und ging weg. Sie konnte nun ja denken, er habe sich geirrt, daß er ihr nachgegangen sei. Er war so aufgeregt, daß er nicht nach Hause gehen mochte. Er ging mit weiten Schritten durch die Straßen, die Haare wirr, und den Filzhut schief auf- gesetzt. Der Mantel hing ihm auf den Schultern. Das sah poetisch aus, und darüber freute er sich. Es gingen ihm allerhand Gedanken durch den Kopf. Einmal sagte er sich, daß er sehr verliebt sei in das Mädchen; aber dann meinte er wieder, das sei nur Einbildung; dann freute er sich über seine aufgeregte und poetische Stimmung und dachte, daß er jetzt so ähnlich aussehen müßte, wie Byron; dann überlegte er, daß er doch eigentlich garnicht besonders aufgeregt sei, daß er im Grunde ruhig war; und er hatte ja doch auch gar keine Ursache, aufgeregt zu sein. So ging er eine ganze lange Zeit herum. Er kam beim Cafö National vorbei und ging hinein. Eine erstickende, widerliche Luft, versetzt mit den Ausdünstungen der Menschen, mit scharfen Parfüms, Zigarrenrauch, übermäßig heiß, so daß sie ihm das Blut zum Kopf trieb. Auf den Divans die Wände entlang und an den Tischen in der Mitte saßen die Weiber, einige theilnahmslos, kalt, ruhig wartend, bis sich Jemand zu ihnen setzte, andere mit den Männern am nächsten Tisch kokettirend, oder im Gespräch mit Männern, die bei ihnen saßen. Von den Kronleuchtern zuckte das scharfe, elektrische Licht nieder und ließ die Schminke auf den Gesichtern genau erkennen. Ein unsäglicher Ekel überkam ihn, als er dachte, die Luft, die er hier einathmete, komme vielleicht eben aus der Lunge eines dieser Weiber. Die Kellner klapperten mit den Präsentirtellern; die Gäste gingen und kamen, abgelebte Gesichter mit theilnahmslosen, ausdruckslosen Mienen. Er setzte sich an einen leeren Tisch und verlangte vom Kellner ein Journal; er bekam das Journal Amüsant. Als er den Titel sah, wurde er verlegen, denn er hatte schon früher davon gehört. Aber er legte es nicht weg: er schämte sich, wenn man es sah, wie er es weglegte; und dann war er auch neugierig. Er besah sich die Bilder genau. Uebrigens hatte er ja auch Interesse für die Zeichnungen als Kunstwerke. Er wurde ziemlich erregt; einmal sah er sich scheu um, ob man es be- merkte, und dann ließ er die Finger über eine Zeichnung gleiten, als wenn er die Figur streicheln wollte. Aber das Herz schlug ihm dabei. Nein! er legte das Journal bei Seite. Am Nebentisch saß ein ganz junger Mensch von vielleicht fünfzehn Jahren neben einem Frauenzimmer, die wohl um die Hälfte größer war, wie er. Es war Possirlich, wie der Kleine that, und wie ernsthaft das Mädchen darauf einging; sie war schon alt; aber es war doch auch ekelhaft. Gegenüber auf dem rothen Divan saß ein alter, vergnügter Herr mit ganz weißem Haar zwischen zwei Weibern mit denen er schäkerte; er ließ Chanipagner kommen. Er saß eine ganze lange Zeit und sah aus Alles hin. Es war schon sehr spät, als noch ein Mädchen hereinkam, langsam, mit wippendem Gang, und sich nach allen Seiten umsehend. Sie ging durch die Tische durch und setzte sich zu ihm; aber sie drehte ihm den Rücken zu und that, als benierke sie ihn garnicht. Er rückte be- klommen seinen Stuhl etwas ab. Das Mädchen hatte einen hohen, weißen Hut mit einer schwarzen Feder; er konnte die hintere Seite der Feder sehen. Das Haar war aus dem Nacken in die Höhe gekämmt. Das Kleid war eng und preßte die ganze Figur zusammen, denn man konnte sehen, wie die Nähte der feuerrothen Taille tiefer eindrückten, wie die anderen Stellen. Auch die Aermel waren eng, und der Ellenbogen-Knochen stand spitz heraus. Sie suchte offenbar die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; sie trällerte und schlug mit den Füßen den Takt auf dem Boden. Aber einmal merkte er, wie sich plötzlich die Schulterblätter weit aus dem Rücken hoben, als wenn sie heimlich seufzte. Plötzlich wendete sie sich um und sah ihn stolz an: Willst Du meine Melange bezahlen?" Sie hatte schon ein altes Gesicht, eine spitze Nase, einen dünnen Mund und tiefliegende Augen; unter den Augen hatte sie einen schwarzen Strich. Wenn sie athmete, so entstand und verschwand eine tiefe, gradlinige Falte in der rothen Taille, dicht unter dem Hals. Ja gewiß", stotterte er. Er bezahlte sofort dem Kellner; dann stand er auf und ergriff seinen Hut. Das Mädchen folgte ihm und sie gingen hinaus. Draußen legte sie ihren Arm in den seinen. Er war ganz verwundert; es war ihm unbehaglich zu Muthe. Er wollte mit diesem Geschöpf nicht zu Hause gehen, aber er schämte sich, ihr zu sagen, daß sie gehen sollte. Und er hatte auch wohl Lust, sie mit nach Hanse zu nehmen, er würde es ja nie wieder thun! Er wußte dann doch wenigstens, wie das ist, wenn man mit einem Weibe zusammen ist. Es stieg ihm leise zum Herzen. Schenkst Du mir auch was?" Ja, ja!" Er hatte die Frage garnicht verstanden und sie fragte auch nicht weiter, er war wohl sicher. Es war ein endloser Weg bis zu Hause. Der Morgen graute schon, aber die Straßen waren noch öde und leer. Ihre Schritte hallten in den öden Straßen. Sie gingen die Friedrichstraße hinauf. Ein Zigarren- laden war noch geöffnet. �JZÖenn man rauchte, so konnte man sich hier Zigarren kaufen. Sie gingen über die Brücke. Das Wasser dampfte, wie eine auseinander ge- riffene Schicht Watte. Sie gingen noch weiter, bis sie nach Hause Jamen.. Zur kapitalikischen Entwicklung D in Rußland. ? . Man wird von der kapitalfrommenKöln . Ztg." keine Kritik des Kapitalismus oder seiner Entwicklung erwarten. Man wird auch nicht voraussetzen, daß diese Leute, welche ja in ihrer Klaffe befangen sind, die Objektivität besitzen, um Kapitalismus und Entwicklung des Kapi- talismus zu verstehen. Das können nur wir leisten, weil wir nicht mehr in der Kategorie stehen, sondern schon darüber hinaus sind, weil wir den Kapitalismus schon als Geschichte auffassen können. Aber trotzdem kann ein ruhiger und sorgfältiger Beobachter doch die einzelnen Merkmale aufzeichnen. Er kann beschreiben, wenn er auch nicht analysiren kann. Das leistet ein Korrespondent derKöln . Ztg." in Bezug auf die Entwicklung der modernen Produktionsweise in Nußland, daß sich ja noch in dem Stadium befindet, das andere Länder schon längst hinter sich haben. Er schreibt u. 91.:J Die Nachrichten, welche über die wirthschaftlichen und sozialen Verhältnisse des russischen Reiches in die europäische Presse dringen, müssen dem unbefangenen Leser auf den ersten Anblick recht widerspruchsvoll er- scheinen. Auf der einen Seite liest man, daß die Staats- finanzen blühen, daß die Staatseinnahmen stetig steigen und daß der Finanzminister die kühne Hoffnung hegt, seine Voranschläge mit Ueberschüssen zu schließen. Auf der andern Seite künden Telegramme und Berichte das große Elend des Bauernstandes, das an manchen Orten schon zu förmlichen Agrar-Revolutionen geführt haben soll, liest man vielerlei über den wirthschaftlichen Nieder- gang des Adels und Großgrundbesitzes und über eine empfindliche Stockung der Geschäfte im Allgemeinen. Beide scheinbar einander ausschließende Angaben sind, von den unvermeidlichen Uebertreibuugeu abgesehen, im Ganzen und Großen richtig; will man aber verstehen, wie sie sich miteinander vereinen, so muß man sich die Mühe geben, etwas tiefer in die Geheimnisse der sozial- politischen Verhältnisse Rußlands zu dringen. Nehmen wir zuerst die Baueruschast. Keinem Laudwirth, der sich in Rußland nur einigermaßen umgcthan, ist es ent- gangen, daß die den Bauern gehörigen Ländereien, auch in den besten und fruchtbarsten Gegenden, zumeist schlecht bestellt sind. Ihre Dörfer bieten ein Bild der größten Armuth, ibre Häuser sind elende Lehmhütten mit Stroh- dächern, und was die Bewohner betrifft, so erscheinen sie wohl im Allgemeinen als ein kräftiger Menschenschlag, sind aber durchweg noch sehr urwüchsige, verwahrloste, wilde Gestalten. Man muß wahrhaft staunen, derartige elende Dörfer und derartige auf der niedrigsten Kultur- stufe stehende Menschen auf 30 und noch weniger Kilo- mcter von der Eisenbahn in den fruchtbarsten Provinzen anzutreffen. Fragt man nach den Ursachen, so erhält man gewöhnlich zur Antwort: die Bauern- Emanzi­pation. die folgenschwerste Regierungshandlung Kaiser Alexander's II., sei zu unvermittelt durchgeführt worden. Aus Leibeigenen seien im Handumdrehen Rechtssubjekte, noch dazu mit den weitestgehenden Befugnissen in der Gemeindeverwaltung, gemacht worden. Anstatt, wie es erwartet worden, einen kräftig blühenden Bauernstand zu begründen, habe die Emanzipation nur bewirkt, daß die vollständig sich selbst überlaffenen, aus der niedrigsten Kulturstufe stehenden Bauern vor Allem die Begierde hatten, von dem ihnen gewordeuen Selbstbestimmungs- rechte den ausgiebigsten, leider nicht immer vernünftigsten Gebrauch zu machen. Dabei verarmten sie größteutheils und wuchsen zu einem unzufriedenen, theilweise selbst unbotmäßigen Element im Staate heran. In Wahrheit hat die Auffassung, daß die Bauern-Emanzipation, wahr- scheinlich durch die unzweckmäßige Art ihrer Durch- führung, die materielle Lage der Landbevölkerung nicht gebessert hat. viel für sich. Sie stimmt wenigstens voll- ländig mit den Erfahrungen, die auf diesem Gebiete gemacht wurden. Ein urtheilsfähiger Beobachter, der bekaunte englische Generalkonsul Mitchell, hat schon vor längerer Zeit die gleiche Wahrnehmung zum Ausdruck gebracht. Wenn der russische Bauer gegenwärtig eine kritische Uebergangszeit zu überwinden hat, so befindet sich der kleinere und größere Grundbesitz in womöglich noch ernsterer Lage. Die zahlreiche Klasse der kleineren und mittleren adeligen Grundbesitzer, welcher vor der Emanzipation bestand, ist so gut wie verschwunden. Der Grund und Boden ist längst in den Besitz derKulaki ", Landwucherer, übergegangen, während sie selbst, die Uebcrreste der früheren russischen Gentry, meist auf dem Dorfe ein Bauerulebeu führen. Aber selbst die großen Grundbesitzer haben Ursache, über ungünstige Wirth- jchaftsverhältniffe zu klagen, und auch in dieser Klasse ist der Verkauf des Familiengutes an den Kaufmann oder Landwucherer eine nicht ungewöhnlichq Erscheinung. Allerdings wäre es nicht berechtigt, die Verarmung des russischen Adels ausschließlich elwa der Bauern-Emanzi- .'ation und den laudwirthschaitlichen Krisen auf die Rechnung zu setzen und den Antheil, den eigenes Ver- schulden au dieser Erscheinung hat, zu übersehen; aber Thatsache ist es nun einmal, daß der russische land- besitzende Adel seine frühere Rolle ausgespielt hat und ohne Vertrauen zu sich selbst und zu seiner Zukunft immer weiter in den Hintergrund rückt. Bauernschaft und Adel haben sonach seit den Tagen der Emanzipation nicht gewonnen. Letzterer ist an Macht und Reichthum zurückgegangen; die erstere, die Bauernschaft, hat eS bis­her wenigstens nicht verstanden, die hohe Gunst, die ihr Kaiser Alexander II. durch die Befreiung gewährt hat, zu ihrem materiellen Vortheil zu verwerthen. So ist denn, möchte man fragen, die große Emanzipation wir- kungslos geblieben? Oder knüpfen sich gar an diese hochherzige Maßregel nur schädliche, den Staat und dessen einzelne Klaffe beeinträchtigende Wirkungen? Mit Nichten! Wer vermöchte die ganz erstaunlichen Fortschritte zu übersehen, die Rußland seit den Tagen der Emanzipatio« gemacht! Nach dem Krimkriege konnte das Riesen- reich mit Mühe einen Budget von 250 Millionen Rubel aufbringen; jetzt belaufen sich die Staats- einnahmen auf 900 Millionen Rubel. Ein Eisen- bahnnetz von 30 000 km, die Begründung einer vom Auslande unabhängigen Industrie sind sprechende Beweise für die Fortschritte des Landes in wirthschaftlicher Hin- ficht. Dieser Fortschritt geht aber Hand in Hand mit einer sozialen Umwälzung, die tiefe Furchen in alle Schichten der Bevölkerung reißt und allem Anscheine nach noch lange nicht abge- schlössen ist. Der Stand, der aus der sozialen Ent- Wickelung der letzten Jahrzehnte und aus der hierdurch hervorgerufenen Verschiebung der Reichthümer einzig Nutzen gezogen hat, ist der Kaufmannsstand, der Kupez" in seinen mannigfachen Varianten, als Land- Wucherer im Dorfe, als Ladenbesitzer und kleiner Geschäftsmann in der Provinzstadt und als In- dustrieller und Großhändler in den große» Handelszentren des Reiches. Ueberall und unter den verschiedensten Verhältnissen dieselbe Individualität, mit geriebenem Geschäftssinn ausgestattet, zeigt diese Klaffe große Lebenskraft und wenigstens in der erste» Generation ganz auffallende Genügsamkeit. Die Kon- zentrirung des beweglichen wie unbeweglichen Vermögens in den Händen dieser Klasse g». staltet sich von Jahr zu Jahr vollständiger. Einmal im Besitze des Vermögens, zeigen diese Kauf- leute sofort das Bestreben, kulturfähig zu werden. Je ungebildeter die Eltern, desto mehr Sorge und Geld wird auf die Erziehung und Bildung der Kinder ver- wandt. Dann tritt sichtlich das Bemühen hervor, die Lebensweise nach Art der Adeligen einzurichten. Auch gehören jetzt Familienverbinduugen zwischen diesen beiden Klassen nicht zu den Seltenheiten. Nach dieser Entwickelung der Dinge ist wohl vorher- zusehen, daß dem Kaufmannsstande, dem kräftigsten Vertreter des russischen Bürgerthums, im Reiche noch eine große Rolle beschieden ist. Die An- Hänger der liberalen Gesetzgebung der sechziger Jahre setzen auf diesen Stand ihre ganze Hoff- nung. Nach ihrer Ansicht werde aus den soziale» Wirren, an denen Nußland gegenwärtig leidet, ein kräftiges, russisches Bürgerthum, welches Besitz und Wissen vereinigt, hervorgehen. In dieser Klaffe werde der Staat eine kräftige Stütze finden, welche die Einbuße, die er durch den Rückgang deS Adels erleidet, mehr als ersetzen wird. Kaiser Alexander III. und seine einflußreichsten Rathgeber sind in diesem Punkt, was nämlich das emporkommende Bürgerthmn als staaten- erhaltendes Element betrifft, nicht der Ansicht, der im vorhergehenden Satze Ausdruck gegeben ward. Die maß- gebende Politik hält sich immer noch in der vom Grafen Tolstoi vorgeschriebenen Richtnng und zielt dahin, dem Adel seine früheren Vorrechte wenigstens theilweise zurück- zuerstatten, um ihn solcher Art neues Leben einzuflößen. Indessen versprechen diese Galvanisirungsversuche nur geringen Erfolg, wie sich dies an der neuen Einrichtung der Ädelsvorstäude an der Spitze des SemstwoS zeigt, die aller Orten großem Widerstand begegnet und durch- auS nicht volksthümlich werden kann. Die lebenskräftige Entwickelung der Kaufmannschaft dagegen erhebt diese Klaffe immer mehr zu einem wirthschaftlichen und po- litischen Faktor von hervorragender Wichtigkeit, erfüllt sie mit Selbstbewußtsein und weckt allmählig in ihren Kreisen Erwartungen, mit welchen die Regierung aller Wahrscheinlichkeit nach dereinst noch ernster wird rechnen müssen, als dies früheren konstitutionellen Regungen gegenüber der Fall gewesen ist." Sehen wir von den unrichtigen Deutungen und Erklärungen ab, so haben wir ei» ganz klares Bild: der Ruin des Bauernstandes, welcher dem Industriellen das nöthige Kanonenfutter für die Entwicklung der In- dustrie liefert: die Umgestaltung der Aristokratie, welche ruinirt wird, wo sie nicht mit der alten Routine liricht, oder sich der bügerlichen Zeit gemäß umgestaltet, indem sie durch Heirathen mit dem Bürgerthum ihre Grundstücke mit Kapital befruchtet, welches jetzt»öthig wird; und das Entstehen der Bv urgeo isie durch Wucher und Handel auf der ersten, durch industrielle Unter- nehmungen auf der zweiten Stufe. ES geht vorwärts in Rußland ! Freilich, Väterchen ist traurig; er hat eine feine Nase und riecht den Braten. Wenn das Bürgerthum erst stark.und selbstbewußt geworden ist. so sprengt es die absoluten Ketten; mag es jetzt auch noch so konser- vativ, slavisch und fromm sein, die Söhne dieser Bvur- geoisie sind schon anders. Damit wird aber der Sozialdemokratie der Weg vorbereitet, und sie wird dann schon die weiteren Konsequenzen zu ziehen wissen.