigkeit einer Arbeiterschutzgesetzgebung habe beweisen wollen. Beim Wahlkampf habe Werner diese radikalen Ansichten noch keineswegs geäußert, er würde dann nicht ein Drittel der thatsächlich auf ihn entfallenen Stimmen erhalten haben. Die Taktik unserer Partei, schon in der gegen- wärtigen Gesellschaft alles für die Arbeiterschaft praktisch Erreichbare anzustreben, sei die einzig richtige. Ohne sie würden uns die Massen nie folgen. Aehnlich spricht sich Singer im Schlußwort aus. Am Nachmittag erhielt Auer zu seinem Referat über den Organisationsentwurf das Wort. Er tadelte die Heftigkeit, welche in der Kritik des Organisations- eutwnrfes hier und dort zu Tage getreten sei. Der Ent- wurf nehme möglichste Rücksicht auf die bestehenden gesetz- lichen Verhältnisse; man wolle es für's Erste trotz der Vereinsgesetze mit einer allgemeinen Organisation versuchen, werde man aufgelöst, so werde es der Partei dieser unzerstörbare Substanz am Ende auch nichts schaden. Die Forderung, daß nur der im engeren Sinne als Parteigenosse gelten solle, welcher die Partei auch dauernd materiell unterstütze, könne man eventuell fallen lassen, weil dieser eine Paragraph schon genüge, uns als»Ver- ein" zu kennzeichne» und uns so der Gefahr einer Auf- lösung auszusetzen. Die andere Bestimmung, daß, wer ehrlose Handlungen verübt habe, von der Parteigenossen- schaft auszuschließen sei, müsse aber jedenfalls festgehalten werden. Nicht darauf, ob jemand bestraft sei, auf die moralische Oualität seiner Handlungen komme es, wenn mau über seinen eventuellen Ausschluß zu entscheiden habe, an. Irgend eine gegen die großen Städte gerichtete Tendenz liege dem Paragraphen, welcher die Delegirten- zahl jedes Kreises auf das Maximum von drei beschränken wolle, nicht vor. Hauptzweck des Parteitages sei doch, die Genossen zu weiterer Arbeit anzufeuern, auf den Wahlmodus komme wirklich nicht sehr viel an. Dafür, daß die Fraktion und nicht der Parteitag die Gehälter der mit der Parteileitung betrauten Personen festzusetzen habe, spreche die einfache Thatsache, daß der Kongreß doch nicht im Voraus die Arbeitslast und damit die nothwendigen Entschädigungen der Vorstandsmitglieder werde berechnen können. So niedrig solle man doch nicht denken, in den diesbezüglichen Paragraphen des Entwurfes ein Geschäftsmanöver zu wittern. Eine zen-