Nr. 125.

Freitag, 29. August 1884.

I. Jabrg.

Berliner   Volksblaff.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Das Berliner   Bellsblatt

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--

,, Das Kind des Proletariers" aus der Feder von U. Rosen soweit der Vorrath reicht gegen Vorzeigung der Abonnementsquittung in der Expe­bition Zimmerstraße 44 gratis verabfolgt.

Deutsche   und amerikanische   Schutzölle.

Bon freihändlerischer Seite hat man gegen die Schuß sollpolitik, die gerade seit Einführung der Zoll- und Wirth­schaftsreform in Deutschland   so tolossal zunehmende Aus­wanderung angeführt.

Dagegen antwortet man nun von schutzöllnerischer Seite, die meisten Auswanderer gehen nach Nord- Amerika  , wo das Schutzzollfystem in viel höherem Maße herrscht, als in Deutſchland  . Die Schutzölle könnten also nicht an der Auswanderung Schuld fein.

Und darin haben die Schutzöllner recht.

Wenn fie aber weiter folgern, die Vereinigten Staaten find deshalb so reich, weil sie das Schutzzollsystem haben, und wenn Deutschland   sein Schutzzollsystem erst richtig aus­gebildet habe, dann wird es eben so reich sein, wie die Ver­nigten Staaten von Nordamerika  , so haben die Schutzöll­

ner unrecht.

Die Wirkung der Zölle, wie überhaupt der Steuern, ist in den verschiedenen Ländern eine verschiedene. Ein Land fann bei einem Zoll- und Steuersystem zu Grunde gehen, während ein anderes Land bei demselben Zoll- und Steuer­fyftem vortrefflich gedeiht. Dies erklärt sich daraus, daß es weit weniger auf die Art der Erhebung, als auf die Verwendung der Steuern ankommt.

Wir find prinzipielle Gegner der indirekten Steuern, führte aber die deutsche Reichsregierung eine progressive Einkommensteuer, anerkanntermaßen die gerechteste aller Steuern, ein und schaffte alle übrigen Staats- und Ge­meindesteuern ab, so würde Deutschland   doch nicht gedeihen

in Glück und Wohlstand, falls die Steuern wie bisher fast ausschließlich zu unproduttiven Zweden verwandt würden. Was Deutschland   schädigt, sind nicht die Steuern selbst, sondern deren Verwendung. Gäbe das deutsche Reich anstatt 400 Millionen für Militär- und Marinezwecke 1000 Millionen für Zwecke der Volksbildung, der Volks­wohlfahrt und für Hebung der Kultur aus, so würde es die Last spielend tragen und einen Aufschwung nehmen in jeder Hinsicht, von dem sich jetzt selbst der größte Optimist nichts träumen läßt.

In Amerifa lenkt das Volk selbst seine Geschicke; es hat sich die hohen Finanzzölle aufgelegt, weil es seine Schul­ben los sein will. Es verwendet die Hölle und Steuern in feinem eigenen Interesse; dieselben kommen nicht einer fo­genannten Interessengruppe, sondern der Allgemeinheit zu

Gute.

In Deutschland   hat das Volf über die Verwendung der Reichssteuern wenig zu bestimmen. In Folge der Macht losigkeit des Reichstages ist bessen Steuerbewilligungsrecht ein Wort ohne praktische Bedeutung, besonders seit der Zeit, als der Reichstag   selbst den Militäretat von sieben zu fieben Jahre im Voraus festgesezt hat.

Die Herren Schußzöllner haben also durchaus keinen Grund aus den amerikanischen   Steuerverhältnissen die Be­

den, erst schaffen, dann kann man auf das amerikanische  Steuersystem mit einer gewissen Berechtigung hinweisen, dann auch würde das deutsche Volt mit Vergnügen amerikanische Zölle und Steuern bezahlen.

Afterpatriotismus.

Unter dieser Ueberschrift macht die Hamburger Bürger zeitung" folgende beachtenswerthe Betrachtungen:

Es ist eine ganz auffallende Erscheinung, daß der Deutsche  , seitdem er im Völfergewühl wieder zu einer politischen Macht­ftellung gelangt ist, ungemeine Empfindlichkeit an den Tag legt, auch viel schwächeren Völkern oder Staaten ge­

genüber.

Was haben unsere Zeitungen ein Lamento davon gemacht, als bei dem Nationalfest zu Baris einige politische Gassen­jungen eine deutsche Flagge herunter riffsen und einen deutschen etwas wunderlichen Doktor durchprügelten! Nachdem schon längst, und zwar freiwillig, die französische Regierung diesers halb um Entschuldigung gebeten hatte, stroßte ein Theil unserer Bresse noch immer von Schmähungen gegen Frant reich.

Und jest wieder bei der Verhaftung zweier französischer Offiziere bei Koblenz  ! Dieselben sollten Festungspläne gezeich net haben im Auftrage des französischen   Kriegsministers. Da gingen gleich die nationalen" Wogen hoch in der Preffe. Dies halb ängstliche, halb empfindliche, halb chauvinistische Geschrei flingt uns noch in den Ohren. Die französischen  Offiziere aber wurden sofort wieder entlassen und entpuppten fich als harmlose Spaziergänger.

-

Was dem französischen   Minister wohl an einem Festungss plan von Koblenz   gelegen sein wird? Außerdem haben in Roblenz 1870/71 eine größere Anzahl französischer Offiziere fich frei bewegen können, welche sicher die Aufnahme, wenn sie ge­wünscht sein sollte, ausgeführt haben. Die Festungen spielen

diejenigen nicht, welche keine Armee, wie Mes und Paris  , be­herbergen können. Doch das nur nebenbei.

Nachdem die Franzosen nunmehr in Ruhe gelassen und von der deutschen Presse nicht mehr wegen der angeführten Lappalien mit allen möglichen und unmöglichen Schmeichel namen belegt werden, wendet diese sich einem andern Objekt

welchen Trumpf auszuspielen, wenn sie uns sagen, Deutsch   zu. Da find plöslich die seefahrenden Engländer unsere Schutzöll- stätigung ihrer Theorien zu schöpfen. Sie glauben Wunder, land zahlt weniger Steuern als Amerika  .

Deutschland   ist erstens gar nicht reich genug, um so hohe Bölle zu bezahlen, wie Amerika  , und zweitens würde die Wirkung eine andere sein.

fentlich Finanzaölle Die amerikanischen   Zölle find gleich den deutschen   we also Steuern. Sie sind meist erst

-

Die Herren vergessen eben, daß die vereinigten Staaten von Nordamerika  , bei weitem größere Steuerkraft besigen und daß dieser Reichthum zum großen Theile daher rührt, daß die Steuern lediglich im Interesse von Culturbestrebungen

während des Bürgerkrieges und nach demselben auferlegt verwendet werden. worden, um die Staatsschuld tilgen zu können. amerikanische Industrie bedarf in ihren Haupt­

Die

Möge man in Deutschland   ähnliche Zustände( wir meinen hier nicht die paar Auswüchse in der dortigen

Todfeinde geworden.

Wenn dies allein aus der Ländergier der Briten   ges folgert würde, die unseren Kolonialbestrebungen feinen Raum gewähren wollen, so hätten die Anhänger deutscher überseeischer Kolonieen wohl Recht, unmuthig zu ſein; aber fte brauchen doch nicht sofort mit chauvinistischen Drohungen und Schimpf worten auf den Plan zu treten. In einem einzigen Leitartifel eines tonservativen Blattes, der sich gegen England wendet, finden wir folgende Ausdrücke: ,, englischer Unfug", heuchlerischer Vorwand", das Auftreten Englands gegen uns

branchen feines Schußes gegen das Ausland mehr, sie ist| Gesellschaft, sondern die ganze Volks- und Staats ist gehässig und schäbig"," Anmaßung der Beefstealeffer", jekt schon so entwickelt, daß sie die ausländische Industrie entwidelung) wie sie in Amerika   herrschen, die durch

auf dem Weltmarkt erfolgreich bekämpfen kann."

Nachbruc verboten.]

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Feuilleton.

Das Kind des Proletariers.

Sensationsroman von U. Rosen.

( Forthegung)

ben deutschen Voltscharakter natürlich vielfach gemildert wür­

Mittagsmahl erwartete die Leidtragenden und Alle schienen einen guten Appetit dazu mitgebracht zu haben, nur Rupert vermochte nicht einen Bissen zu essen. Er saß einsam und unbeachtet an dem unteren Ende der Tafel während die übrige Gesellschaft ihre gute Laune und ihre Heiterkeit vollständig wiedergefunden hatte.

Nach Tische begaben sich die Versammelten in das große Empfangszimmer, wo die Vorlesung des Testaments vor sich

Jedermann fannte deffen Inhalt bereits. Rupert wußte, daß für seine Zukunft gesorgt war, aber das vermochte ihm feinen Trost zu bieten.

Liebe und Heirath zu ihr, aber es waren rauhe, mißtönende gehen sollte. Arme lleine Milly! Zum ersten Male sprach man von niemals berührt, aber das Leben ihrer Gönnerin zeigte eine ganz andere Auffaffung, als die von ihrem Vater entwidelte. Niemand zweifelte daran, daß Rupert der Erbe seiner

Adoptiomutter fei.

Sch habe vor einigen Jahren das Testament der ver torbenen Lady Bide aufgesett," sagte Dr. Mellodew zu Lord

Bide.

,, Sie hat ihr Vermögen ihrem Adoptivsohn vermacht." ,, Das vermuthe ich," erwiderte Lord Bide. Die Sache ist von feiner Bedeutung, doch wirft dieses Vermächtniß ihres

Dr. Mellodew zog einen großen Briefumschlag aus seiner Tasche.

Ich habe hier die legtwilligen Verfügungen, das Testas ment der verstorbenen Lady Bide," begann er würdevoll, bas ich nach ihrem Diktat niedergeschrieben und seit jener Zeit in meinem Amtszimmer aufbewahrt habe. Die Beugen, die das mals anwesend waren, find hier zugegen".

Er öffnete den Briefumschlag und faltete einen mächtigen

Eigenthums an einen Fremden, außerhalb der Familie stehen- Bogen auseinander. Langsam erweiterten fich seine Augen.

den, einen bösen Schein auf fte".

Seine Lippen zuckten. Sein Geficht wurde leichenblaß und die Stimme versagte ihm.

Statt des Testaments hielt er einen Brief in der Hand, einen Brief Lady Bides an Nupert.

"

ftimmte ihre Bücher Fräulein Barth, ihr Sevreporzellan ihrer ,, Sie ſegte einige Legate für ihre Dienerschaft aus, bes ältesten Tochter, und das Glasgeschirr ihrer Frau Gemahlin. Ihre Juwelen und Spigen sollen für Ruperts fünftige Gat tin aufbewahrt werden. Ich erinnere mich aller Einzelheiten ich nicht mehr bin 2c. 2c." ganz genau. Das Testament befindet sich in meinem Amts­zimmer, ich werde es hierher bringen und es nach dem Leichen­

begräbniß verlesen."

Gut," ſagte Lord Bide kühl. Und wer find die Testa­mentsvollstreder, die Vormünder und so weiter?"

Ich bin zum Testamentsvollstreder, Sie und Fräulein Barth find zu Bormündern ernannt, mit der Klaufel, daß Rupert im Barth'schen Hause leben soll."

"

Mein theure: Sohn? Du wirst diese Zeilen lesen, wenn Meine Herrschaften, bier ift ein Mißgriff geschehen, eine Berwechselung, stammelte Mellodew. Das ist nicht das das Testament. Ein anderes Papier ist irrthümlicherweise in diesen Briefumschlag gesteckt worden. Wo aber ist das Teftament geblieben?

"

Wenn fein Testament vorgefunden werden sollte," er­Klärte Lord Bide, muß selbstverständlich angenommen wer den, daß meine Tante ohne legtwillige und rechtskräftige Vers fügung gestorben ist und das ganze Vermögen fällt der Fa­

milie zu.

Um so beffer," antwortete Lord Bide grimmig. Das Leichenbegängniß fand endlich statt. Die Mitglieder der Familie Bide wurden feit undent­lichen Zeiten in der Gruft einer Dorffirche beigefeßt, die auf Gunften Rupert's." dem Grund und Boden der Bides stand, aber einige Meilen

Dom Schloffe entfernt war.

11

Aber Mylord, fie machte ganz bestimmt ein Testament zu So möge es vorgelegt werden," entgegnete Lord

Bide steif.

Das Schloß und die Papiere der Lady Bide müssen den," sagte Dr. Mellodem in Verzweiflung.

Seite ihres Gatten, des ihr so lange im Tode vorausgegangenen forgfältigst untersucht werden. Das Schriftstück muß sich fin­

gehalten, dann fehrte man nach dem Schloffe zurück. Ein

das progige England", seine Politik macht den Eindruck der Verachtung". Nur einen Wiß macht das Blatt dann bei

21. Kapitel.

Obgleich Frau Petigrem auf dem Fißroy'schen Gute wohnte, war der Mittelpunkt ihres Intereffes doch Bide­hall. Für die ehemalige, an lange und mühselige Wande rungen gewöhnte Landstreicherin war die Entfernung zwischen den beiden Befizgungen nur eine Kleinigkeit und sie war bald ein häufiger Gast in Bide- Hall. Wie Tony dem Dr. Wrig ley versichert hatte, war das Genie seiner Frau wunderbar vielseitig. Während sie die schmuzigste und großmäuligste aller hauftrenden Korbhändlerinnen gewesen war, erschien ste in Bide sanber gewaschen und mit sorgfältig geordnetem Haar, in einem tadellos reinen Anzug und einer niedlichen weißen Haube. Sie war fräftig und geschickt und verstand sich in furzer Zeit durch ihren Diensteifer und ihre Anstelligkeit bei der Haushälterin, der Köchin und der Wäscherin in Bide- Hall beliebt zu machen, welche ihr die verschiedensten Beschäftigungen übertrugen.

So geschah es, daß unmittelbar nach dem Eintreffen der Nachricht von der Ueberführung der Leiche Lady Bide's in ihre Heimath, Frau Petigrew in das Schloß berufen wurde, um zu helfen.

Oben in den Zimmern der Herrschaft drückten die Familien­mitglieder ihr Staunen und Verwunderung über das Abhan denkommen des Testaments aus und die seltsamsten Ver­muthungen wurden ausgesprochen, aber niemand ahnte, daß unten im Dienstbotenzimmer diese Fremde vor Erwartung und Aufregung über denselben Gegenstand zitterte. Kein Auge war schärfer, lein Dhr aufmerksamer, als das Frau Petigrew's; fte schien allgegenwärtig zu sein und in allen Theilen des Hauses zu gleicher Zeit Arbeit zu finden.

Während des ernsten Schweigens, das sich Aller be­mächtigt hatte, nachdem Dr. Mellodem bemerkt, das Papier in seiner Hand sei nicht das Testament, reichte er Rupert den Brief.

Die kleine Gesellschaft in dem Empfangssaal trennte sich und Rupert zog sich fast instinktiv auf seinen Plaz zurüd, der ein Lieblingsfit feiner Adoptiomutter war. Diefer Sig befand sich in einer Fenstervertiefung, die von dem Bibliothet zimmer durch schwere seidene Verhänge getrennt war. Hier warf fich Rupert auf ein Sopha und den Brief an seine Lippen drückend, las er ihn wieder und wieder. Er dachte an alles das, was er in diefer großmüthigen Frau verloren hatte, er erinnerte fich ihrer zärtlichen Liebe und Fürsorge für ihn und bereute bitter ihr durch seine findische Flucht Kummer