IMS-TlMU.
Sozial-Politisches Wochenblatt.
Aus der Woche— Soziale» au» Australien.— Da» Gemetzel von Fourmte» und seine Konsequenzen.— Kornzölle in Deutschland nach Geschichte«nd Statistik. II. — Uerschiedene». Gedichte.— Novelle.— Warum geht Rntzland auf Grokernngen an»? IV.— Die soziale Revolntion in London . I.— Die Zunahme der städtischen Bevölkerung. Uon den segensreichen Wirkungen de« Kapitalismus . Literarische».
Aus der Woche. — se— Aus Ulm wird ein ganzes Vierteldutzend Soldatengeschichten auf einmal gemeldet. Eine Patrouille schoß Nachts um 10 Uhr in einer engen und Verkehrs reichen Gasse aus zwei Soldaten, welche wegen Exzesses zur Wache gebracht werden sollten, aber ausrissen. Es ist nur dem Zufall zu verdanken, daß Niemand verletzt wurde. In derselben Stadt hantirte ein Osfiziersbursche in der Wohnung seines Herrn am Fenster mit dessen Revolver. Plötzlich ging ein Schuß los, und eine auf der Straße vorübergehende Magd sank schwergetroffen zu Boden. Dritter Fall. Auf dem Schießplatz zu Neu- Ulm erschoß sich ein Soldat. Er hatte mit den fünf scharfen Patronen nicht die genügende Zahl Treffer ge- macht und erhielt deshalb einige Tage Arrest. Zugleich gab man ihm eine sechste Patrone zu einem weiteren Schuß auf die Scheibe. Er trat zur Seite und schoß sich die Kugel in's Herz. — Die Papierfabrik Varzin , an der Fürst Bismarck als Hauptaktionär betheiligt ist, vertheilt 14 Prozent Dividende. Bei einem Aktienkapital von einer Million wurden 413,021 Mark Bruttogewinn erzielt. Dies Re- sultat mag den großen„Sparer" im Sachsenwalde baß erfreuen, vielleicht mehr als der mit Hilfe deutschfreisinniger Mannesseelen eroberte Reichstagssessel. Und da soll die alte Raketenkiste nicht für seine Mitbrüder, die bedrängten und bedrückten Großkapitalisten in die Schranken treten und ihre Interessen verfechten wie eine pommersche Wild- sau ihre Jungen, besonders wenn noch vier Zentner schwere silberne Tafelservice als Trinkgeld abfallen? Recht hat der einzige große deutsche Idealist und Säkularmensch. Es lebe das Geschäft und die Schlauheit! Eine Frage wagen wir uns— natürlich in tiefster Demuth— zu erlauben: Macht Bismarck auch noch unterm„neuen Ktrrs" als Papierlieferant und Telegraphenstangenbesitzer Geschäfte mit dem deutschen Staate? — Die Erfurter Stadtverordneten haben 500 Mk. bewilligt, damit ihr Polizei Inspektor Metzler das Reiten lerne. Einer der Stadtväter ließ die Meinung laut werden, es sei vielleicht angezeigt, Vorsorge zu treffen, damit das sichtbare Haupt der Stadtschutzengelschaar bei den Reitübungen nicht Schaden nehme. Der Beschluß der Erfurter wird in anderen Orten Nachahmung finden. Wie wir vernehmen, wollen die Herren von Buxtehude ihren Polizisten das Fagottblasen beibringen lassen. Die von Schöppenstedt halten es wieder mit dem Walzertanzen. In ganz Sachsen kommt der a, capella Gesang zu Ehren. Und das ist recht und gut. Wo die Polizisten singen, laß dich ruhig nieder, singende Schutzleute konfisziren keine Lieder, selbst wenn diese politisch sind. — Unsere Zeit ist brutal und jedes höheren Auf- schwunges unfähig geworden: selbst Königinnen kommen schon auf den Schub. Diese Gutthat wurde am 18. Mai der Königin Natalie von ihren ehemaligen serbischen Unterthanen zugefügt. Die Regierung warf sie einfach aus dem Lande. Die Belgrader Polizei scheint aber in Handschuhen zu amtiren. Sie griff bei der Ausweisung das erste Mal so sachte zu. daß es einigen jungen Studentlein und anderen warmblütigen Jungmännern— Madame Kerschko ist noch immer eine schöne Frau— gelang die Ausgewiesene in ihre Wohnung zurück zu bringen. Bei dem Rummel wurden ein Dutzend Personen getödtet und viele verwundet. Geht's nicht bei Tag, so geht's bei Nacht, dachte die Negierung und versuchte die
Ausweisung in der grauenden Frühe des nächsten Tages zum zweiten Male. Diesmal gelang's. Die Polizisten stiegen durch die Fenster in den Königinnenpalast, die Landesmutter wurde aus den Federn geholt und zum Königreiche hinausspedirt. Derweil aber saß der junge serbische König in seinem Lustschloß und weinte. Die Weltgeschichte ist manchmal sehr ironisch aufgelegt; dann geht aber auch das schönste monarchische Prinzip aus dem Leim — Der achtundsiebzigjährige französische Admiral de Kergrist hat sich zu erschießen versucht, weil ihm ein Anderer mit einer Anzeige drohte. Der edle Vaterlands- vertheidiger hatte sich von einem Vater dessen dreizehnjährige Tochter zuführen lassen, natürlich nicht, um mit ihr in der Bibel zu lesen. Der Vater beanspruchte für seine Kupplerdienste große Summen. Da hörte für den alten Sünder die Gemüthlichkeit auf und er griff zum Knallinstrument. Das beweist natürlich nichts. Unsere„Gesellschaft" bleibt, was sie ist, eine Sammlung schlohweißer Engelein.— — X Folgenden ergötzlichen Artikel bringt das ultra montane„Bayerische Vaterland": „Die Bergleute im Saargebiet haben alle Verbindungen mit dem Kaplan und Reichstagsabgeordneten Dasbach, dem Meister und Vorbild des Passauer Propheten Pichler, abge- brochen, alle katholischen Vereine der Bergleute sind zur Sozialdemokratie übergegangen, das Saargebiet, noch vor Kurzem die zuverlässigste Gefolgschaft der katholischen Geistlich- keit, ist für das Centrum verloren, Kaplan Dasbach verkündet dies in seinen Blättern und begeht noch die Thorheit und Jgnoblesse, den Arbeitern eine— Rechnung über 600 Mark Bereinsanzeigen zu senden, die er immer umsonst aufgenommen hatte. Man hat da wieder ein Borbild dessen, was in der Regel die Geschichte und das Schicksal der katholischen Vereine, besonders der katholischen Arbeitervereine ist. So lang es den Mitgliedern wirthschaftlich noch leidlich gut geht, so lang sie noch
Fortkommen, für'8 Geschäft ec.) bleiben sie„katholisch", d. h. im „katholischen" Berein uno„zeigen sich den Priestern"; geht's ihnen aber wirthschaftlich krumm, hoffen und können sie nichts mehr hoffen, d. h. erfüllen sich die schönen Versprechungen nicht und läßt sich nichts von„goldenen Bergen" blicken, sieht man sich getäuscht und angelogen, dann wird man unzufrieden, lässig, rebellisch, und das Ende vom Lied ist regelmäßig, daß das
.katholische Lager" sich leert und das sozialdemokratische sich füllt, d. h. daß das unzufriedene Volk, das durch die Bereine und Bereinsredereien einmal Geschmack an öffentlichen Dingen, Bereinen und Politik gefunden, ins sozialdemokratische Lager überläuft. So sind namentlich die katholischen Arbeitervereine, welche nie halten können, was darin versprochen wird, in denen nian aber die Mitglieder an Beschäftigung mit sozialen Fragen gewöhnt hat, ohne sie festhalten zu können, in der Regel eine Vorschule der Sozialdemokratie. Der Kaplan oder was er sonst ist, der in seinem Unverstand und Uebereifer die Schweinerei angerichtet, läßt sich dann„versetzen", aber die Schiveinerei bleibt und die Poschinger u. s. w., die bisher zuftiedene,
künstlich, bezw. geistlich gezüchteten neuen Sozialdemokraten aus- kommen köunenl" Schlimm, sehr schlimm! Aber diese Arbeiter sind doch auch wirlich zu schlechte Menschen! — Tie Japanesen haben uns eingeholt. Wie Telegramme aus Tokio , der Hauptstadt Japans melden, hat die sozialistische Bewegung auch von Japan Besitz ergriffen. In zahlreichen Orten Japans soll der 1. Mai als Arbeiterfeiertag, zum großen Schrecken der Regierung, festlich begangen worden sein. — Einführung von chinesischen Arbeitern. Die „Mecklenb. Nachrichten" enthalten nachstehendes Inserat: „Diejenigen Herren, welcbe zum Frühjahr 1892 gewillt sind, chinesische Arbeiter(Kulis) zu engagiren, werden gebeten, ihren Bedarf, d. h. Anzahl der männlichen Ar- beiter, bei mir anzumelden. Die Kosten beim zehnjährigen Kontrakt betragen pro Kopf 200 M. Alt-Poorstorf bei Kirch-Mulsow. Knaudt." Dieses neueste Verbrechen dieser Herren wird unübersehbare Folgen haben. Bis jetzt haben die Ehinesen immer dazu gedient, das Kultnrnivean des Volkes zu erniedrigen, wo sie eingeführt wurden, und wo die eingeborenen Arbeiter nicht im Stande waren, ihnen gleich zu thun im Arbeiten und Entbehren, wurden sie einfach vertrieben. Das ist ja
das Ideal: die Deutschen heraus aus ihrem Vaterlande und an ihrer Stelle Chinesen! Aber dazu ist es denn doch wohl zu spät. So weit sind die deutschen Land- arbeite? denn doch wohl schon, daß sie da die richtige Antwort geben werden: Sie werden Sozialdemokraten. — Eine Zündholzfabrik als soziale Rettung. „General" Booth hat nun in Old Ford(London ) die von ihm gegründete Streichholzfabrik, welche einen Theil seines sozialen Rettungsplanes bildet, eröffnet. Er will den Arbeiterinnen, welche er in dieser Fabrik beschäftigt, 4 Pence für das Gros zahlen, während die Leute in anderen Londoner Fabriken nur 2V«— 2Va Pence erhalten. Schnelle Arbeiterinnen können auf diese Weise 15 Shill. die Woche verdienen, während der Lohn in den übrigen Streichholzfabriken der Hauptstadt sich gegen- wärtig auf etwa 9 Shill. 6 Pence stellt. Der Preis des Fabrikats soll jedoch nicht höher sein, als der übliche. — Wenn die soziale Frage jetzt nicht gelöst wird!— — Eine Buchhändler-Anzeige, deren Inhalt wohl keines Kommentars bedarf, erschien dieser Tage in Berlin : „Hurrah, dem sechsten Prinzen!" muss statt"WG „Hurrah, der sechste Junge!" bei öffentlichem Vortrag dieses effectvollen Liedes in der Provinz Hannover gesungen werden, weil dort laut Verbot der zuständigen Behörde die Bezeichnung„Junge" für den jüngsten„kaiserlichen Prinzen" als nicht statthaft erachtet worden ist. Im übrigen Deutschland ist ein solches Verbot nicht erlassen. Dieses schwungvolle Marschlied mit reizendem Text und Chor-Refrain: „Hurrah, der sechste Junge" von Ludolf Waldmann , Op. 85 mit ebenso prachtvollem als originellem Titelblatt, ist soeben in 8. Auflage erschienen. — Eine wunderbare Gesetzesauslegung hat wieder einmal das Reichsgericht verübt. Nach der„National- zeitung" hat dasselbe die Revision gegen ein Urtheil zu- rückgewiesen, in welchem der Korrektor einer Zeitung neben dem Redakteur wegen Beihilfe bei einer Beleidigung verurtheilt worden war. Der Korrektor hätte beim Lesen der Korrektur den Artikel kennen gelernt, den ehrenkrän- kenden Inhalt erkannt und dennoch seine Dienste als Korrektor geleistet. Er habe in bewußter Weise zur Her- stellung der Druckschrift strafbaren Inhalts mitgewirkt.— Natürlich liegt nunmehr kein Grund vor, weshalb man da nicht auch Setzer, Drucker u. s. f. mit verantwortlich machen soll. Diese Konsequenz hat denn auch bereits der Staatsanwalt in Neustrelitz gezogen. So wird es mit dir gemacht, gutmüthiger deutscher Philister. Du hast zwar dein Preßgesetz, das wahr- haftig nicht liberal ist; aber wenn die Gewaltigen im Lande wollen, so... giebt es auch noch andere Gesetze, die si: benützen können. — Von der Zentrumsleuchte Bachem sind schöne Geschichten an den Tag gekommen, welche für diese Herren des Eigenthums, der Familie und der Religion höchst charakteristisch sind. Herr Bachem, natürlich mit Weib und Kind gesegnet, wird durch diese Erzählung mit einer Hure in verdächtige Beziehungen gebracht. Schon sehr bedenklich, allein auch der Beste strauchelt ja ein- mal; und wenn Herr Bachem die Sache gebeichtet hat und sich hat absolviren lassen, so wollen wir über diesen „Ehebruch " das bekannte Mäntelchen ziehen. Ein Ber- brechen dagegen, freilich leider keins, das mit Zuchthaus bestraft wird, ist eine andere Handlung unseres biederen Ordnungs- und Sittlichkeitsmannes. Unter einem falschen Namen und unter der Vorspiegelung, er sei unverhei- rathet, hat er ein unschuldiges 18jähriges Mädchen ver- ührt, und als das Mädchen erfährt, daß sie betrogen ist, sagt er zu ihr:„Ja, wir haben gefehlt, komm, laß uns kommuniziren gehen." Dann gebar die Unglückliche ein Kind, und erhielt von— der Ehefrau des Bachem ein Schweigegeld in der Höhe von— 100 Mk. ausgezahlt! Das ist die Sittlichkeit des Mannes der Sittlichkeit!