Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.
Nr. 29.
Der gute Wille.
Gern will ich sein ein Rather, Verlangt nur keine That Ich bin Familienvater Und auch Geheimerrath.
Ja freilich, beides bin ich, Das macht mir viele Bein Ich bin gewiß freisinnig, Wie's einer nur kann sein.
Hätt' ich nicht Frau und Kinder, Da wär's mir einerlei, Vorsichtig wär ich minder,
Spräch auch noch mal so frei.
Doch ein Familienvater
Der Punkt ist delikat,
Und noch viel delikater
Ist ein Geheimerrath.
I.
Ich habe mein ganzes Leben außerhalb der Stadt zugebracht. Als ich im Jahre 1881 zu längerem Aufenthalte nach Moskau übersiedelte, erregte das städtische
Sonnabend, den 18. Juli 1891.
V. Jahrgang.
Ich verließ die Wachtstube. Im Hausflur traf ich sammen bei einem Hauswirth allerhand altes Gerümpel den Polizisten, der den Bettler eingebracht hatte; er saß zu Brennholz zersägt und zerspalten. Nachdem sie diese auf der Fensterbrüstung und blickte in eine Art Notiz- Arbeit beendet hätten, seien sie auf neue Arbeit ausbuch. Ich fragte ihn:
„ Ist es wahr, daß in Moskau den Bettlern verboten ist, in Christi Namen um Almosen zu bitten?"
Der Polizist fuhr aus seinem Buche empor, blickte mich eine Weile stirnrunzelnd an und sagte, indem er sich auf der Fensterbrüstung zurechtseẞte:
Die Obrigkeit befiehlt's,' s wird also wohl in Ordnung sein."
Dann wandte er sich wieder seinem Notizbuche zu. Ich trat auf die Haustreppe hinaus.
,, Na, haben sie ihn behalten?" fragte der Droschkenkutscher, der den Bettler gebracht hatte. Offenbar interesfirte auch ihn das Schicksal des Wassersüchtigen. ,, Sie haben ihn behalten," antwortete ich. Der Droschkenkutscher schüttelte den Kopf. Wie ist denn das hier bei Euch in Moskau ?" fragte ich.„ Es ist wohl hier verboten, in Christi Namen um etwas zu bitten?"
,, Wer mag's wissen," versetzte der Kutscher . " Wie geht denn das zu?" fragte ich." Der Bettler ist doch Christi Bruder, und man bringt ihn hier auf
die Wache?"
gegangen, doch hätten sie keine gefunden; sein Arbeitsgenosse habe sich von ihm getrennt, und nun treibe er sich bereits die zweite Woche ohne Arbeit umher, habe seine letzte Ropeke verzehrt und könne sich nicht einmal eine Säge kaufen. Ich gab ihm Geld auf die Säge und nannte ihm den Ort auf den Sperlingsbergen, an dem er sich zur Arbeit einfinden sollte. Mit Peter und Semjon hatte ich bereits vorher abgemacht, daß sie einem Arbeitsgenossen, den ich ihnen etwa zusenden würde, Beschäftigung zuweisen sollten.
,, Komm' nur hin," sagte ich zu dem Bettler,„ dort giebt's viel Arbeit."
,, Gewiß, komm' ich, freilich werd' ich kommen. Ist's denn ein Vergnügen, sich so herumzuschlagen? Gern werd' ich arbeiten."
Er versicherte mir heilig und theuer, daß er kommen würde, und ich glaubte wirklich, daß er Lust habe, zu arbeiten und mich nicht betrüge.
Am nächsten Tage komme ich zu meinen beiden Bekannten auf den Sperlingsbergen und frage, ob der Mann gekommen sei.
Nein, er ist nicht gekommen," luutete die Antwort. " Das ist heutzutage alles anders, man erlaubt nicht Und so haben mich noch mehrere betrogen. Manche zu betteln," antwortete der Kutscher . hatten mir vorgelogen, sie brauchten nur Geld auf ein Billet, um nach Hause zu fahren; ich gab ihnen das Elend in hohem Grade meine Verwunderung; es war für die Bettler zur Wache und darauf nach dem Jussupowder Straße. Viele von ihnen erkannten mich wieder und Ich war später noch mehrmals Beuge, wie die Polizisten Geld, und acht Tage später traf ich sie doch wieder auf mich etwas Neues und Unverständliches. Man kann in Moskau nicht eine einzige Straße durchschreiten, ohne auf dem Fleischmarkte eine ganze Schaar solcher Bettler, und versuchten es noch einmal mit demselben Betruge. schen Arbeitshause brachten. Eines Tages traf ich auf gingen mir aus dem Wege; andere erkannten mich nicht eine Anzahl Bettler zu stoßen, und zwar auf Bettler von ganz besonderer Art, die den Bettlern des Dorfes gegen dreißig Mann. Vor ihnen und hinter ihnen Ich wußte jedenfalls so viel, daß es in der Mitte dieser durchaus unähnlich sind. Es sind dies keine Bettler mit schritten Polizisten einher. Ich fragte, was jene ver- Leute viel Betrüger giebt; aber auch diese Betrüger dem Bettelsack, die in Christi Namen um Almosen bitten. brochen hätten, und ich erhielt zur Antwort, daß sie geswaren recht klägliche, elende Menschen, halbnackt und Bettler ohne Bettelsack und ohne den Namen Chriſti auf verboten war, um Almosen zu bitten, obschon in jeder aus der sich die Erfrorenen und Erhängten rekrutiren, So wußte ich denn, daß es in Moskau geseßlich mager und krank. Es war das jene Klasse von Menschen, den Lippen. Die Moskauer Bettler tragen keinen Sack Straße und Gasse dieser Stadt eine ganze Anzahl von von denen wir täglich im Polizeibericht der Zeitungen leſen. und bitten auch nicht ohne weiteres um Almosen. Sie Bettlern anzutreffen ist und zur Zeit des Gottesdienstes, bemühen sich zumeist, wenn man an ihnen vorüberkommt, namentlich aber bei Begräbnissen, die Kirchthüren von Beiträge zur deutschen Kultur- u. Literaturmit ihrem Blick dem Blicke des Vorüberschreitenden zu denselben schaarenweise umstanden werden. begegnen. Und je nach dem Blick, den man ihnen zuwirft, bitten sie oder bitten sie nicht.
wie dies unsere Dorfbettler thun, sondern es sind dies
bettelt hätten.
Weshalb aber werden die einen verhaftet und irgend
bon
geschichte des 18. Jahrhunderts
J. H. W. III.
( Nachdruck verboten.)
Ich kenne einen solchen Bettler, einen Edelmann von wo eingesperrt, die andern dagegen weiter in Freiheit geGeburt. Der alte Mann geht langsam einher, indem er lassen? Das fonnte ich durchaus nicht begreifen. Entsich bald auf das eine, bald auf das andere Bein über- weder giebt es unter ihnen gesetzliche und ungesetzliche neigt. Wenn er jemandem begegnet, so neigt er sich auf Bettler, oder es giebt ihrer so viel, daß man nicht im Wilhelm Ludwig Wekhrlin *) war geboren 1739 das eine Bein und macht gewissermaßen eine Ver- Stande ist, sie alle zu verhaften, oder endlich, es tauchen, beugung vor dem ihm Begegnenden. Bleibt derselbe während man die einen verhaftet, immer wieder neue in zu Bothnang in Württemberg als Sohn eines Landstehen, so faßt er an seine Müge mit der Kokorde, verpredigers, studirte zuerst zu Tübingen die Rechte, verließ den Straßen auf. neigt sich nochmals und bringt seine Bitte vor; bleibt der Es giebt verschiedene Arten von Bettlern in aber bald die Universität, diese Klopffechterschule der Andere nicht stehen, so stellt er sich, als ob es nur seine Moskau : die einen betreiben das Betteln mehr gewerbs- Unwissenheit" und ging als Hauslehrer nach Straßburg . besondere Art zu gehen wäre, und er schreitet weiter, mäßig, während die andern auf irgend eine Weise nach 1763 begab er sich von hier nach Paris , studirte die indem er sich in gleicher Weise auf das andere Bein Moskau gerathen sind und wirklich Noth und Elend erneuere französische Literatur und erlangte vermöge seiner dulden. überneigt. Das ist ein wirklicher Moskauer Bettler, umfassenden Bildung und seines sprudelnden Geistes bald
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Er hat gebettelt," lautete die Antwort. „ Ist denn das verboten?" fragte ich.
nur unter
von der echten Art. Ich begriff anfangs nicht, weshalb Es giebt unter diesen Bettlern schlichte, einfache Zutritt zu literarischen und selbst zu hocharistokratischen die Moskauer Bettler nicht ohne weiteres um Almosen Bauern und Bäurinnen, die ihre ländliche Tracht bei- Kreisen. Nach neunjährigem Aufenthalt, bitten; später erfuhr ich wohl, weshalb sie nicht bitten, behalten haben. Ich habe häufig solche Personen ge- brochen durch eine kurze Anwesenheit in London reiste doch konnte ich troßdem ihre Lage nicht begreifen. troffen, manche von ihnen sind in Moskau frank ge- er 1772 über die Schweiz und Italien nach Wien , in Als ich einst durch die Afanassi - Gasse ging, war ich worden und konnten, nachdem sie das Hospital verlassen, der Hoffnung, hier eine Staatsstellung zu bekommen. Zeuge, wie ein Polizist einen in Lumpen gehüllten Mann weder Arbeit finden, noch aus Mangel an Reisegeld Es wurde ihm nicht schwer, zu den höchsten Cirkeln Andere haben sich Zutritt zu erlangen, doch gerade hier stieß er auf vieles, von bäuerischem Stande, der an der Wassersucht litt, in nach der Heimath zurückkehren. eine Droschte sette. Ich fragte den Polizisten, weshalb überdies dem Trunke ergeben, und zu dieser Sorte was seine satyrische Ader herausfordern mußte. Ich fand, so schrieb er einem Freunde, kaum ein Dutzend dies geschehe. schien mir auch jener Wassersüchtige zu gehören; andere menschen, welche die französische Sprache verstanden, ja noch waren nicht frank, sondern abgebrannt oder alt, oder mehr, man sprach nicht einmal deutsch, die hochdeutsche Mundart Weiber mit Kindern. Aber ich traf auch ganz ge- wurde verachtet. Der Adel taugte zu nichts, als bei feierlichen Muß wohl verboten sein," brummte der Polizist. sunde, arbeitsfähige Menschen darunter, und diese ge- Gelegenheiten Espaliers von Perrücken zu bilden. Der dickste Bauch und das reichste Kleid waren das hauptsächlichste VerDie Droschke mit dem Wassersüchtigen und seinem funden, arbeitsfähigen Bettler intereſſirten mich ganz dienst. Es war die Zeit der Unwissenheit, des Hochmuths, der bewaffneten Begleiter fuhr davon. Ich nahm eine zweite besonders. Steifheit, der Barbarei. Niemand fragte nach Kenntnissen, nach Droschte und folgte der ersten. Ich wollte erfahren, ob Ich hatte seit meiner Uebersiedelung nach Moskau Geschmack, nach Witz, nach Büchern es thatsächlich wahr sei, daß es verboten ist, um ein die Gewohnheit angenommen, ein paar Stunden des Mit allen Waffen seines Spottes traf er diese Almosen zu bitten und worauf dieses Verbot sich gründet. Tages Holz zu sägen, um meinem Körper Bewegung Wiener Gesellschaft in seinen„ Denkwürdigkeiten von Ich konnte durchaus nicht begreifen, wie man einen zu verschaffen. Ich begab mich zu diesem Zweck tag- Wien ", die ungeheures Aufsehen erregten, dem freimüthiMenschen verbieten sollte, einen andern um etwas zu täglich nach den Sperlingsbergen, wo ich mit zwei gen Autor aber 6 Monat Gefängniß und Verweisung Das vorige Jahrhundert bitten, und konnte auch nicht glauben, daß ein solches Bauern zusammen arbeitete. Diese beiden Bauern waren aus der Stadt einbrachten. Verbot vorhanden sei, da doch Moskau von Bettlern nur ganz ebenso arm wie jene gesunden Bettler, die ich auf verstand sich, wie man sieht, auch schon auf eine solche so wimmelt. den Straßen traf. Der eine von ihnen war ein früherer Beseitigung von Männern, die durch ihre Wahrheitsliebe Ich begab mich in das Amtsgebäude, nach welchem Soldat aus Kaluga , Namens Peter, der andere, Semjon, unbequem werden. Er ging dann nach Regensburg , aber man den Bettler gebracht hatte. Hier traf ich hinter war ein Bauer aus der Gegend von Wladimir. Sie be- einige Bemerkungen über den„ melancholischen Reichsvereinem Tische der Wachtstube einen Mann mit Säbel und saßen nichts als ihre Kleider auf dem Leibe und ihre fassungskörper" und die Gesandten, die er mit Lampen Pistole. Arme. Mit diesen Armen verdienten sie bei schwerer, unter Hornblenden verglich, machten ihn auch hier un,, Weshalb hat man den Mann in der Droschke harter Arbeit täglich 40-45 Ropeken, wovon sie beide möglich; er zog nach Augsburg , um hier dasselbe Schickarretirt?" fragte ich. noch sparten- der Soldat auf einen Belz und der sal zu erleben, wie in Wien und Regensburg . Hier in Der Mann mit dem Säbel und der Pistole warf Bauer auf ein Eisenbahnbillet zur Rückfahrt nach seinem der Stadt der reichsten Kaufleute war es der dünkelhafte mir einen strengen Blick zu und fuhr mich barsch an: Dorfe. Krämerstolz, die Protektions- Hoffärtigkeit im Bunde mit " Was wollen Sie?" Er mußte sich jedoch gedrungen fühlen, mir irgend eine Auskunft auf meine Frage zu geben, und fügte hinzu:
"
Die Obrigkeit befiehlt, solche Leute zu arretiren, es wird also wohl so in der Ordnung sein."
bettelnd auf der Straße traf, fonnte ich mich nicht ent- ungebundenen Natur zuwider wurden. Er mußte auch Wenn ich nun solche arbeitsfähige, gesunde Männer Unwissenheit und Beschränktheit, die seiner kraftvollen
halten, zu fragen, weshalb diese betteln, während andere, Augsburg verlassen und fällte dafür in seinem Buch: Anselmus Rabiosus Reise durch Oberdeutschdie in vollkommen gleicher Lage sind, arbeiten.
Traf ich einen solchen Menschen, so fragte ich ihn land ein freimüthiges Urtheil über die Stadt und den gewöhnlich, wie er in eine solche Lage gelangt sei. So Geist ihrer Bewohner. Der Magistrat von Augsburg " Wir brauchen unseren Lesern wohl nicht erst zu sagen, sprach mich eines Tages ein Bettler von bäuerischem verbot das Buch, der von Nördlingen , wo Wekhrlin daß die Anschauungen, welche Tolstoi hier entwickelt, nicht die unserigen find. Auch Tolstoi ist freilich Kommunist, aber auf Aussehen mit leicht angegrautem Barte, im übrigen voll- darnach seinen Wohnsiz aufgeschlagen, fonfiszirte die erste einer ganz anderen Grundlage, wie wir. Trotzdem bringen wir kommen gesund scheinend, um ein Almosen an. Ich Auflage, auf welche dann aber drei andere folgten. Auch den vorliegenden Aufsatz von ihm, als Dokument einer eigen- fragte, wie er hieße und woher er wäre. Er antwortete, in Nördlingen traf ihn der Ausweisungsbefehl, er hatte artigen Sozialphilosophie, die doch immer unser lebhaftes Inter - daß er aus Kaluga stamme und nach Moskau ge
effe erwecken wird, auch wenn wir ihr nicht zustimmen, als
*) Ueber Wekhrlin eristirt eine Biographie nebst einem
ein Meisterwerf intimister psychologischer Beobachtung, und endlich kommen sei, um Arbeit zu suchen. Anfangs habe er Auszug seiner Schriften von Dr. F. W. Ebeling, Berlin 1869, als Ausdruck eines großen und edlen Charakters. Arbeit gefunden er habe mit einem Genoffen zu die wir benutzte.
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