Nr. 112.
Donnerstag, 14. August 1884.
I. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
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Die Altersversorgung für Arbeiter.
Was wird aus diesem vielbesprochenen Projekt werden. Borläufig ist es davon ganz stille geworden und man hört auch nichts mehr von Vorarbeiten in diefer Angelegenheit. Die„ Kreuzzeitung ", die freilich kein offiziöses Organ mehr ist, sprach sich dieser Tage sogar dahin aus, die Frage ber Altersversorgung sei noch nicht spruchreif. Die deutichen Arbeiter werden darüber jedenfalls anderer Meinung fein; sie werden auf alle Fälle die Altersversorgung für wichtiger halten, als die Versicherung gegen Krankheiten und Unfälle.
Die Vertreter der Regierung haben sehr oft von der Altersversorgung für Arbeiter gesprochen, allein grundlegende Gedanken hat noch Niemand von jener Seite geäußert. An solchen scheint es in den Bureaux unferer sozialpolitischen Geheimräthe überhaupt zu fehlen. hat doch vor einigen Jahren ein württembergischer Journalist, dessen volks- und staatswirthschaftliche Kenntnisse noch Niemanden zu imponiren vermocht hatten, einen Entwurf einer staatlichen Altersversorgung für die Arbeiter veröffent licht, der kaum beachtet, von der„ Norddeutschen Allgemeinen Beitung" aber als höchst schäzbares Material" schleunigst aufgegriffen wurde. Diese geistige Anleihe" bewies uns, daß die ,, geistigen Fonds" bei jenem Blatte nicht besonders reich ausgestattet find.
Darnach ist ein Herr Franz Kretschmann auf dem Blan erschienen, der sich als„ tönigl. preußischer Regierungsrath und Direktor der oftpreußischen ländlichen Feuersozietät" bezeichnet, mit einem Buche, betitelt:„ Die Altersversorgung der Arbeiter in Deutschland ". Auch dies Buch ist wenig beachtet worden. Wir schließen daraus, daß wir es in dem Werte des Herrn Kretschmann mit feiner offiziösen Rundgebung zu thun haben. Wenn dem aber so wäre, wenn Herr Kretschmann im Auftrag spräche irgend welcher einflußreichen Kreise, so müßte man diesen einflußreichen Kreisen ganz offen erklären, daß sie doch die deutschen Arbeiter mit einem solchen Stück Sozialreform", wie sie die Altersversorgung nach Kretschmann darstellt, gefälligst verschonen
möchten.
Herr Kretschmann fritifirt zunächst die Mängel der Armenpflege, bie er in Ostpreußen fennen gelernt, und meint mit vollem Recht, daß, was diese leisten könne, gar nicht in Frage kommen dürfe. Im Regierungsbezirk Rönigsberg i. Pr. betrage z. B. die Unterstützung an Arme monatlich 3 Mt., alfo täglich 10 Pfennige. Das ist allerdings eine Unters fügung, die feiner Erörterung bedarf.
Dagegen macht ber Herr Regierungsrath den Vorschlag, ftaatliche Alterstaffen" zu errichten, welche die Arbeiter im Alter versorgen sollen. Und wie versorgen! Aus Feuilleton.
Radhornd verboten.]
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Das Kind des Proletariers.
Sensationsroman von U. Rosen.
( Fortsetzung)
Es giebt nur eine Sache, die nicht länger zu erdulden ift," sagte Myra, fich zornig erhebend, das ist Deine Unverfchämtheit, James. Nachdem Du Dich soweit vergessen hast, muß ich von Dir verlangen, Dich hier nicht wieder sehen zu
laffen."
Und ich sage Dir, ich werde hierherkommen, und ich werde sogar hier wohnen. Wenn Du mich nicht aus Liebe und Freundschaft anständig behandeln willst, so wirst Du es aus Furcht thun. Antworte mir! Was führte Dich in jener Nacht, da Fanny's Kind verschwand, zum Reservoir?"
und nicht das leisefte Bucken verrieth den Sturm in ihrem Myra richtete fich hoch auf, fie wantte und erbebte nicht Innern. So heftig fie selbst sich auch anklagte, von einem Anderen mochte sie kein Wort der Beschuldigung hinnehmen. Berlaß mein Haus," rief fie mit stolzer Geberde und
blidte Wrigley fest in's Auge oder ich werde nach dem Bedienten flingeln, daß er Dir den Weg weise!"
,, Aber Du warst in jener Nacht am Reservoir!"
" Beweise es!" rief Myra, Blige nach ihm schleudernd.
diesen Kassen sollen die Arbeiter vom 56- sten Jahre ab jährlich 108 Mark in monatlichen Beträgen von 9 Mark beziehen. Dies belegt Herr Kretschmann mit dem stolzen Namen„ Altersrente". Das wären also pro Tag 30 Pfg. und das nennt der Herr Regierungsrath eine Altersversorgung! Wirklich, ein sehr humaner Gedanke!
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Den Wittwen der Mitglieder der Alterskaffen soll vom 56- ften Lebensjahre ab eine Wittmenrente" von jährlich 72 Mart, in Monatsraten von 6 Mark also 20 Pfg. also 20 Pfg. ausgefolgt werden; fie müssen aber 10 Jahre pro Tag! verheirathet gewesen sein, sonst bekommen sie Nichts. Das wäre also die Verwirklichung des stolzen Wortes: Jeder Deutsche muß seine Altersrente haben!" Ach, wie machen es sich diese Herren Regierungsräthe so leicht!
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Diese famose Altersversorgung soll ermöglicht werden, indem jeder Arbeiter jährlich 3 Mark und jeder Arbeitgeber jährlich auch drei Mark zahlt. Herr Kretschmann ist also offen bestrebt, den Unternehmern nicht zu wehe zu thun. Dazu hätte das Reich, wenn die Beiträge vom achtzehnten Jahre an erhoben werden, etwa 35 Millionen Mark an jährlichen Zuschüssen zu liefern. Herr Kretschmann meint bann:
,, Dieser mäßige Betrag von 35 Millionen Mark genügt also, um 13%, Millionen Arbeitern und Arbeiterinnen, die mit ihren Angehörigen etwa die Hälfte der ganzen Nation ausmachen, von Anfang ihres 56- sten Jahres bis zu ihrem Tode
den nothbürftigen Unterhalt zu gewähren."
Aber welch ein ,, nothdürftiger Unterhalt", 108, resp. 72 Mark pro Jahr! Dabei soll Jemand, der sonst nichts hat und arbeitsunfähig ist, nicht verhungern, wenn er nicht betteln will. Obendrein giebt es Städte genug, die durch Stiftungen und dergl. ihren Ortsarmen mehr gewähren fönnen, als die Versorgung nach dem Muster des Herrn Kretschmann.
Die Verwaltung will der Herr Regierungsrath gänzlich bureaukratisch organisirt haben. Natürlich!
Dieser Vorschlag ist eine Stümperei, deren Ausführung an der Sachlage nichts ändern würde.
Herr Kretschmann ahnt Einwürfe und sagt, man fönne den Arbeitern nicht mehr Laften auferlegen; daher könne man auch feine höhere Altersrente zahlen.
Sehr wohl; deshalb hätte man bestrebt sein müssen, durch Einführung des Normalarbeitstages, der Einschränkung der Frauen- und Beseitigung der Kinderarbeit die Löhne der Arbeiter zu steigern und der Arbeitslosigkeit zu steuern; bann konnten die Arbeiter auch höhere Beiträge leisten und die Herren Unternehmer, die so glücklich sind, den Arbeitern auch fast die ganze Last der Unfallversicherung aufgewälzt zu haben, müßten bei der Altersversorgung entsprechend start
Das ist meine Sache nicht," entgegnete Myra kurz. ,, Aber aber ich fann es bestreiten, fann es widerlegen nur würde die Anklage, der Prozeß meine Wahl verhindern." Nach meiner Ansicht solltest Du überhaupt nicht gewählt werden."
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Sft es nicht thöricht von uns, Myra, mit einander zu streiten? Ich vergaß mich, ich sprach übereilt."
Aber ich sprach mit Ueberlegung und wohlbedacht." " Doch unter dem Eindruck eines Mißverständnisses," fuhr Wrigley fort. Laß uns nicht weiter darüber reden." Wir dürfen nicht Feinde sein und wenn Du mir die fünf- oder sechstausend Pfund nicht leihen kannst oder willst, werde ich die zweitausend, die Du mir aus freien Stücken anboteft, gewiß mit herzlichem Dant annehmen. Du nimmst Dein Wort nicht zurück, denke ich, Myra."
Nein, ich halte mein Anerbieten aufrecht."
" Ich gebe natürlich jeden Gedanken an eine Anklage, eine Beschuldigung gegen Dich auf und bitte Dich, meine vorhin in der Aufwallung gethanen Aeußerungen nicht zu beachten. Und was jene andere fleine Angelegenheit betrifft, über welche Du Dich vollständig im Frrthum befindest-"
Myra zog ihre Stirn in Falten und zuckte die Achseln herausfordernd.
Verzeih' mir, Myra," bat er.
" Es ist gut, ich werde Dir eine Anweisung auf die zweitausend Pfund zuschicken."
Von Stund' an haßten sich die beiden mehr als je. Die
den Knaben, den Lady Bide adoptirte jener Kindermörderin
Und gleichzeitig erklären," sagte Myra falt ,,, weshalb Du Nothwendigkeit, Rupert aus dem Wege zu räumen, schien
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bergeben haft. Das haben wir herausgebracht!"
Wrigley die Wirkung der Giftblüthe des Upasbaumes. Er Diese Blume aus dem Garten von Myra's Rede übte auf
frümmte sich und taumelte zurüd.
., Was meinst Du damit," feuchte er.
wandt."
,, Genau das, was ich sage. Wir haben dieses Schwert feit fechs Jahren über Deinem Haupte schweben sehen, aber Du hast Familie fund bist unglücklicher Weise mit mir verIn dieser gefährlichen Unterredung schritt die Frau fühn zum Angriff und der Mann wich feige zurück. Da der Schulbige aber immer ein Feigling ist und der Feigling immer das Thörichfte thut, rief Wrigley , dieser Regel folgend, angftvoll
aus:
Wrigley dringender als zuvor. Er durfte nicht in Myra's. Nähe leben, denn leicht konnte ihr der Zufall verrathen, daß der Knabe, den sie so unermüdlich suchte, ein täglicher Gast in ihrem Hause war. Außerdem hatte er von dem Besuche, den Frau Chitton bei Lady Bide gemacht, erfahren.
Er schickte nach Petigrew, der sich ganz einem Landstreicherleben ergeben hatte.
Wenn Du Dich des Kindes der Lady Bide bemächtigst, es nach Amerika oder Australien mitnimmst und es dort irgendwo verlierst, laufe ich Dir eine Schaubude mit allem Bu behör und
Ich laffe mich auf ein so gefährliches Unternehmen, wie Kinderraub, nicht mehr ein." Ich werde Dich fürstlich dafür belohnen." Nein, mein Herr! Ich liebe mein Vaterland, aber Sie
Wenn Du das erwähnst, bin ich zu Grunde gerichtet!" könnten mir dafür bezahlen, daß ich ihm den Rücken febre.
belastet werden. Auch der Staatszuschuß könnte bedeutend stärker sein. Aber das wollen die sozialpolitischen Geheimräthe so wenig, wie Herr Ackermann, so wenig wie Herr Windthorst und so wenig wie Herr Richter. Und daran liegt's eben.
Ueber die Vorgänge in England
finden wir in der deutschen Presse verschiedene irrige Meinungen. Man redet von einem gewaltigen Konflikt zwischen Unterhaus und Volk einer- und Oberhaus andererseits. Ein Konflikt ist da, doch ist er weder gewaltig noch spielt er zwischen dem englischen Volt und dem aristokratischen Oberhaus. Blicken wir doch auf die Ursache zurüd. Um sein. Fiasko in der auswärtigen Politik, namentlich in der egyptis schen Frage, zu verhüllen, und seine schadhaft gewordene Po pularität wieder aufzufrischen, brachte Herr Gladstone eine Reformbill ein, welche für die Graffchaften daffelbe erweiterte Wahlrecht einführen soll, welches für die Städte bereits seit
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drei Jahrzehnten und zwar in Folge einer von dem Tory Ausdehnung des Wahlrechts haben nun die Konservativen nicht Disraeli durchgesetzten Maßregel in Kraft ist. Gegen diese
das Mindeste einzuwenden, denn sie wissen eben so gut wie die Liberalen und Whigs, daß fie absolut bedeutungslos ist, so lange nicht eine anderweitige Vertheilung der Wahlkreise damit verbunden wird.
In England, oder sagen wir richtiger in Großbritannien , besteht nämlich feine Vertretung nach der Kopfzahl; das Recht ,. Abgeordnete in das Parlament zu schicken, haftet an dem Drt, und zwar ohne Berücksichtigung der Bevölkerung, so daß die Zahl der Vertreter fich auch nicht annähernd nach der Zahl ringe, dünn bevölkerte eine unverhältnißmäßig große Vertre der Bevölkerung richtet, und stark bevölkerte Distrikte eine ge tung im Parlament haben. Nach dem jeßigen Syſtem fann die herrschende Partei bei einer Neueintheilung der Wahlkreise mit Leichtigkeit sich die Majorität der Size fichern, und ihre Gegner in eine hoffnungslose Minorität bringen. Auch wir Deutsche wiffen ja von Wahlkreisgeometrie" zu erzählen und bei uns kann fie, weil die Vertretung nach der Kopfzahl we nigstens prinzipiell feststeht, im Vergleiche mit England nur in sehr bescheidenem Umfanye geübt werden.
von Unter solchen Umständen ist es Seiten der Konservativen ein ganz berechtigtes Verlangen, daß fie Die Frage der Ausdehnung des Wahlrechts für die Grafschaften von der Frage der Neueintheilung der Wahlfreise nicht trennen, und über erstere ein entscheidendes Votum nicht eher abgeben wollen, als bis sie wissen, was die Regierung in Bezug auf die lettere für Absichten hat. In England ist die Wahlreform bisher regelmäßig von der gerade am Ruder befindlichen Partei auf's Schamloseste zu ParteiSonderzwecken ausgedeutet worden und, wohlgemerkt, von den Liberalen( Wighs) noch weit mehr als von den Konservativen; und daß die Tories sich auf die Anständigkeit und Noblesse des Herrn Gladstone, d. h. des unzuverlässigsten und zugleich eines der unstrupulösesten der lebenden Politiker, nicht
Ich liebe meinen Beruf als Wärter in einer Thierschaubude, mit der ich von Ort zu Drt wandere, aber auch das könnten Sie mir ablaufen. Aber Herr! Mehr als Alles liebe ich Mein meinen Charakter," sagte Petigrew mit Pathos. Charakter ist mir nicht feil. Ich will alles Andere für Sie thun und hingeben, nur den kann ich Ihnen nicht opfern. Was ist ein Mensch ohne Charakter! Er ist ein Schiff ohne Ruder, ein Haus ohne Grund, eine Börse ohne Geld, Bier ohne Hopfen Herr!"
Willst Du endlich mit Deinem unsinnigen Geschwäs aufhören. Du hast nie mehr als eine Spur von Charakter beseffen, die man erst mit dem Mikroscop suchen mußte. Warum willst Du Dich von diesem geringen Rest nicht auch trennen?"
,, Mit dem Charakter geht es eben wie mit dem Gelde, Herr. Je weniger wir davon haben desto ängstlicher hüten wir das, was uns davon übrig geblieben ist."
12. Kapitel.
Dr. Wrigley erhielt einen Siz im Parlament und war dadurch nur tiefer in Schulden gerathen.
Der Titel und die parlamentarische Stellung boten keine ungemischten Freuden. Baronet zu sein und im obersten Rath der Nation zu fißen und in Clematis- Villa zu wohnen, keinen eigenen Wagen und nur zwei Mädchen und einen Laufburschen zur Bedienung halten zu können, waren schwere Unzuträglichfeiten.
Seit ihr Gatte Parlamentsmitglied war, fühlte Frau Wrigley das Bedürfniß, kostspieligere Hüte zu tragen und große Gesellschaften zu geben.
Die Knaben fanden, daß fie mehr Taschengeld und die Mädchen, daß fie schönere Kleider haben müßten.
Aber zu Alledem fehlte das Geld. Frau Wrigley wen dete sich an Myra. Sie flehte fie an, ihr und den Ihrigen den östlichen Flügel des Schloffes zu überlassen.
Wir hätten dann Raum zu Abendgesellschaften, Fräulein Barth und Ihre Dienerschaft weiß bei dergleichen Bescheid, während ich nichts, gar nichts davon verstehe," sagte sie. Und Sie sollten uns auch den Gebrauch Ihrer Wagen ge ftatten. Es wäre für James gegenwärtige Stellung sehr förderlich, wenn wir mit Livreebedienten ausfahren könnten. Ohne Ihre Hilfe ist es uns unmöglich, standesgemäß zu leben."
Ich widerrieth Shrem Gatten, einen Rang zu erstreben,