Nr. 110.

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Dienstag, 12. August 1884.

I. Jabra

Berliner Volksblatt.

Brgan für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner Beitsblat

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Bur egyptischen Frage.

Die Londoner Konferenz, welche die egyptische Angele­genheit regeln sollte, kann als definitiv gescheitert betrachtet werden. Uns gewöhnlichen Sterblichen" ist es nicht vergönnt," in das Getriebe diplomatischer Fäden hinein zublicken, die in diefer Sache zusammenlaufen! Wir müssen die Frage offen lassen, ob England die Konferenz einbe­rufen hat mit dem Erwarten, daß sie scheitern würde, um in Egypten auf diesem Wege wieder freie Hand zu bekom­men, oder ob England wirklich eine Lösung der egyptischen Frage durch Zusammenwirkung der gesammten Mächte er­ftrebt hat. Der erstere Fall scheint uns bei der bekannten Per­fibie Albions der wahrscheinlichere zu sein, ohne daß man indessen dafür positive Beweise beizubringen im Stande wäre.

Die egyptischen Staatsschulden bewirken, daß das Land nur mit einem Defizit von jährlich 10 Millionen Francs berwaltet werden kann. England beantragte deshalb bei den Mächten, die sich für die Lösung der egyptischen Finanz­frage verbürgt haben, eine Binsen herabsehung; allein namentlich Frankreich wehrte sich dagegen und gab zu verstehen, wenn England sich, wie es scheine, doch nach und nach Egyptens ganz bemächtigen wolle, so möge es auch die volle finanzielle Garantie übernehmen.

mit einem

nicht so einfach. Wenn England in Egypten sich festsetzen, die zur Ordnung der Zustände nöthige Autorität gewinnen und sich behaupten will, so kann die suda= nesische Frage unmöglich ungelöst bleiben. Oberegypten muß gegen Einfälle gedeckt, Wort: der sudanesische Aufstand muß niedergeworfen werden. Allein es fragt sich denn doch, ob Herr Gladstone mit all feinen seinen Geldsäcken, Kriegsschiffen und Kanonen dazu im Stande sein wird. Wenn dies so leicht wäre, so würden die in den Hafenplägen am rothen Meer doch immerhin in nicht unbeträchtlicher Anzahl befindlichen englischen Truppen längst den Nil hinauf gerückt sein, um den schon egyptisch gewordenen General Gordon aus seiner Zwangslage zu erlösen. Daß Nichts derart geschehen ist, hat seinen guten Grund.

Wenn überhaupt von einem ,, Recht" bei diesem Kampfe die Rede sein tann, so ist auf Seite der Sudanesen zwar auch nicht alles, doch immerhin mehr Recht vorhanden, denn auf Seite der Engländer. Der Mahdi mit seinen fanati­auch nicht alles, doch immerhin mehr Recht vorhanden, denn auf Seite der Engländer. Der Mahdi mit seinen fanati­sirten und blutdürftigen Massen ist für den Europäer sicher­lich keine sympathische Erscheinung; allein seine Horden vertheidigen Haus und Hof und Heerd gegen einen fremden Eindringling. An dieser Thatsache läßt sich nicht rütteln. Die elenden inneren Zustände des Sudans Der Stand der Dinge von heute kann den englischen als einen Grund für das englische Annexionsrecht Englands Aerwelts- Staatsmännern feineswegs ganz angenehm sein. anzuführen, wäre die elendeste aller Sophistereien. Wenn Vielleicht bereuen sie, so schnell sich in das gefährliche Aben- heute die Engländer ein Recht auf den Sudan haben, so teuer eingelassen zu haben. Man würde vielleicht die ka hatten auch die Araber ein Recht auf Frankreich , als sie im nonenschüsse von Alexandrien gerne zurück- 8. Jahrhundert einen Eroberungskrieg dorthin unternahmen. nehmen, wenn man fönnte. Und was würden heute die Engländer von dem Recht" stark genug wäre, um mit einer großen Flotte nach Eng­irgend einer arabischen Völkerschaft meinen, wenn eine solche land zu segeln und dort John Bull im eigenen Hause anzu­greifen?

=

ten räumen, so würde dies in seinem Rücken den Sturm Zurück fann Herr Gladstone nicht. Wollte er Egyp­der leidenschaftlichsten Opposition entfesseln und sein Sturz Auch hat John Bull

die Kriegskosten noch nicht aus dem eroberten Lande wieder tenn sie es unterließe, die Staatskasse für ihre Auslage boll zu entschädigen! In diesen Fragen ist Niemand so roh materialistisch veranlagt, wie John Bull , erst wenn er auf seine Kosten mit Zinsen gekommen ist, fann er sich auch

den Lurus einiger Humanitätsphrafen gestatten.

stone müßte sich also entschließen, Egypten zu annektiren. Der gegenwärtige Bustand ist unhaltbar; Herr Glad­Ob sich dazu ein Recht nachweisen ließe oder nicht, kümmert die englischen Staatsmänner bekanntlich sehr wenig; wie sollte auch England zu seinem großen Kolonialbesitz gekom­

Wir wissen wohl, daß hochmögende" Diplomaten über

England damit einbrocken wird! Hoffentlich müssen die, welche einbrocken, auch das Ausessen allein besorgen!

Politische Uebersicht.

Zur Abrüstungsidee. Gegenwärtig tagt in Bern ein Friedenskongreß, an welchem hervorragende Männer aus allen Ländern sich betheiligen und welcher sich mit der Abrüstung, dieser Lebensfrage der wirthschaftlichen Bukunft Europas , be schäftigt. Bei dieser Angelegenheit sei an die Adresse erinnert, welche im Frühjahr 1867( zur Beit der Luremburger Affaire) die Pariser Studenten vorahnungsvoll an die deutschen Studenten richteten. Sie lautet:

,, Deutsche Brüder!

Der Horizont zeigt sich düster und drohend. Kriegslärm ertönt auf beiden Seiten des Rheins. Die Nationen schauen unruhig der Zukunft entgegen. Und doch, ist nicht die Zeit des Völkerhaffes vorüber? Fern seien von uns diese Ideen eines anderen Zeitalters; die Völker find groß nicht durch die Ausdehnung des Gebietes, das sie bewohnen, sondern durch die freien Institutionen, unter denen fie leben. Nicht die Aus­dehnung ihrer Grenzen, sondern die Ausdehnung ihrer Frei­heiten sollen Frankreich und Deutschland erstreben.

,, Kein beherzter Mann hat je den Krieg gefürchtet; jeder Biedermann soll ihn verabscheuen. Hassen wir den Krieg wegen der Trübsale, die er nach fich zieht, wegen des Despo­tismus, den er erzeugt!"- Geziemt es nicht den Studenten, diese großen Wahrheiten laut auszusprechen?" Wandeln wir nicht zusammen, deutsche Brüder, auf dieser fruchtbringenden Bahn?- Durch Euch, mit Euch führe der Frieden mit seinem Glanze von nun an die Nationen zum Wohlstande, zur Größe, zur Freiheit!"

Siebzehn Jahre sind seit jener Beit verflossen, ein blutiger den, wenn sie noch leben. Soll man an der Möglichkeit ver­Krieg hat Frankreich und Deutschland getrennt, und die jungen Studenten, welche dies damals schrieben, sind Männer gewor

zweifeln, daß ähnliche Gedanken wiederum bei Deutschen und Franzosen erwachen und zur besseren Ausführung kommen? Die Verneinung hieße an der Zukunft beider Völker ver­Völker der eisenstarrenden Rüstung müde werden und ihre wahren, höchsten Interessen erkennen.

Ein Revierförster ist in Schlesien zum Lokalschul­inspektor ernannt worden. Die Preuß. Lehrerztg." bemerkt hierzu: Wie leicht muß es doch sein, die amtliche Thätigkeit eines Lehrers zu beurtheilen. Hoffentlich macht dieselbe Re­

diese Anschauungen überlegen lächeln werden. Welche Illu- zweifeln. Einmal wird doch der Augenblick kommen, da die fionen, welche unpraktischen Anschauungen, werden sie denken, und sie werden sich wundern, daß man in dieser Zeit, wo die gebräuchliche Kriegsrüstung förmlich dazu drängt, die Waffengewalt als höchste Instanz anzurufen, eigen­finnig auf den Rechtsfragen beharren will. Allein wir wissen, daß auch andere Leute noch als wir denn doch hu­man genug denken, um das Recht der Kanonen nicht als die oberste Instanz der Weltgeschichte anzuerkennen, so oft es dieses Amt auch schon ufurpirt hat.

England hat freilich dagegen protestirt, daß es die

fümmert hätte? Das Recht" Englands auf Egypten liegt eines berühmten Diplomaten ist dieser Protest wahrscheinlich doch lengröße" ſeiner Geſchüße. Aber die Sache iſt dennoch negion Egyptens besteht. Wer weiß, welche Suppe ſich

Rachbruck verboten.]

201

Feuilleton.

Das Kind des Proletariers.

Sensationsroman von U. Rosen. ( Fortsetzung)

Myra wurde um die geringste Kleinigkeit zu Rathe ge zogen, welche die Kinder betraf, fie mußte die Farbe ihrer Kleider und ihren Lehrplan bestimmen, und nach und nach

Frau Betigrew in nichts weniger als rosenfarbener Stim mung, im Befiß von nur zwei Pence, und mit einem schweren Jungen auf dem Arme, dessen Vater, Herr Petigrew, fie treu­los und heimtüdisch verlassen hatte, glaubte ihren Augen nicht trauen zu dürfen, als sie unvermuthet ihren abtrünnigen Ge­mahl, ein junges Frauenzimmer am Arm, stolz einherschreiten sah, um seinen verrätherischen Hals eine goldene Kette, vor seiner breiten Brust eine bligende Diamantnadel. Das Herz der armen Frau schwoll vor Wuth und Kränkung. Es wäre eine Genugthuung gewesen, ihm auf der Stelle sein schänd­

der Geliebten,

Bibliothefzimmer ein, um den Unterricht unseres Aeltesten" die volle Schale ihres Bornes über den Schurken zu ergießen,

zu theilen.

Milly, ein allerliebstes fleines Wesen, wurde öfters von der Das jüngste Töchterchen Wrigley's , die kleine Kinderfrau im Barthschen Schloffe vergessen und blieb so fast beständig in der Nähe ihrer Cousine, und der Adoptivsohn

aber die Frau Petigrem war flüger. Sie verstand es, sich zu beherrschen und einen richtigeren Weg einzuschlagen, um Tony von seinem Unrecht zu überzeugen.

Tony wurde verhaftet und vor den Richter geführt, um

der Lady Bide, der kleine Sir Rupert, spielte mit ihr, führte fich zu verantworten, weshalb er Frau und Kind davongelaufen

Chocolade mit ihr und schlug fie, wenn er unartig war.

Bon all' den Kindern, die sich in dem Barthschen Schloß

überwiesen habe.

Frau Betigrew war vor dem Gerichtshof in ihrem arm­seligsten Kleide erschienen und bot einen fläglichen Gegensat zu dem aufgeputzten Gatten. Sie hielt ihr Kind auf dem Arm, das durch sein lautes, jämmerliches Schreien gleichfalls

umbertummelten, war Sir Rupert der einzige, welcher zu der Schloßherrin mit unbegrenzter Verehrung emporblickte. Der ernste Charakter Myra's, ihr gerader Sinn und ihr Muth, verbunden mit einer seltenen Milde und Herzensgüte, wider den Vater zeugte. machten einen tiefen Eindruck auf das empfängliche Gemüth

des Knaben, dem sie wie eine Heilige erschien, deren Lehren er

weit gewissenhafter befolgte, als die seiner Mama.

liche Mutter starb und Tony Petigrew entfloh.

Rupert war drei Jahr alt gewesen, als seine wirk

Sir

Bis

zu

des glänzend bezahlten geheimen Polizeiagenten Myra's, Tony

Rupert's fünftem Jabre waren alle Anstrengungen

zu entdecken, vergebens gewesen.

Es

Leben sagte seinen Neigungen am Besten zu. Er schloß sich war Bigeunerblut in dem Schurken. Ein wanderndes einem umherziehenden Menageriebefizer an, der ihm das unter geordnete Amt, die Thiere zu füttern, übertrug,

Der Richter blickte den Angeklagten strenge an. Was ist Ihre Beschäftigung?"

gierung nach der preußischen Devise: Gleiches Recht für Alle"

auch einmal einen Schulmeister zum Oberförster!" Wir ver stehen diesen Spott der Preuß. Lehrerzeitung" durchaus nicht. Die Geistlichen als Schulinspektoren find doch wahrlich viel­fach eine Zuchtruthe für die Schullehrer gewesen und wenn nun einmal ein Mann aus etwas niederem Stande", ein schlichter Förster, der am Ende mehr gesunden Menschenverstand befigt, wie zehn Geistliche zusammen, zur Inspektion berufen wird, dann bäumt sich der alberne Schulmeisterstolz auf, als ob ihm Unrecht geschehe. Der Vergleich mit dem Oberförster hinkt

Davon müssen Sie Ihrer Frau die Hälfte geben," ent­schied der Richter. Aber dann kann ich nicht auskommen," wendete Tony bittend ein. Ihre Frau fteht aus, als brauche fte das Geld nöthiger als Sie."

Herr Richter," sagte Frau Petigrow boshaft, er meint, es bleibe ihm nicht genug für das Weibsbild, mit dem ich ihn getroffen habe, hübsche Hüte und anderen Puß zu kaufen."

Ich willige ein, wieder mit meiner Frau zu leben, wenn Das fie glücklich machen kann," erklärte der liebenswürdige Petrigem.

Wollen Sie einen Schein unterzeichnen, in welchem Sie fich verpflichten, für Ihre Frau Sorge zu tragen und sie nicht der öffentlichen Mildthätigkeit zu überantworten?"

,,, ich unterzeichne Alles, was Sie befehlen, Herr Richter," sagte Tony vergnügt, meine Unterschrift ist jederzeit so gut vergnügt ,,, meine wie mein Wort."

Tony und seine Frau erhielten die Erlaubniß, sich zu entfernen; aber bei dem Hinausgehen aus dem Gerichtssaale fonnte Frau Betigrew fich nicht versagen, ihren geliebten Gatten zu verhöhnen und auszuschelten und er erlaubte fich, fie dafür auf der Stelle durchzuprügeln.

Die britische Gerechtigkeit hätte es nun wohl dulden fönnen, daß Petigrew seiner Frau blaue Flecken schlug, aber nicht, daß er es in den geweihten Räumen des Gesetzes und

" Ich habe in einer Biegelei gearbeitet," antwortete Tony des Rechtes selber that. Tony wurde zu zwanzig Schillingen ausweichend, aber sie ist niedergebrannt."

"

Eine niedergebrannte Ziegelei?"

" Ich war immer ein Pechvogel," versicherte Tony.] Warum erhalten Sie Ihre Frau nicht?"

" Ich habe eine schlimme Hand," sagte Tony, einen vers bundenen Finger emporhaltend.

,, D der Schuft!" schrie Frau Petigrew, fragen Sie ihn doch, Herr Richter, ob die Hand schon beinahe zwei Jahre schlimm ist. Solange ist es her, seit er mich verließ, fieben Monate, ehe dieses Kind geboren wurde. Krank und elend, wie ich war, hatte ich Niemand, der für mich und den Kleinen Wieviel können Sie die Woche verdienen?" fragte der

Richter Tony.

Zwei Jahre lang folgte Tonn seinem neuen Herrn durch allerlei Städte und Dörfer, aber unglücklicherweise für ihn ist London der Centralpunkt, der gelegentlich alles Leben der drei sorgte."" Königreiche aufsaugt. Tony freute sich, die Hauptstadt wieder zu sehen und an den Vergnügen theilzunehmen, die fie in reicher Auswahl Jedem bietet. In dem beglückenden Gefühl der wieder gewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit bewegte Tony. Lust ein unerwartetes Biel gesetzt wurde. er fich sorglos in dem Gewühl der Straßen umber, als seiner

Sieben Schillinge, wenn ich Glück habe," entgegnete Diese Antwort, mit dem Juwelenschmuck des Angeklagten vergleichend, brachen die Umstehenden in Lachen aus.

Strafe verurtheilt, und da er das Geld nicht besaß, ins Ge­fängniß geworfen.

Die Morgenblätter berichteten über diesen kleinen Zwischen­fall in Betigrews Leben.

Dr. Wrigley las die Geschichte und eilte, die Geldstrafe für Tony zu erlegen und den Vagabunden fortzubringen.

Myra Barth erkannte den Namen des Mannes, den sie brauchte und begab sich mit Dr. Mellodem nach dem Gerichts­hof, wo sie den eben befreiten Tony beschuldigte, etwas über den verschwundenen Sir Rupert zu wissen.

James Wrigley bemerkte Myra und ihren Anwalt und versteckte sich in einem Winkel des Saales, um Tony wegen dieser neuen Anklage vorgeführt zu sehen.

Obgleich Tony versicherte, ein ehrlicher Mann und ein fleißiger Mann und ein fleißiger Arbeiter und noch verschiede nes Andere zu sein, was nicht zur Sache gehörte, forderte der Gerichtshof doch von ihm die Erlegung von zweihundert Pfund als Bürgschaft, daß er sich stellen werde, sobald er eine Vor­