Beiblatt zur Berliner Volks- Tribüne.
Nr. 33.
Die Klagen der Armen.
Von Rob. Southey.
Und warum klagt das arme Volk?" Frug mich der reiche Mann.
Komm," sprach ich, geh hinaus mit mir, Daß ich's dir sagen kann!"
' s war Abend, und im Schneetuch lag Der Straßen öd Revier;
Wir hatten Rock und Mantel an, Und dennoch froren wir.
Ein alter Mann trat auf uns zu; Sein Haar war dünn und weiß. Warum er jetzt nur draußen sei, Frug ich denselben Greis.
Er sprach: es wäre freilich kalt, Doch Feuer hätt er nicht;
So bät' er denn um Gaben noch Bei Frost und Sternenlicht.
Wir fah'n ein jung barfüßig Kind In schlechter, dürft'ger Tracht; Ich frug, warum es draußen sei In solcher Winternacht.
Es sprach:„ Mein Vater ist zu Haus; Krant liegt er auf den Tod;
Drum hat man mich hinausgeschickt,
Zu betteln noch um Brot.
Auf einer Frauen bleich Gesicht
Fiel der Laterne Schein;
Ein Kind im Korb, eins an der Brust
So saß sie auf dem Stein.
Jch frug, was sie verzöge nur
Im ets'gen Abendwind:
Umschauend hieß sie stille sein
Jm Tragekorb das Kind.
Danach:" Mein Mann ist ein Soldat, Schlägt für den König sich:
Nach meinem fernen Kirchspiel drum Heimbetteln muß ich mich."
Gesunknen Auges, leicht geschürzt,
Sah'n wir ein Mädchen dann;
Mit dem frechen Blick der Buhlerin
Trat sie die Wandrer an.
Jch frug: Was Süßes hat die Schuld,
Das dich zu spätem Harm,
Das Dich zu Schmach und Siechthum lockt?"-
Sie sagte:„ ich bin arm."
Drauf zu dem Reichen wandt' ich mich; Dastand er sprachlos schter.
" Du frugst: Was klagt das arme Volk? Und diefe sagten's dir!"
Was sollen wir also thun!
V.
Sonnabend, den 15. August 1891.
V. Jahrgang.
Der junge Bursche warf die Serviette hin, zog waren anwesend. Als ich eintrat, war das Zimmer so einen Paletot über das weiße Hemd und die weißen voll, daß ich nur mit Mühe an den Tisch gelangen Beinkleider, setzte eine Müze mit großem Schirm auf konnte und jedenfalls keine weitere Person Platz gefunden und führte mich mit raschen Schritten durch die Hinter hätte. Ich begrüßte den Studenten, und er fuhr in thür hinaus. seinen Fragen fort. Ich aber begann Umschau zu halten und die Bewohner dieses Quartiers im Sinne meiner besonderen Pläne und Absichten auszuforschen.
In der schmutzigen, von brenzligen Düften angefüllten Küche, in welche der hintere Theil des Hausflurs Es stellte sich heraus, daß in diesem ersten Quarumgewanuelt war, trafen wir ein altes Mütterchen, welches ein bereits stark duftendes, in einen Lappen ge- tiere nicht ein einziger Mensch vorhanden war, über den wickeltes Gekröse behutsam vor sich hertrug. ich den Segen meiner Wohlthätigkeit hätte ausgießen
Aus dem Hausflur gelangten wir in einen ab- können. Trotz der Aermlichkeit, der Enge und des schüssigen Hofraum, welcher ganz mit hölzernen, nur in Schmuzes, welche ich im Vergleich zu der prächtigen der unteren Etage massiven Gebäuden verbaut war. Ein Wohnung, die ich selbst inne hatte, in diesem Quartiere widerwärtiger Geruch erfüllte den ganzen Hof. Den vorfand, lebte die Vermietherin selbst ganz behaglich, Ausgangspunkt dieses Geruches bildete ein Abort, in wenn ich das Leben der eigentlichen städtischen Armen dessen Nähe sich jedesmal, so oft ich vorüberging, eine daneben hielt, ja sie lebte sogar üppig im Vergleich mit Anzahl von Menschen drängte. Der Abort selbst wurde den armen Leuten auf dem Dorfe, deren Lage ich recht nicht benutzt, man zog es vor, seine Nothdurft neben genau kannte. Sie hatte ein Federbett, eine gestickte demselben zu verrichten. Dieser abscheuliche Ort mußte Bettdecke, einen Samowar, einen Belz, einen mit Porzeljedem, der über den Hof schritt, sogleich ins Auge fallen. langeschirr gefüllten Glasschrank. Denselben Eindruck Es wurde mir jedesmal übel, wenn ich in die äzende, behaglichen Lebens machte auch der Freund der Verdurchdringende Atmosphäre desselben gerieth. mietherin; er besaß, wie ich sah, eine Taschenuhr mit Kette. Vorsichtig suchte mein Führer mit seinen weißen Die Miether machten einen ärmlicheren Eindruck, doch Schuhen an den gefrorenen und nichtgefrorenen Unrath- gab es nicht einen einzigen unter ihnen, der sofortige haufen vorüberzukommen und schlug den Weg nach einem Hilfe nöthig gehabt hätte. Weder die Frau vor dem der hölzernen Hofgebäude ein. Alle, die über den Hof Waschtrog, die sammt ihren Kindern von ihrem Manne schritten oder sich auf den Galerien der Hofgebäude be- verlassen worden war, noch die alte Wittwe, die aus der fanden, hielten es für nothwendig, stehen zu bleiben und Thür ihres Kämmerchens hervorgelugt hatte, und die, mich zu betrachten. Offenbar wurde ein sauber geklei- wie sie selbst sagte, durchaus keine Einnahmequelle bedeter Mensch an diesem Orte als ein Wunderthier an- saß, noch endlich der Bauer in den Bastschuhen, der, wie gesehen. er gestand, an diesem Tage noch nichts gegessen hatte
Der Kellner wandte sich an eine Frau mit der feines von ihnen befand sich, wie sich bei meinen NachFrage, ob sie nicht irgendwo die Volkszähler gesehen forschungen herausstellte, in einer so elenden Lage, daß hätte, und sogleich beeilten sich drei Menschen auf einmal, es augenblicklich einer rettenden Hand bedurft hätte, und seine Frage zu beantworten. Die einen sagten, sie wären ich sah ein, daß, wenn ihnen geholfen werden sollte, dies ,, über dem Brunnen", während die anderen meinten, sie jedenfalls auf andere Weise und erst nach genauer Bewären wohl dagewesen, jedoch bereits fortgegangen, und kanntschaft mit ihnen geschehen mußte.
sie würden wohl jezt bei Nikita Iwanowitsch sein. Ein Als ich der eheverlassenen Frau den Vorschlag alter Mann im bloßen Hemde, der sich in der Nähe machte, ihre Kinder in einer Kinderbewahranstalt unterdes Aborts zu schaffen machte, sagte, sie wären in zubringen, ward sie verlegen und nachdenklich; sie zeigte Nummer 30. Mein Führer entschied, daß diese Mit- sich zwar sehr dankbar für meine Theilnahme, doch schien Eine theilung die meiste Wahrscheinlichkeit für sich hätte, un ihr offenbar mein Vorschlag nicht zu gefallen. führte mich nach Nummer 30, eine Art Schuppen, der Geldunterstügung wäre ihr jedenfalls lieber gewesen. Das nach Art eines Kellers halb in den Erdboden eingelassen ältere Mädchen ist ihr beini Waschen behilflich, und das war. Wir tamen in einen finsteren Raum, welcher von jüngere wartet den kleinen Knaben. einem stickigen Geruch erfüllt war der sich indessen Die alte Frau zeigte sich zwar bereit, sich in einem Spital aufnehmen zu lassen, als ich jedoch ihren Winkel von demjenigen des Hofes deutlich unterschied. Nachdem wir einige Stufen hinabgestiegen waren, besichtigte, fand ich, daß sie durchaus nicht so elend lebte. gelangten wir in einen dunklen, ungepflasterten Korridor. Sie besaß einen wohlgefüllten Koffer, eine hübsche TheeWährend wir diesen durchschritten, wurde eine Thür tanne, zwei Tassen und zwei Büchsen für Thee und hastig aufgerissen und ein betrunkener alter Mann im Zucker. Sie strickte Strümpfe und Handschuhe und bloßen Hemde, augenscheinlich nicht dem Bauernstande erhielt von einer Wohlthäterin monatliche Unterangehörig, stürzte aus derselben hervor. Eine Wäscherin stützungen.
Am ersten festgesezten Zähltage stellten sich die mit hoch aufgestreiften Aermeln und schaumbedeckten Der Mann in den Bastschuhen litt augenscheinlich Studenten, welche das Zählgeschäft besorgen sollten, be- Armen folgte mit gellendem Geschrei dem Alten und weniger Mangel an Speisen und Getränken, und jede reits früh am Morgen am bestimmten Orte ein, während stieß ihn heftig vor sich her. Wanja, der Kellner, nahm Kopeke, die man ihm gegeben hätte, wäre ohne Zweifel ich, der Wohlthäter, mich erst gegen 12 Uhr Mittags den Alten auf die Seite und sprach zu ihm im Tone in die Schenke gewandert. Es gab, mit einem Wort, bei ihnen einfand. Ich konnte nicht eher kommen, weil des Vorwurfs: in diesem Quartier keinen einzigen Menschen, den ich
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ich erst um 10 Uhr aufgestanden war, dann meinen" Schämen Sie sich doch, solchen Spektakel zu durch eine Geldunterstüßung aus einem Unglücklichen in Kaffee und mein Frühstück eingenommen und zur Ver- machen noch dazu ein Offizier!" einen Glücklichen hätte verwandeln können. dauung eine Zigarre geraucht hatte. Wir gelangten an die feuchte, klebrige Thür von Jedenfalls gab es hier arme Leute, das stand für Punkt 12 Uhr stand ich vor dem Thore des Nummer 30. Wanja zog dieselbe an, und sie öffnete mich fest. Ich notirte mir die alte Wittwe, die Frau Rschanowschen Hauses. Ein Polizist zeigte mir ein sich mit einem schmaßenden, leisen Geräusch. Eine Wolke mit den Kindern und den Mann mit den Bastschuhen Wirthshaus neben der Durchfahrt zum Ufer, in welches von dichten, seifigen Dämpfen schlug uns entgegen, deren und entschied, daß für sie unbedingt etwas würde gedie Volkszähler alle diejenigen hinbest llt hatten, die nach talgiger Geruch sich mit dem Dufte schlechter Nahrung schehen müssen, jedoch erst dann, wenn für jene ganz beihnen fragen würden. Ich trat in das Wirthshaus ein. und noch schlechteren Tabaks mischte. Es war eine voll- sonders Unglücklichen, die ich in diesem Hause noch zu Es war ein sehr dunkler, übelriechender, schmußiger Raum. tommene Finsterniß, in die wir eintraten. Die Fenster finden hoffte, gesorgt sein würde. Dem Eingang gegenüber befand sich das Buffet, links lagen auf der entgegengesetzten Seite, zur Rechten und Ich entschied, daß in den Wohlthaten, welche wir ein kleineres Zimmer mit Tischen, die mit schmutzigen zur Linken zogen sich hölzerne Bretterwände hin, in ausüben würden, eine bestimmte Reihenfolge eingehalten Servietten bedeckt waren, rechts ein großes Zimmer mit denen sich kleine, zu verschiedenen mehr oder weniger werden müsse: zuerst die ganz Unglücklichen und dann ebensolchen Tischen vor den Fenstern und an den Wänden. Schiefen Kammern führende Thüren befanden. In den die anderen, die weniger Unglücklichen. Aber in jedem Hier und da saßen an den Tischen beim Thee Männer Stammern selbst waren wiederum allerhand Verschläge einzelnen der weiteren Quartiere zeigte sich die gleiche in theils abgerissener, theils anständiger Kleidung, Arbeiter aus rohen, weißgestrichenen Brettern angebracht. Erscheinung: lauter Leute, deren Lage erst genauer unterund fleine Geschäftsleute, sowie einige Frauen. In einem dunklen Zimmer zur Linken ward eine sucht werden mußte, damit die rechte Art, sie zu unterDas Wirthshaus machte einen höchst unsauberen Frau vor einem Waschfaß sichtbar, die mit allem Eifer stüßen, erkannt würde. Solche Unglücklichen, die durch Eindruck, doch sah man zugleich, daß das Geschäft nicht en Wäschestück zwischen ihren Händen rieb. Aus einer ein Geldgeschenk sich sogleich in Glückliche verwandelt schlecht ging. Der zuversichtliche Gesichtsausdruck des Thür zur Rechten blickte ein altes Weib neugierig hervor. hätten, waren durchaus nicht zu finden, So peinlich Verkäufers hinter dem Buffet und der geschäftige Eifer Durch eine andere, offenstehende Thür sah man einen mir auch das Geständniß wird, so muß ich doch bekender Kellner bewiesen es deutlich. Kaum war ich ein- Mann mit dichtem, langem Barte und rothem Gesichte, nen, daß ich eine gewisse Enttäuschung empfand, als ich in getreten, als auch schon einer der letzteren sich anschickte, der auf einer Schlafpritsche saß, seine Arme auf die diesen Häusern nichts von dem entdeckte, was ich erwartet mir den Paletot abzunehmen und nach meinen Wünschen Kniee stüßte und mit düstrem Ausdruck auf die schmutzigen hatte. Ich hatte hier eine ganz besondere Sorte Menfragte. Offenbar wurde hier auf eine schnelle und pünkt- Bastschuhe an seinen hin und her schlenkernden Füßen schen zu finden gehofft, nachdem ich jedoch alle Quartiere liche Bedienung gehalten. niederstarrte. abgesucht hatte, kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Ich fragte nach den Volkszählern. Am Ende des Korridors befand sich eine kleine Thür, Menschen, die in diesen Häusern wohnen, durchaus nichts " Wanja!" rief ein kleiner, nach deutscher Art ge- welche in jenes Zimmer führte, in dem sich die Zähler Besonderes an sich haben, sondern Zug um Zug denfleideter Mann, der in dem Flaschenschrank hinter dem befanden. Es war das Zimmer der Vermietherin, welche jenigen gleichen, unter denen ich zu leben gewohnt war. Buffet irgend welche Gegenstände zurechtstellte. Es war die ganze Nummer 30 von Iwan Fedorowitsch über- Ganz genau 10, wie unter uns Bornehmen und Gebilder Schankwirth selbst, von Geburt ein Bauer aus der nommen hatte und sie ihrerseits an Aftermiether und deten, gab es auch hier mehr oder weniger gute und Gegend von Kaluga , Namens Iwan Fedorowitsch, der Schlafburschen" vermiethete. mehr oder weniger schlechte Menschen, gab es hier Glückdie Hälfte der Wohnungen in den Siminschen Häusern In diesem winzig fleinen Zimmerchen saß unter liche und Unglückliche. Und die Unglücklichen waren von den Besitzern gemiethet hatte und an kleine Leute einem eingerahmten Folio Holzschnitt einer der Studenten, ganz in derselben Art unglücklich, wie die Unglücklichen weiter vermiethete. die das Zählgeschäft übernommen hatten, und fragte mit in unseren Kreisen, d. h. ihr Unglück war nicht in ihren
Auf den Ruf des Schankwirthes kam einer der der Miene eines Untersuchungsrichters einen mit Hemd äußeren Lebensbedingungen, sondern in ihnen selbst, Kellner, ein magerer, etwa achtzehnjähriger Bursche mit und Weste bekleideten Mann aus, indem er die Angaben ihrem Innern begründet; es war mit einem Wort ein einer Habichtsnase und gelber Gesichtsfarbe, herbeigeeilt. desselben in die Zählfarten eintrug. Dieser Mann war Unglück, das durch keine noch so werthvolle Banknote zu " Führe doch den Herrn zu den Volkszählern", ein Freund der Vermietherin, an deren Stelle er die beseitigen war.
sagte der Wirth; sie sind in das große Gebäude über nothwendigen Auskünfte ertheilte. Auch die Wirthin
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dem Brunnen gegangen."
selbst, eine alte Frau, sowie zwei neugierige Miether