L Beilage zum„Vorwärts" Berliner VoWIatt. Zlr. 241. Mittwoch, den 14. Oktober 1896. 13. Iichrg Parteitag dev soziAldetnokratifchen VAvkei DeutfichlÄNds. Zweiter Verhandlungstag. Gotha . 13. Oktober 1336. Vormittagssihung. g>/4 Uhr. Den Vorfitz führt Singer. Bei Eröffnung der Sitzung heißt Singer den Telegirten der österreichischen Bruderparlei, Genossen S chuni ei er, wilikonimen. Wir freue» uns umso mehr über seine Gegenwart, als wir wissen, daß die österreichischen Gen offen, name» liich d iejenigen, die durch das Vertrauen der Genoffen mit der Führung der Geschäfte der Partei betraut sind, jetzt in einer Thätigkeit begriffe» sind, die zu unierbrechen, um hiilherznkommen, ihnen zu schwer ist. Die österreichischen Genossen befinden sich in der Vorbereitung der Reichsralh-wahlen. Wir hoffen und wülischen, daß die Erfolge bei denselben der tapferen, energischen Agitation der österreichischen Soffaldeinokraiie. ihren Anstrengungen und ihrer unermüdlichen Thätigkeit entsprechen werden. Und wir sind sicher, daß, wenn die österreichische Sozialdemokratie in den Rcichsralh eintritt, die große Sache, der wir gemeinsam dienen. erheblich gefördert wird. Auch im österreichischen Parlament wird der bürgerlichen Gesellschaft die Wahrheit gesagt werden, wird olles gethan werden, um in den gegenwärtigen Verhältnissen fllärimg und Besserung zu schaffen.(Bravo !) Ich heiße nochmals de» Genossen Schnmeier willkommen und erfülle seinen Wunsch, indem ich ihm das Wort ertheile. S ch u m e i« r: Werlhe Parteigenossinnen und Genoffcn! Im Namen der österreichische» Sozialdemokratie entbiete ich dem Parteitage Gruß und Handschlag. Wenn die Vertretung von unserer Partei heute so klein ist, wie auf keinem der frühere» Parteitage, so liegt das an der schwierigen Lage, in der wir uns gegenwärtig befinden. Wir i» Oesterreich haben einen weit schwereren Stand, als Ihr. Unser Bürgerlhum steht so tief, es bekämpft uns seit Jahren mit so schmutzigen Mitteln, daß wir ihnen nicht mit gleichen Waffen dienen können. Wenn ich Ihnen sage, daß Dr. Lueger, der Vizcbürgermeister unserer Reichs- Hauptstadt, wo doch die Intelligenz zusammen sein sollte, als Theilnehmer angemeldet war zu dem Anlifreimaurer- Kongreß, der des Teiisels Unterschrift prüfen wollte und auch geprüft hat(Heiterkeit), so werden Sie begreifen, wie tief unser Bürgerlhum steht. Wir müssen es ruhig mit ansehen, daß aus den österreichischen Provinzen russische Slaate» gemacht werden; ich weise nur aus die Zu- stände in Galizien hin. Wenn Sie ferner bedenken, daß bei uns die Uebenvacher von Versammlin gen verbieten, Bier zu trinken (Ruf: Bei uns auch! Heiterkeit), so können Sie sich ein Bild von den österreichischen Verhältnissen machen. Ich kann nicht alle Dummheiten unserer Bezirkshauptleute auszählen, die weil dümmer sind, alS anderswo.(Heiterkeit.) Wenn erst Mitglieder unserer Partei ins österreichische Parlament einziehen, so wird auch rücksichtslos gegen die vorgegangen werden, die tagtäglich das Gesetz mit Füßen treten. Wir sind jetzt in der Arbeit begriffen, und im Frühjahr wird es sich entscheiden. Ich bin überzeugt, daß Ihr an unseren Erfolgen ein ebenso lebhaftes Interesse nehmi, wie wir stets an den Eurigen. Je stärker die Sozialdemokratie in Oesterreich ist, desto besser steht es auch in Deutschland und umgekehrt. A» Muth und Tbaikraft hat es uns»och nie ge- fehlt, wohl aber an Geld(Heiterkeit), und wen» uns nirgends mehr eine Quelle offen stand, so haben wir es gemacht wie Moses , nur daß dieser an den Felsen klopfte, während wir immer kräftig bei Euch anklopfen.(Heiterkeit). Wir gehen nickt gern betteln, denn das ist kein angenehmes Geschäft, aber wir Oesterreicher san grade Kerls, ich rede frei von der Leber weg und ich sage Euch offen: Wir werden wieder klopfen kommen.(Große Heiterkeil). Für die«Wiener Arbeiterzeitung ' werden wir nicht mehr klopfen, wohl aber für den Parteifonds, damit es uns gelingt, zum Frühjahr ein Dutzend Genossen ins Parlament zu schicken.(Beifall.) Bei uns sind nur die großen Städte roth. aber alles andere ist schwarz, und wir werden mit der klerikalen Partei hart zu kämpfen habe». Ich bitte Sie also, uns nicht zu vergessen, wenn der Ruf an Sie ergehen sollte. Sobald erst Oesterreich einmal in die Reihe der Kulturländer eingerückt ist, wird auch bei uns die Bettelei ein Ende haben.(Heiterkeit.) Ihr lacht darüber, aber das, was wir heute durchmachen, habt Ihr vor 2S Jahren auch durchgemacht, nur mit den, Unterschied, daß Ihr nirgends habt anklopfen können. Ich sehe nickt ein, ivarum wir die Unterstützung einer so mächtigen Bruderpartei verschmähen sollen, und wenn ich mtt meiner Begrüßung das Angenehme verbinde und Euch die Ueberzengung beibringe, daß das Geld, was Ihr nach Oesterreich schickt, in würdige Hände kommt, so habe ich meinen Zweck vollständig erreicht. (Große Heiterkeit.) Ich bin zu Euch geschickt, um von Euch zu lernen. Die Sozialdemokratie Deutschlands hat uns gelehrt, wie man Sozialistengesetze überwindet, sie wird uns auch lehren können, wie man Bezirke erobert und den Gegnern das Hest aus den Händen reißt. Ich wünsche Euch zu Euren Beralhungen den besten Erfolg.(Lebhafter Beifall.) Eine Reihe von Begrüßu, g schreiben sind eingelaufen. Vor Eintritt in die Tag sordnung wird der Bericht der MandatSprüfungs- Kommission entgegengenommen. den A n t r i ck- Berlin erstaltet. Hiernach sind ISS Delegirte erschienen. Gegen das Mandat des Genoffcn Götze-Meeraue ist ein Prolest eingelaufen. Die Kommission beantragt über de» Protest zur Tagesordnung überzugehen, da die in ihm enthaltenen Gründe der Wahrheit nicht entsprechen. Ein zweiter Protest richtet sich gegen das Mandat der Genossin Heinrich-Sagan, der darin vorgeworfen wird, daß sie ihr Mandat erschlichen habe. Auch diese Angaben haben sich nicht bewahrheitet und die Kom- Mission beantragt gleichfalls Uebergang zur Tagesordnung über diesen Protest. Bei-dieser Gelegenheit möchte die Komniission noch ein ernstes Wort an die Genoffen im Lande richten. Es hat sich nack und»ach das Prolestmachen gegen Parleitagsmandate alS grober Unfug ausgebildet. Aller Stank und Zank, selbst wenn er vor S, 10 Jahren in den einzelnen Partei-Orlen vorgekommen ist, wird i» Gestalt von Protesten vor den Parteitag gebracht. Wir muffen demgegenüber die Genosse» auf die§{5 1 und 2 unseres Organisationsstatuts hinweisen, worin ausdrücklich steht, daß über die Parteizugehörigkeit die Genossen des«inzelnen Ortes entscheiden. Es gehl nicht an, daß der Parteitag beständig damit belästigt wird, einzelne längst abgethane Streitigkeiten zu untersuchen.(Zustimmung.) Der Antrag der Mandatsprüsungs- Kommission, sämmtliche Mandate für giltig zu erklären und über die beiden Proteste zur Tagesordnung überzugehen, wird debattelos angenommen. Singer: Ich höre, daß auch ein Delegirte» unserer holländischen Bruderparlei, Genosse Vliegen, anwesend ist. Wir wissen die schwere» Kämpfe, in denen unsere Genossen in Holland stehe», vollauf zu würdigen, und freuen uns, daß sie trotzdem einen ihrer ältesten und tapfersten Genosse» hierher geschickt haben. Ich heiße ihn willkommen und hoffe, daß er aus unseren Verhandlungen die Ueberzeugung mitnehmen wird, daß wir bereit und gewillt sind, die Thätigkeit, welche unsere Genossen in Holland namentlich auch gegen den Anarchismus entwickeln, mit Ausmerksamleit und Dank zu ver- folgen. Wir sind der sicheren Ueberzeugung, daß es ihnen ge- lingen wird, die Interessen der Sozialdemokratie in erfolgreicher Weise zu vertreten und die Sozialdemokratie zu reinigen von den Elementen, die bewußt oder unbewußt die Interessen der bürjjer- lichen Gesellschaft vertreten, indem sie die Thätigkeit der Sozial- demokratie stören und verhindern.(Lebhafter Beifall.) B liegen: Werthe Genossen! Der Vorstand der sozial- demokratischen Arbeiterpartei Hollands hat mich hierher gesandt, um Sie zu beglückwünschen wegen Ihres steten Vordringens in Ihrem Kampfe, und Ihnen die Versicherung unserer brüderlichen Solidarität zu bieten.(Beifall.) Sie wissen aus Ihren Partei- blättern wohl etwas über die Parteiverhältnisse in Holland . Vor 3 Jahren ist die ganze sozialdemokratische Organisation, der frühere sozialdemokratische Bund in Holland , mit Sack und Pack zum Anarchismus übergegangen. Sie wissen aus Erfahrung, wie es die Thätigkeit der Partei stört, wenn eine Minderheit zum Anarchismus übergeht; wenn es aber die große Mehrheit ist, mit der ganzen Organisation, der ganzen Presse, dann iönnen Sie sich denken, daß das eine noch viel größere Verwirrung geben muß, und das ist bei uns der Fall gewesen. Die alte Partei ist durch ihren Uebergang zum Anarchismus zerstückelt und zerbröckelt und zerfallen; sie hat nicht mehr etwas zu bedeuten. Während noch vor drei Jahren fast in jedem Dorf im ganzen Lande eine Abtheilung der Partei vorhanden war. z. B. im Norden der Provinz Groningen 27 Ablheilungen, cMiren dort jetzt nur noch 3 oder 4. So soll es überall gehen, wo der Todeshauch des Anarchismus über die proletarische Bewegung hingeht. Wir sind zwar dagegen eine kleine, junge Partei, aber wir sind gefestigt und wisse», was wir wollen. Wir wissen, daß wir nicht durch große Worte, durch Barrikadenreden der Sache der Sozialdemokratie dienen, sondern durch Erziehung und Organisation des Proletariats.(Beifall.) Wir begrüßen Sie nicht als eine kräftige Schweste» partei, sondern als ein jüngerer, schwacher Bruder, der von Ihnen lernen will, und Ihre Stütze braucht. Wir wollen uns an Sie anlehnen, aus Ihren Erfolgen lernen für die schweren Kämpfe, in die wir für die kommende» Wahlen im Frühjahr zum ersten Male unter dem neuen Wahlrecht eintreten. Unser Zeichen ist die Jnternationalität; der Kapitalis» mus rückt uns zusammen, er schmiedet die Bande, die sich um uns schlingen. Ich schließe mit der Ver- sicherung und Hoffnung, daß unsere Begrüßung Ihnen Freud - gemacht hat, und daß dieser Ihr Parteitag zur Stärkung der Partei, zur Stärkung der internationalen Sozial- demokratie beitragen möge.(Lebhaster Beifall.) Nunmehr wird in die Tagesordnung eingetreten. Die Ver- Handlung über den Punkt„Presse" wird fortgesetzt. F r 0 h m e: Genosse Steiger hat die Redezeit um das fünf- fache überschritten, hat sich aber aus seiner Position eines An- aeklagten nicht herausbringe» können. Er hat eine hübsche Rede über die Bedeutung der Kunst und der Er- ziebung zur Kunst gehalten, es aber weislich unter- lassen, auf die Vorwürfe einzugehen, die wir ihm gemacht haben. Er hat uns vorgeworfen, wir hätten bei der Vorlegung des Materials an den Parteitag seine beiden letzten Artikel nicht mit vorgelegt. Wir habe» das nicht gethan, weil sie noch nicht erschienen waren, als wir das Material zur rechtzeitigen Fertig- stellnng drucken lassen mußten. Mit meinen Begriffen von Ehr- lichkeit in der Kritik verträgt sich ein derartiges Verhallen nicht. (Oho!) Er suchte es so darzustellen, als ob die Mißstimmung gegen die„Neue Welt" eine Mache der Hamburger Redaktion sei. Die Mißstimmung herrscht aber in ganz Deutschland , in den weitesten Kreisen. Auf daS, worauf es ankommt, ist Steiger gestern nicht mit einem Wort eingegangen. In der„Mutter Bertha" wird geschildert, wie Mutter Bertha mit einem Begleiter geht. Sie bleibt plötzlich stehen:„Ach, Herr Fritz,... ich... ach..."„Was, Fräulein?" sagte er, der sie nicht verstand.„Ich möchte mal'... ach, verstehen Sie mich doch!"...„Ach so... pardon!..."„Sie müssen ent- schuldigen... ja, ja... Verzeihen S'e... Bitte, bitte..." Eine blntrothe Verlegenheit durchschoß sein Gesicht. Dann sagte er:„Ist es Ihnen vielleicht recht, wenn wir irgendwo ein- treten?"—„Ja doch, aber blos ein bischen schnell!" (Heiterkeit.)— Und nun bleibt es der freundlichen Leserin überlassen, Mutter Bertha in das intime Gemach zu begleite» und die geheimsten Regungen ihrer Seele zu belauschen.(Große Heiterkeit.) Wenn die naturalistische Kunst glaubt, eS rechtfertigen zu können, derartige absolute, stinkende Schweinereien in Romanen bieten zu dürfen(Beifall und Unruhe), dann hört einfach alles auf. Auf alles das ist Genosse Steiger mit keinem Wort ein- gegangen. Es ist uns garnicht eingefallen, gegen die Freiheit der Kunst, gegen die naturalistische Kunst an sich uns zu wenden. so lange sie sich in den Grenze» des Anstandes hält. Ich weiß ja, es giebt eine Menschensorle, die es schon als ein Verbreche» ansteht, wenn man das Wort Moral und Anstand nur in den Mund nimmt. Es wird mir doch niemand glauben machen. daß eine Kunstrichtung. die sich als eine Erscheinung des Uebergangs- Zeitalters, eines tollen menschlichen Karneval? selbst giebt. die echte, wahre Kunst ge- nannt werden könne. Genosse Steiger hat auch gester» wieder von sozialdemokratischen Traklätchen gesprochen. Alles, was nicht seiner Neigung entspricht, pflegt er einfach als Traklätchen zu bezeichnen, aber die uns Hamburgern gemachten Vorwurfe find nicht begründet. Es ist sehr leicht, ein Phrasenragout an- zurichten, wie es Steiger gethan hat. Darüber darf man sich doch nicht täuschen, daß es leichter ist, hier eine Rede über die Bedeutung der Kunst zu halten, als auf die Streitpunkte einzu- gehen. Wir haben nicht gegen Windmühlen gekämpft, sonder» Auswüchse, die thatsäcklich vorhanden sind, auszurotten versucht. Wenn Steiger von der Erziehung des Volkes zur Kunst spricht, so betritt er ein Gebiet, auf dem er leicht straucheln kann, denn von der Erziehung des Volkes zur Kunst in dem abstrakten Sinne, wie es Steiger meint, kann keine Rede sein. Ohne die feste Grundlage einer materiellen Existenz redet man vergebens von der Erziehung des Voiles zur Kunst. Der Behauptung in dieser Allgemeinheit kann höchstens ein Mensch bei- pflichten, der nicht weiter denkt, als seine Nase reicht. Emporhebung des Volkes! Ja, hat die Sozialdemokratie nicht jeher daran gearbeitet! Entkräftet bat Steiger unsere Angriffe nicht. Was er über die Bedeutung der Kunst sagte, unterschreibe ich Wort für Wort. Aber das ist garnicht der Streitpunkt. Und es ist sehr wenig ehrlich von ihm, daß er es so hinstellt, als seien wir Vandnle», die gegen die Kunst wnthen, während wir nur die Auswüchse des Naturalismus bekämpfen.(Beifall.) Schreck- Bielefeld : Der„Vorwärts" steht an Aktualität weit hinter der„Leipziger Volkszeitung " und der„Sächsischen Arbeiterzeitung" zurück. Was die„Nene Well" betrifft, so ver- misse» wir Arbeiter populäre Unterhaltungslektüre in ihr. Der Ziveck der„Neuen Welt" soll sein, erzieherisch in sittlicher Beziehung zu wirke». Aber Genosse Frohme gebt in seiner Kritik viel zu weit. Wenn er die von ihm verlesene Stelle aus der„Multer Bertha" schon als„stinkende Schweinerei" bezeichnet, dann soll er lieber in ein Kloster gehen. (Große Heiterkeit.) Steiger hat selber zugegeben, daß ihm Fehler bei der Auswahl des Stoffes passirt sind. Hoffentlich läßt er in der„Neuen Welt" nun auch den sittlichen Idealismus zum Wort kommen, der uns in unserem schweren Kampf aufrichtet. Weinheber- Hamburg : Der Antrag des zweiten Ham« burger Kreises über die„Neue Well" ist schon vorher in einer Vertrauensmänner-Versammlung berathen worden. Die„Neue Welt" soll ein Unterhaltungsblatt, ein Familienblatt sein, das auch agitatorisch wirkt. Es darf aber nicht einer ein- seiligen literarischen Richtung dienen. Wir wollen die Frauen gewinnen. Das ist der„Neuen Welt" unter der Redaktion Steigers gewiß nicht gelungen. Dafür sind die 48 000 M., die darauf gelegt werden, denn doch zu schade. Dem Volke muß die Kost gegeben werden, die es verdauen kann. Täglich lausen Be« schwerden über die„Neue Welt" ein. Ein Wandel muß ge» schaffen werden. Und wenn Genosse Steiger Befferung verspricht, dann sind wir Hamburger ja zufrieden. Die Auswahl des Stoffes muß eine gediegenere werden. Dazu sollte unser Antrag die An- regung geben. Wenn Sie die Reduktion des Umsangs der „Neuen Welt" von 12 auf 8 Seiten nicht wollen, so werden wir uns auch damit zufrieden geben. Wir machten den Vorschlag nur, um das Defizit zu vermindern. Der Wunsch, daß der Re- dakteur des Blattes in Hamburg wohnt, beruht auf rein ge- schäftlichen Gründen und enthält keine persönliche Spitze. Steiger: Den gegen mich von dem Genossen Frohme erhobenen Vorwurf der unehrlichen Kampfesweise muß ich ent- schieden zurückweisen, denn ich bin nicht aus eigenem Antriebe hierher gekommen, um für meine Ideen Propaganda zu machen, sondern aus ausdrückliche Ansforderung des Partei-Ansschuffes. Ich stimme dem Genossen Frohme darin bei, daß die Erziehung des Volkes zur Kunst ohne die Grundlage einer materielle» Existenz ein Unding sei und daß unsere heutigen ökonomischen Verhältnisse nicht besonders dazu geeignet sind; aber ich will es trotzdem versuchen, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Bedenken Sie doch, daß gerade die größte» Kunstepochen die Zeiten sind, wo eine alle Welt zu gründe geht! Wenn Frohme an der von ihm ver- lesenen Stelle aus„Mutter Bertha" Anstoß nimmt, so hat er keinen Sinn für Komik. Die Komik liegt eben darin. daß der Mensch in dem Augenblick, wo er in den schönsten Gefühlen schwelgt, plötzlich durch die einfachsten natürlichen Bedürfnisse aus allen Himmeln gerissen werden kann. Daß ich mich in dem Inhalt manchmal vergriffen habe, gebe ich zu, und was an mir liegt, den Inhalt der„Neuen Welt" zu verbessern, werde ich thun; unterstützen Sie mich in diesem Streben, so gut Sie können! Molkenbuhr: Da Steiger in seiner Broschüre nur seine eigenen Artikel veröffentlicht und dadurch ein schiefes Bild gegeben hat, so war es nöthig, die verschiedenen Artikel gegen- überzustellen. Steiger wird es mir glauben, daß die Abdrücke unserer Broschüre bereits unterwegs waren, als sein vierter Aufsatz in der„Leipziger Volkszeitung " erschien, und daß er überhaupt einen derartigen Verdacht erhob, ist schon?in Beweis für die eigenthümlichen Mittel, mit denen er kämpft. In dem Artikel„Die Erziehung des Volkes zur Kunst" behauptet Steiger, daß die Kunst im sozialdemokratischen Lager ganz falsch behandelt ist, daß das arbeitende Volk bisher keine Gelegenheit hatte, sich mit der Kunst zu be- schäftige». Wenn Steiger so etwas behauptet, so zeigt er nur. daß er nicht weiß, wie es im arbeitenden Volke aussteht. Wo sind denn die großen billigen Klassikerauflagen geblieben, wer be- sucht die Gallerien in großen Städten, wer stellt das Haupt- konlingent zu den billigen Theatervorstellungen? Doch Leute aus der Arbeiterklasse, die sich schon vorher mit der Kunst be» schäftigt haben. Es ist eine Ueberhebung, wenn Steiger meint, daß bis zur Uebernahme der Redaktion durch ihn nichts ge- schehen ist. Die„Neue Welt" hat doch vorher schon annähernd 20 Jahre bestanden, und auch in ver- schiedenen Feuilletons unserer Parteiblätter sind schon vorher bedeutende Erzeugnisse unserer modernen Literatur veröffentlicht worden; ich weise nur auf Zola's Germinal hin, der dadurch in weiten Kreisen des Volkes bekannt wurde. Das alles übersieht Steiger , und dabei weiß er ganz genau, daß er für den Theil der Kunst, den er pflegen will, nur ein ganz geringes Publikum hat. Die Abonnentenzunahme ist doch kein Beweis, denn man kann die„Neue Welt" nicht abbestellen, ohne gleichzeitig sein Parteiorgan abzubestellen. Darin liegt ja gerade das eigen- thllmliche, daß für 200 000 Menschen ein Blatt heraus- gegeben wird, von dem der Redakteur weiß, daß für seinen Inhalt nur eine ganz geringe Jüngerschaar vorhanden ift. Und deshalb ist es Um so gewissenloser, daß Steiger trotzdem Woche für Woche einen Stoff bringt, für den sich die Mehrheit der Leser nicht interessirt. So massenhafte Klagen sind noch über keine Zeitschrift erhoben worden. sq Genosse Steiger preist die moderne Kunst. Meint er damit etwa den„Neuen Gott" von Hans Land ? Einen unglücklicheren Griff konnte er garnicht machen. Steiger preist die Schilderung der Modernen, er vergißt aber, daß die Stimmung den Leser oft daran hindert, das Kunstwerk wirklich zu genießen. Die Schilderung der Leiden eines Krüppels mag für einen Gesunden ein Kunstgenuß sein, nicht aber für den Krüppel, der dadurch noch mehr an seine Leiden erinnert wird. Der Arbeiter, der mit Noth zu kämpfen hat, der in Zeiten der Arbeitslosigkeit schon zu einer gewissen Miß- stimmung geneigt ist, kommt nicht zum Genuß der Kunst, wenn die Roth in den allerkraffesten Farben geschildert wird, im Gegen- theil, eS wird dadurch eine Art Selbstmordstimmung bei ihm hervorgerufen.(Sehr richtig!) Ich will offen anerkennen, daß Steiger in der Auswahl der Illustrationen einen glücklichere» Griff gethan hat, als seine Vor- gänger, aber es macht einen eigenthümlichen Eindruck, wenn ein Nachfolger sich soweit über seine Vorgänger überhebt. Wir sind nicht aus Animosität gegen Steiger aufgetreten, sondern weil wir es für unberechtigt hallen, daß man nur eine bestimmte Richtung pflegen will. Das ist ungeschickt und ruft Opposition hervor. Auch in Nürnberg sind, wie Grillenberger neulich unter der Hand mitgetheilt hat, 9/io der Leser mit dem Inhalt der „Neuen Welt" nicht einverstanden. Das weiß Steiger genau, und deshalb ist es um so verwerflicher, so zu handeln. Die „Neue Welt" muß so gestaltet werden, daß das arbeitende Volk davon Nutzen hat. Auch in der Auswahl der popular-wissen» schaftlichen Artikel könnte Steiger vorsichtiger sein und belehrender wirken, damit die„Neue Welt" ihren Zweck erfüllt. Er hat einige arge Schmarren gebracht. Für literarische Experimente ist das arbeitende Volk am allerwenigsten zu haben.(Lebhafter Beifall.) Echoen lank: Genosse Molkenbuhr hat soeben dem Ge- noffen Steiger— sicherlich nicht in böser Absicht, sondern nur, weil er den Ausführungen Steiger's nicht volle Aufmerksamkeit geschenkt hat— unterstellt, er hätte behauptet, erst mit seinem Eintritt in die Redaktion der„Neuen Welt", habe die Erziehung des Volkes zur Kunst begonnen. Das hat Steiger nicht gesagt. Er hat nur betont, und das müssen wir ohne weiteres alle zu- geben, daß die Kunst in unserer Presse stiefmütterlich behandelt wird. Wenn Molkeubuhr behauptete, daß die Schilderung des Elends auf die Arbeiter niederdrückend wirke, so ist das doch im Grunde dieselbe Auffassung, wie sie die Spießbürger von der Kunst haben; er verlangt sozialdemokratische Marliltiaden, das arbeitende Volk aber verlangt Wahrheil und nichts als die Wahrheit. Wenn Molkenbuhr recht hat, dann hätte auch Goethe die Leiden
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