Oeiökatt zur Kerkiner llulks-ÜLribüne Nr. 42. Sonnabend, den 17. Oktober 1891. v. Jahrgang. Wiegenlied. So schlaf' in Ruh', Mein Söhnchen dul Dein Vater sprach ein freies Wort, Da führten ihn die Schergen fort In einen Kerker weit von hier, Weit weg von mir, weit weg von dir! So schlaf' in Ruh', Mein Söhnlein du! Dein Vater leidet Schmach und Roth, Dein Bater ist lebendig tobt. Und seine Freunde bleiben fern, Und seh'n auch dich und mich nicht gem. So schlaf' in Ruh', Mein Söhnlein du! Dein Vater ist ein Biedermann— Heil jedem, wer so denken kann! Heil dir, wenn du dereinst auch bist, Was dein gefang'ner Vater ist. So schlaf' in Ruh', Mein Söhnlein du! Verschlaf' des Baterlandes Nacht, Den Knechtsmn, die Despotenmacht: Verschlaf', waS uns noch drückt und plagt, Schlaf, bis der bess're Morgen tagt! Hoffmann von Fallersleben . Was sollen Wir also thuu! Bon Graf Leo Tolstoi . Deuts tü von August Scholz. XIV. Ich gelangte zu denselben Schlüssen noch von einer ganz entgegengesetzten Seite her. Indem ich mir alle meine Beziehungen zu den städtischen Armen während jener ganzen Zeit ins Gedächtniß zurückrief, erkannte ich, daß eine der Ursachen, weshalb ich jenen nicht helfen konnte, die war, daß jene Armen gegen mich nicht wahr und aufrichtig waren. Sie betrachteten mich alle nicht als einen Menschen, sondern als ein Mittel zum Zweck, Ich vermochte mich ihnen seelisch nicht zu nähern, und ich dachte damals, es läge dies an meinem persönlichen Ungeschick im Verkehr mit ihnen. Unmöglich aber konnte ich ihnen helfen, wenn sie mir nicht die Wahrheit sagten, nicht ihre Lage ganz und offen enthüllten. Ich machte ihnen anfangs Vorwürfe deshalb— es ist ja so natür- lich, die Schuld dem Andern zuzuschieben. Die Aeußerung eines bemerkenswerten Mannes jedoch— Sjutajews*), der damals bei mir zu Gaste war— klärte mich über die Sache auf und belehrte mich darüber, worin eigentlich der Grund meines Mißerfolges lag. Ich erinnere mich. daß jene Aeußerung Sjutajews einen tiefen Eindruck auf mich machte; in ihrer ganzen Bedeutung jedoch habe ich dieselbe erst später begriffen. Es war zu jener Zeit, als meine Selbsttäuschung gerade ihren höchsten Punkt erreicht hatte. Ich war bei meiner Schwester zu Besuch, bei welcher sich zufällig auch Sjutajew befand. Meine Schwester fragte mich nach dem Fortgang meines Unternehmens, und ich erzählte ihr, wie das immer so ist, wenn man an seine Sache nicht glaubt, mit großer Wärme und wortreicher Be- geisterung von alledem, was ich bereits in der Ange- legenheit gethan hätte, und was noch alles aus der Sache werden würde. Ich erzählte ihr, wie wir alle Roth in Moskau erforschen, wie wir für die Waisen und die hilflosen Greise sorgen, wie wir die verarmten Bauern in ihre Heimath zurückbefördern, den Gesunkenen und im Laster Verkommenden den Weg zur Besserung weisen würden und wie, wenn nur die Sache erst in Gang gebracht sein würde, nicht ein einziger Mensch in Moskau sein würde, der keine Hilfe bei uns fände. Meine Schwester zeigte große Theilnahme für die Sache, und wir sprachen noch mancherlei über dieselbe. Während der Unterhaltung blickte ich mehrmals zu Sjutajew hinüber. Ich kannte sein christliches Leben und die Bedeutung, welche er der Barmherzigkeit zuer- kannte, und so erwarte ich, daß meine Worte bei ihm Zustimmung finden würden und drückte mich absichtlich so aus, daß er alles verstand. Ich wandte mich scheinbar an meine Schwester, richtete jedoch meine Ausführungen eigentlich mehr an ihn. Unbeweglich saß er in seinem lohfarbenen kurzen Schafpelz da, den er, wie alle Bauern, überall und zu jeder Zeit trug, und schien so in seine eigenen Gedanken versunken, daß er uns überhaupt nicht hörte. Seine kleinen Aeuglein schienen vollkommen nach innen gerichtet. Nachdem wir eine ganze Weile geredet hatten, wandte ich mich an ihn mit der Frage, was er eigentlich von der Sache denke. „Alles unnütz," sagte er. „Weshalb?" „Euer ganzer Verein und die ganze Sache ist unnütz, und es wird nichts gutes dabei herauskommen," versicherte er im Tone der festen Ueberzeugung. „Wieso denn nicht? Weshalb sollte es unnütz sein. wenn wir doch Tausenden oder wenigstens Hunderten von Unglücklichen Helsen ? Ist es denn ein böses Werk, *) Russischer Bolkspbilosopb. nacki den Worten des Evangeliums den Nackten zu be- kleiden und den Hungrigen zu speisen?" „Ich weiß, ich weiß, aber nicht das ist's, was ihr thut. Soll man denn so helfen? Du gehst des Wegs, und es bittet Dich ein Mensch um zwanzig Kopeken. Du giebst sie ihm. Ist denn das ein wahres Almosen? Gieb ihm ein geistiges Almosen, belehre ihn! Was aber hast Du ihm gegeben? Nur loswerden wolltest Du ihn." „Nein, so betreiben wir unsere Sache durchaus nicht. Wir wollen die Roth kennen lernen und dann helfen, mit Geld und mit der That. Auch Arbeit wollen wir für sie suchen." „Nicht im geringsten werdet ihr diesen Leuten helfen." „Wie denn? So sollen sie vor Hunger und Kälte sterben?" „Weshalb sterben? Wieviel giebt es denn ihrer hier?" „Wieviel es ihrer hier giebt?" versetzte ich, indem ich dabei dachte, daß er nur deshalb die Sache so leicht nehme, weil er nicht wisse, wie ungeheuer groß die ?lnzahl dieser Leute sei.„Weißt Du denn auch," fuhr ich fort,«daß es allein in Moskau zwanzigtausend dieser Hungernden und Frierenden giebt? Und in Petersburg und den übrigen Städten?" Er hörte mich lächelnd an. „Zwanzig Tausend!" begann er alsdann.„Und wieviel Höfe giebt es wohl bei uns in Rußland ? Eine Million vielleicht? Nun, und was weiter?" „Was weiter?" versetzte er mit lebhaft funkelnden Augen.„Nun, dann vertheilt sie doch auf diese Höfe! Ich bin nicht reich, aber ich will sogleich zwei zu mir nehmen. Da hast Du den Jungen, den Sereschka, zu Dir in die Küche genommen; ich habe ihn zu mir eingeladen, und er ist darauf nicht eingegangen. Noch zehnmal so viel mögen ihrer sein, wir wollen sie alle unter uns vertheilen. Du nimmst welche, und ich nehm' welche. Auch zur Arbeit werden wir sie mitnehmen— sie werden zusehen, wie wir arbeiten, und werden es erlernen; und beim Thee werden sie nzit uns am Tisch sitzen und ein Wort hören, von mir und von Dir. Das nenne ich ein Almosen, Euer Verein aber ist ein unnützes Ding." Dieses schlichte Wort übte eine tiefe Wirkung auf mich. Ich mußte seine Richtigkeit zugeben, doch glaubte ich damals noch, daß auch das, was ich vorhatte, nicht ohne Nutzen sein würde. Je länger ich jedoch mein Werk fortführte, je mehr ich mit den Armen in Berührung kam, desto häufiger fielen mir diese Worte Sjutajews ein, und desto tiefere Bedeutung gewannen sie für mich Und in der That: ich komme zu diesen Leuten in einem kostbaren Pelze und im eigenen Wagen, oder sie sehen meine Wohnung, für die ich 2000 Rubel Miethe zahle, während sie selbst Geld zu Stiefeln nöthig haben; sie sehen, daß ich ohne Weiteres fünf Rubel hingebe, einzig aus dem Grunde, weil es gerade mir so paßt, sie zu geben; sie wissen, daß, wenn ich die Rubel so leicht aus der Hand gebe, ich jedenfalls so viele davon haben müsse, daß eine große Menge dieser Rubel für mich persönlich überflüssig ist. Was sonst können diese Leute in mir sehen, als einen jener Menschen, die das in Besitz genommen haben, was eigentlich ihnen selbst zugehören müßte? Und welches andere Gefühl können sie für mich hegen, als den Wunsch, mir so viel als möglich von jenen Rubeln, die ihnen selbst und Anderen abgenommen worden sind, wieder abzujagen? Ich will mich ihnen nähern und beklage mich darüber, daß sie nicht aufrichtig gegen mich sind, und dabei fürchte ich mich, mich neben sie aufs Bett zu setzen, damit ich nicht Ungeziefer bekomme oder mich anstecke, und ich fürchte mich, sie zu mir ins Zimmer zu lassen und glaubte schon ein Uebriges zu thun, wenn ich diese Hungerleider im Vorzimmer und nicht im Hausflur draußen warten lasse. Und dann behaupte ich, daß sie daran schuld sind, wenn ich ihnen nicht näher zu treten vermag— daß sie„unaufrichtig" sind. Mag ein Mensch noch so grausam sein, so wird er es doch kaum über sich gewinnen, vor den Augen von Leuten, die sich selbst entweder gar nicht oder nur an Schwarzbrot satt gegessen haben, eine Mahlzeit von fünf Gängen zu sich zu nehmen. Niemand wird den Muth haben, sich an ein reichliches, erlesenes Mahl setzen, wenn rings um ihn hungrige Menschen sich belecken. Wollen wir also mitten unter Menschen, die sich selbst nicht satt essen, unseres leckeres Mahl genießen, so ist es die erste nothwendige Bedingung, daß wir uns vor jenen verstecken, damit sie nicht sehen, wie wir essen. Und das ist es denn auch in erster Linie, was wir thun. Und ich blickte schärfer hinein in unser Leben und sah, daß es kein Zufall ist, wenn wir so schwer mit den Armen in nähere Beziehungen treten, sondern daß wir mit Absicht unser Leben so einrichten, damit eine An- Näherung möglichst erschwert werde. Je klarer ich unser Leben— das Leben der Reichen — durchschaute, desto deutlicher erkannte ich, daß alle diejenigen Dinge, die wir als besondere Reize und Vor- zöge dieses Lebens betrachten, darauf hinauslaufen oder wenigstens dazu dienen sollen, uns möglichst weit von den Armen zu trennen. Alle Bestrebungen unseres auf den Reichthum gegründeten Lebens, von unserer Nahrung. unserer Kleidung, unserer Wohnung angefangen bis zu unserer peinlichen Sauberkeit und unserer Bildung, haben vor allem den Zweck, uns abzusondern von der großen Menge der Armen. Und auf diese Absonderung, diese Errichtung von unüberschreitbaren Wänden verbrauchen wir niedrig gerechnet, neun Zehntel unseres Reichthums. Das erste, was ein reich gewordener Mensch thut, ist, daß er aufhört, mit den Andern aus einer Schüssel zu essen, daß er sich seine Tafel besonders decken läßt und sich von Küche und Dienerschaft trennt. Er füttert auch seine Dienerschaft reichlich, damit nicht ihr Speichel auf seine süßen Speisen niederfließe, und speist allein; da es ihm jedoch langweilig ist, allein zu speisen, so ersinnt er alle möglichen Kunststücke, um die Speisen zu verbessern, ihnen ein appetitliches Aussehen zu geben und die Tafel auszuschmücken. Schon die Art und Weise, wie er seine Speisen zu sich nimmt, das Arrangement, wird für ihn zu einer Sache des Ehrgeizes und des Stolzes und zugleich zu einem Mittel, sich von den Armen abzusondern. Ein reicher Mann kann nicht mehr daran denken, einen Armen zu Tische zu laden. Man muß es verstehen, eine Dame zu Tisch zu führen, sich zu verbeugen, schicklich dazusitzen, Messer und Gabel zu führen, den Mund auszuspülen— alles Dinge, welche nur die Reichen verstehen. Dasselbe ist mit der Kleidung der Fall. Wenn der reiche Mann gewöhnliche Kleidung tragen würde, die nur den Zweck hat. seinen Körper vor Kälte zu schützen— einen Pelz oder Halbpelz, Filz- oder Lederstiefel, Weste, Hose und Hemd— dann würde er nur sehr wenig brauchen, und er könnte sehr wohl, wenn er zwei Pelze besitzt, demjenigen einen abgeben, der keinen besitzt. Nun läßt sich aber der reiche Mann nur solche Kleidung anfertigen, die aus lauter besonderen Theilen besteht und nur zu besonderen Gelegenheiten getragen wird, für einen Armen also keinen Zweck hat. Er trägt Frack, Westen, Jackets, Lackstiefel, Schuhe mit ftanzösischen Absätzen, Jagdanzüge, Reiseanzüge u. f. w. Alle diese Kleidungsstücke können nur in jener von derArmuth abgeson- derten Sphäre der Reichen gebraucht werden, so daß also auch die Kleidung ein Mittel zur Absonderung der Reichen von den Armen bildet, eine Absonderung, die durch die stetig wechselnden Moden nur noch verstärkt wird. Noch deutlicher ist die Sache bei der Wohnung. Wer allein in zehn Zimmer leben will, muß sich so ein- richten, daß diejenigen es nicht sehen, die zu zehn in einem Zimmer wohnen. Je reicher ein Mensch ist, desto schwerer ist an ihn hinanzukommen, desto zahlreicher sind die Schweizer und Lakaien zwischen ihm und den Armen. desto unthunlicher ist es, einen armen Menschen über seine Teppiche zu führen und auf seine atlasbezogenen Sessel zu setzen. Aehnlich ist es mit den Reisemitteln. Ein Bauer, der auf seine Telega oder seinem Schlitten auf der Landstraße fährt, muß sehr hartherzig sein, wenn er einem Fußgänger, den er einholt, nicht einen Platz neben sich einräumt. Je vornehmer jedoch das Fuhrwerk ist, desto mehr schwindet die Möglichkeit, daß der Darauf- sitzende einen Andern einzusteigen bittet. Führt ja auch die elegante einsitzige Droschke bei uns den bezeichnenden Namen„Egoistin." Dasselbe ist der Fall mit all jenen Vorrichtungen unseres Lebens, die wir mit" dem Namen„Sauberkeit" umfassen. Die Sauberkeit! Wer kennt nicht Leute, insbesondere Frauen, welche sich diese Sauberkeit als eine hohe Tugend anrechnen, und wer kennt nicht alle die Einfälle und Erfindungen dieser Sauberkeitssieunde, die gar keine Grenzen kennen, wenn sie diese Sauberkeit durch fremde Arbeit erreichen können! Wer von denjenigen, die zum Reichthum gelangt sind, hat es nicht an sich selbst erfahren, mit welchem Aufwand von Mühe und Sorgfalt er sich enen Sauberkeit aneignen mußte, die nur das Sprichwort llustrirt, daß„weiße Händchen fremde Arbeit lieben?" Heute besteht die Sauberkeit darin, daß man jeden Tag sein Hemd wechsele, morgen darin, daß man es zweimal täglich wechsele. Heute hält man es für noth- wendig. Hals und Hände zu waschen, morgen nimmt man noch die Füße dazu, und übermorgen gilt es als unerläßlich, daß man sich täglich am ganzen Körper wasche und noch dazu besondere Abreibungen vornehme. Heute reicht ein Handtuch auf zwei Tage, morgen nur auf einen oder gar einen halben Tag. Heute genügt es. !)aß der Diener seine Hände sauber wäscht, morgen muß er saubere Handschuhe anziehen und die Briefe auf auberem Präsentierteller bringen. Und so hat hat sie eine Grenzen, diese überflüssige und unnütze Sauberkeit, und ihr Zweck besteht einzig darin, sich von den Andern abzusondern und den Verkehr mit ihnen unmöglich zu machen, alles natürlich nur vermittelst fremder Arbeit. Aber auch das, was man gemeinhin die Bildung nennt, erschien mir bei tieferem Eindringen in den Gegenstand in dem gleichen Lichte. Die Sprache lügt nicht. Sie benennt das, was die Leute unter einem Worte verstehen, wirklich mit diesem Worte. Unter Bildung versteht das Volk: modische Kleidung, gewandte Unterhaltung, reine Hände und jene oben gekennzeichnete Sauberkeit. Von einem Menschen, der diese Dinge besitzt, agt man zum Unterschied von andern Menschen, er sei ein gebildeter Mensch. In der nächst höheren gesellschaftlichen
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