naiv; das mag eine Unterscheidung sein, welche für die Geschichtsbetrachtung auf höheren Lehranstalten Werth hat, wo man etwa über die Frivolität des französischen  Angriffs von 1870 donnern kann, aber bei ernsthaften Angelegenheiten sollte man sich doch erinnern, daß das ein rein formaler und zufälliger Unterschied ist. Das Pathos gegen das offiziöse Frankreich   scheint uns auch wenig angebracht, wenn man bedenkt, daß die drohende franco-russische Allianz doch nur die nothwendige Folge der Annexion von Elsaß-Lothringen   ist. Aufgabe wäre es aber gewesen, unsere Solidarität mit dem nichtosfiziösen Frankreich   zu betonen. Wie wir in dem ArtikelDer Dreibund und das Proletariat" schon behauptet haben, würden dahingehende Aeußerungen der Sozialdemokratie eine starke Pression auf die Regierung ausüben und eventuell eine politische Annäherung an Frankreich   er- leichtern. Wir müssen aber Frankreich   als Bundes- genossen haben, wenn wir nicht wollen, daß im nächsten Krieg Rußland uns besiegt und dann mit leichter Mühe jede Regung des Proletariats unterdrückt. Redet man natürlich:Wir treten für den Dreibund ein, und sind im Fall eines Angriffskrieges nicht die letzten," so wird man freilich nur den Erfolg erzielen, daß die alte Bis- marckische äußere Politik fortgesetzt wird. Genau dasselbe Urtheil gilt von den Acußerungen über die innere Politik. Wer seine fünf gesunden Sinne hat, der kann unmöglich etwas von einemneuen Kurs" merken. Daß die Aushebung des Sozialistengesetzes irgend etwas zu bedeuten habe, kann kein Mensch be- hauplen. Der einzige Unterschied zwischen jetzt und der letzten Zeit des Sozialistengesetzes ist der, daß einige Leute wieder ihren Wohnsitz aufschlagen können, wo sie wollen, und daß gewisse Bücher, die früher heimlich ver- kaust wurden, jetzt öffentlich verkauft werden. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes hat bloß eine formale Bedeutung; wie es in der letzten Zeit gehandhabt wurde, hatte es nicht mehr Bedeutung für uns, wie die gegenwärtige Handhabung des sogenannten gemeinen Rechts. Auf den Leim zu kriechen, diese Auf- Hebung für eine besondere Liebesgabe zu halten, die uns zu Gegendiensten verpflichtet, das ist denn doch zu optimistisch. Daß die Gefahr vor Flinte und Säbel verschwunden sei, das Angesichts der Unteroffizierrede Caprivis zu be- haupten! Die internationa l Arbeiterschutzkonferenz als, wenn auch kleines, Zugeständniß zu betrachten, dieses Hornberger Schießen, von dem Bismarck   erzählt hat, er habe es selbst zu Stande gebracht, um den Kaiser von der Unmöglichkeit solcher Experimente zu überzeugen! Reiche und mannigfache Kräfte emporkommen zu sehen, wo nichts zu finden ist, als der Marasmus senilis einer durch und durch verfaulten Gesellschaft! Unsere Macht in der öffentlichen Meinung reifen zu sehen, wo doch nichts zu bemerken ist, als streberischer Bismarckischer Scheinsozialismus! Den Ansatz zu einem guten Willen zu finden etwa in dem§ 153, in den Unteroffizier­prämien, oder wo sonst? Und dann diese drei wichtigsten Ziele, vor allemdie Arbeiterverbünde zu einer den Unternehmerverbänden gleichwerthigen Macht zu erheben", wo doch der ökonomische Prozeß der Kapitalkonzentration und Kartellirung der Industrie die Unternehmerverbände immer stärker und unwiderstehlicher macht, während ab- solut gar keine Möglichkeit vorhanden ist, daß die Hemm- nisse, welche die Stärkung der Arbeitervereinigungen hindern, bei Seite geschafft werden, wo man sogar den revidirten§ 153 verlangt, der die Arbeiter vollständig wehrlos gemacht hätte! Gewiß, wir müssen über der Zukunft das Nächste nicht vergessen. Aber wir sollen uns doch auch nicht Illusionen über diesesNächste" hingeben und die Taube auf dem Dach lassen wegen der Sperlinge nicht in der Hand, nein auch auf dem Dach. Was Bollmar als Nächstes" bezeichnet, das ist noch viel schwerer zu er- reichen, als dieZukunft". Der Zusammenbruch der Gesellschaft, der nahe genug ist, und zu dem er unserer Hilfe gar nicht bedarf, wird uns dieZukunft" in den Schooß werfen, aber dasNächste" erreichen wir kennen doch unsere Pappenheimer! Wir haben sie doch genug beobachtet, wenn sie versuchten, uns mit solchem Nächsten" zu ködern: sie sind viel zu geizig, auch nur einen ordentlichen Köder zu nehmen. Wie vorauszusehen, hat die Rede einen großen Ein- druck gemacht. Daß das keine bloße private Aeußerung war, geht aus dem ganzen Ton hervor; und das nach­herige Benehmen Vollmars zeigt auch, daß er sie als Programmrede aufgefaßt wissen will. Die ganz Dummen und das sind sehr viele ge- Wesen von den gegnerischen Blättern meinten: Voll mar ist blos ein Wolf im Schafspelz und hat nur des- halb so konziliant gesprochen, damit er die Bauern bei der Landagitation besser fassen kann. Andere waren gleich mit den Spaltungshoffnungen bei der Hand und sahen im Geist schon eine nationale Sozialdemokratie mit Gott für König und Vaterland entstehen, wofür sie Herrn v. Vollmar natürlich sehr lobten. Am eigenthümlichsten benahm sich die französische  Bourgeoispresse. Man sollte meinen, sie müßte für die Richtung Bebel-Liebknecht Sympathie haben, da diese immer die Annexion von Elsaß-Lothringen   mißbilligt hat, und müßten auf Vollmar sehr böse sein, der even- tuell gegen Frankreich   mit rasselndem Säbel zu Felde ziehen würde. Allein ganz im Gegentheil. Auch sie ist von der Vollmar'schen Rede sehr erbaut. Am besten drückt diese Stimmung derTemps" aus. Bürgerlicher Instinkt! Wunderbarer Weise erfolgte von keiner Seite eine Reaktion auf die Vollmar'sche Rede. Nur eine Ber  - liner Schuhmacherversammlung nahm Stellung dazu, in- dem sie in einer Resolution erklärte, ein Mann der solche Aeußerungen mache, könne nach ihrer Ansicht das Proletariat nicht vertreten. Natürlich war die Versammlung nichtkompetent". DerJnstanzenzug" ist ja anders. Allein erstens waren die Besucher der Versammlung, obwohl nur Gewerk- schaftsversammlung, doch Sozialdemokraten; und zweitens wird man bei aller bureaukratischen Hochachtung von Kompetenz und Instanz, doch keiner Versammlung von Arbeitern das Recht absprechen können, in Form einer Resolution ihre Meinung darüber abzugeben, ob sie ge- wisse Ansichten für unsozialistisch halten und ob sie einen Mann für einen geeigneten Vertreter des Pro- letariats erachten. Die Volksversammlungen gegen die Kornzölle sind auch nichtkompetent". Nach unserer Meinung ist es sogar die Pflicht der Mitglieder einer demokratischen Partei, ihre Ansichten zu äußern. DerVorwärts" erklärte, daß er die Resolution für übereilt halte, und trotzdem er denOptimismus und Opportunismus" Vollmar's gelinde tadelte, brachte er doch den Kompetenzgrund vor. Außerdem brachten dasHamburger Echo" und die Sächsische Arbeiterzeitung" Artikel, welche das Vorgehen der Berliner   Genossen in sehr wenig geeigneter Sprache tadelten, und Herr von Vollmar fühlte sich bemüßigt, zu erklären, was dieBerliner Radaubrüder" sagten, das sei ihm ganz egal. Wie aus Vollmars Antwort auf die Aeußerung Liebknechts über ihn hervorgeht, scheint er sehr zartfühlend zu sein, in Bezug auf Bezeichnungen, die gegen ihn ge- braucht werden. Wir möchten ihn deshalb doch bitten, diese Feinfühligkeit auch umgekehrt bei Bezeichnungen, die er gebraucht, zu zeigen. Wenn die Berliner   Genossen seine Ansichten für unsozialistisch erklären und ihn für ungeeignet halten, die Arbeiter zu vertreten, so geht das bloß gegen seine Ansichten, und eine derartige Antwort war nicht nur ihr Recht, sondern ihre Pflicht. Das Recht des Herrn v. Vollmar war es, diese Ansicht der Berliner  Genossen durch beigebrachte Gründe zu widerlegen. Aber mit Schimpfen zu antworten halten wir durchaus nicht für angebracht. Auf Anfragen auswärtiger Genossen hin, sah sich zuletzt der Parteivorstand veranlaßt, imVorwärts" zu erklären, daß die Aeußerungen Bollmars nur private Bedeutung hätten und nicht die Ansichten der Partei wiedergäben. Wir hätten gewünscht, daß der Parteivorstand schon früher Stellung genommen hätte, und außerdem halten wir auch eine Anschauung von derprivaten Aeußerung" nicht für richtig. In nebenjächlichen Dingen kann jeder Sozialdemokrat natürlich sagen, was er will. Aber in derartigen wichtigen Fragen giebt es keine Privatmeinung, sondern nur eine Parteimeinung. Weicht die Privatmeinung von der Parteimeinung ab so hält man sie eben zurück; äußert man sie aber, äußert man sie noch dazu in einer derartigen Programmrede, so muß man sich nach unserem Prinzip gefallen lassen: entweder zum Zurückhalten seiner privaten Gefühle aufgefordert zu werden, oder sich aus der Partei ausschließen zu lassen. Daß die behandelten Fragen so wichtig sind, giebt aber sogar Bebel in seinem Brief an Vollmar zu: Deine Rede hat namentlich im Auslände viel Stand auf- gewirbelt, so das; wir zu einer Erklärung genöthigt waren, die der heutigeVorwärts" enthielt. Räch meiner Meinung ver- trittst Du einen ganz unhaltbaren Standpunkt in der inneren und äußeren Politik Deutschlands  . Im Inneren kämen wir zu der kläglichsten Reformwirthschaft und in der äußeren Politik zur Beivilllgung aller geforderten mili- türischen Lasten und Ausgaben. Doch darüber gelegentlich mündlich." Liebknecht drückte sich in seinem Urtheil milder aus: er sagte nur, Vollmar habe eine Dummheit gemacht. Von seinen Wählern erhielt Vollmar ein Vertrauens- votum, aber mit der Einschränkung, daß sie hofften, er werde von den Anschauungen seines Pronunziamento zurückkommen. Vollmar kam aber nicht zurück, sondern in einer Rede am 6. Juli hat er seinen Standpunkt noch einmal sirt und ungetheilten Beifall geerntet. Wir sind ja freilich nichtkompetent" üöcr die Münchener Genossen zu Gericht zu sitzen. Allein da sie ja auch die Berliner   Genossen in ihrer Weise beurtheilt haben, so werden sie uns vielleicht erlauben, auch über 'ie ein Urtheil zu fällen: heute verwerfen sie eine An- 'chauung, und nachdem sie ihnen noch einmal vorgeredet ist, klatschen sie ihr Beifall wer denkt da nicht an ein gewisses unangenehmes Wort, daß im vorigen Jahre um diese Zeit aufkam wir wollen nicht mehr sagen, die Münchener Genossen werden ja wohl wissen, was wir meinen. In dieser zweiten Rede behauptet Herr v. Bollmar unter Anderem, daß seine gegenwärtige Politik nur eine konsequente Weiterbildung der bisherigen Fraktionspolitik sei. Wir müssen ihm anheimstellen, ob das richtig ist, wir halten uns nicht fürkompetent", hier ein Urtheil abzugeben. Außerdem bringt er die gewöhnliche Redens- art vor, wenn man nicht seine Politik triebe, so bliebe nichts weiter übrig, als nach anarchistischer Taktik mit Dynamitbomben vorzugehen. Herr v. Vollmar wird uns erlauben, daß wir ihn auf den logischen Fehler aufmerk- kam machen, den er begeht: er verwechselt den konträren und kontradiktorischen Gegensatz. Eine Sache braucht nicht schwarz oder weiß zu sein, sie kann auch pouceau und gelb sein. Und man braucht nicht Anarchist zu sein, wenn man sich gegen eine spießbürgerliche Reformpolitik sträubt. In einer Berliner   Versammlung vom 4. Juli, von der sich leider kein genügender Bericht imVorwärts" findet, kam es zu einer mündlichen Aeußerung Bebel's, daß Vollmar sich vor dem Parteilage werde zu verant- Worten haben. Vollmar bleibt indessen bei seinen Worten, und es wird sich nun wohl doch die Nothwendigkeit herausstellen, über seinen eventuellen Ausschluß aus der Partei zu diskutiren. Alter oder neuer Kurs? E. S. Obgleich es für die Sozialdemokratie und die politischen wie die materiellen Interessen der arbeiten- den Klassen einerlei ist, welche wie immer benamste bürgerlich- oder feudal-kapitalistische Partei das Steuerruder des Staates führt, so sind dennoch seit dem Personen- Wechsel in den obersten Reichsämtern da und dort unter dem Volke Hoffnungen erweckt worden, als wäre eine konstitutionell- oder bureaukratisch-kapitalistische Regierung jemals im Stande oder Willens, die Bedürfnisse der ar- bellenden Volksmassen zu erfüllen und ihre Ansprüche an politische und wirthschaftliche Gleichberechtigung zu fördern. Einem derartigen Optimismus kann man, sobald er in die Reihe des klassenbewußten Proletariats ein- zudringen beginnt, nicht scharf genug entgegentreten, da er geeignet wäre, die heilloseste Verwirrung in den An- schauungen der arbeitenden Klassen hervorzurufen und obendrein die Erfahrungen der Geschichte aus den Kopf stellen würde. Weder die Art der Staatsfvrm, ob Mon- archie oder Republik  , noch die Regierungsmaximen dieser oder jener Bourgeoispartei haben bisher auf die Lage deS arbeitenden Volkes einen unterschiedlichen Einfluß ausgeübt. Die Ausbeutung und politische Zurücksetzung der kapitallosen Staatsbürger wird nicht minder virtuos in der Republik  , als unter einer Monarchie, nicht weniger kräftig unter einem freisinnigen, als unter einem kon- servativen Regiment betrieben. Diese Erkenntniß stützt sich nicht nur auf die überall sichtbaren Thatsachen, sondern sie ist auch die nothwendige Folge jeglicher historischen Betrachtung über big innerhalb einer Nation vorhandenen wirthschasrlichen und sozialen Gegensätze. Solange die letzteren nicht durch Beseitigung des gegen- wärtigen wirthschaftlichen Fundanrents ausgeglichen sind, solange ist für die arbeitenden Klassen keine Hoffnung vorhanden, daß ihnen Gerechtigkeit zu Theil werde. Kann mithin unter einer kapitalistischen   Regierung irgend welcher Spielart von einem neueck Kurs, einer neuen Aera zu Nutz und Frommen des Proletariats je die Rede sein? Wir antworten mit einem entschiedenen Nein!" ES wäre ein Widerspruch in sich selbst, das Gegentheil hiervon anzunehmen: schlechterdings aber wäre diese Annahme mit den in der Sozialdemokratie vorherrschenden Prinzipien und Anschauungen unvereinbar. Die Regierung des bürgerlichen Klassenstaarcs vermag wohl allgemein gehaltene Versprechungen abzugeben, so lange sie noch die Erwartung hegt, die Arbeiterklassen damit zu kaptiviren; nimmermehr jedoch wird es ihr in den Sinn kommen, den Bestrebungen des Proletariats ivesentlich Vorschub zu leisten, weil sie alsdann ihre eigene Existenz sowie diejenige ihrer Klasse untergraben würde. Dem Proletariat unter einer kapitalistischen   Re- gierung von einemneuen" Kurs etwas vorzureden heißt deshalb nichts anderes: als dasselbe einzuschläfern, dasselbe über die Schwierigkeit seines Daseins hinweg zutäuschen, es von den erstrebenswerrhen Zielen ab zulenken und zur Harmonieduselei zu verleiten. Für die Sozialdemokratie wird darum erst dann einneuer" Kurs anbrechen können, nachdem sie sich die politische Macht errungen haben wird. Anders allerdings für die einzelnen Spezies der bürgerlichen Parteien. Hier macht es wohl einen erheb- lichen Unterschied, ob in konservativem oder liberalem Fahrwasser regiert; ob der Grundbesitz oder daS mobile Kapital durch die Gesetzgebung bevorzugt wird, ob endlich die Anhänger dieser oder jener Partei ihren festen Platz an den staatlichen Futterkrippen erhalten. Hier ist einneuer" Kurs nicht nur möglich, sondern er bringt auch die mannigfaltigsten Ver änderungen auf politischem und wirthschaftlichem Gebiet hervor, zum Vortheil dieser oder jener besonderen Kap: listcnklasse. Exemplifiziren ivir jetzt aus deutsche Verhältnisse und stellen wir die weitere Frage, ob vielleicht seit dem letzten Personenwechsel einneuer" Kurs in bürgerlich- politischem Sinne Platz gegriffen habe, so müssen wir auch in diesem Falle mitNein" antworten. Fürst Bismarck   verschwand nicht, weil seine Regierungsmaß regeln nicht gefielen, sondern deshalb, weil seine Haus meieret das Ansehen der Krone verdunkelte. Der neue Reichskanzler, Herr von Caprivi  , hat von Anfang an nicht die Ausgabe gehabt, in neue Bahnen einzulenken; seine Regierung ist eine Fortsetzung der Aera Bismarck, nur gemildert in der Form des persönlichen Verkehrs, und wir glauben kaum nöthig zu haben, erst an der