Nr. 135.

Mittwoch, 10. September 1884.

I. Jahrg.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Interessen der Arbeiter.

Dal ,, Berliner Boltsblatt

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Redaktion und Expedition Berlin SW., Zimmerstraße 44.

Nationalliberale Aussichten.

H

Mit dem auf drei nationalliberalen Parteitagen so pomphaft angekündigten glänzenden Aufschwung" bieser Partei ist es, wie wir gleich vorausgesagt, Nichts ge­worden, und wer sich den Gang der Dinge mit einigem Verständniß ansieht, der überzeugt sich, daß auch ferner Nichts damit werden wird. Das Vertrauen zu Herrn von Bennigsen seint noch nicht wieder erwachen zu wollen, denn sonst müßten dem allgemein gefeierten edlen Patrio­ten" die Kandidaturen" zu Duzenden angeboten werden. Man hört aber von solchen Offerten gar nichts und dieser Tage haben sogar die Nationalliberalen des Dortmunder Wahlkreises dem Staatsmann im Schmollwinkel zu Hanno­ber eine Art Mißtrauensvotum ausgestellt. Sie wollten nach Dortmund einen der beliebten nationalliberalen Parteitage" berufen und Herrn von Bennigfen dazu ein­laben, beschlossen aber davon abzusehen, so lange sich Herr von Bennigsen nicht erklärt habe, ob er wieder ein Mandat annehmen werde. Das ist deutlich. Su gleicher Zeit er­Härt Herr Dr. Buhl, der Macher der nationalliberen Kund­

fönne.

"

ichten" ein Mandat zum Reichstage nicht mehr annehmen tonne. Gesundheitsrücksichten" ist die gewöhnliche und schon vielbelächelte Ausrede entwertheter Politiker. Dagegen wer den

in München von allen Seiten Kandidaturen angetragen und der Bürgermeister Fischer von Augsburg reist seit Wochen in Wahlkreis Ulm umher, um Wahlreden zu halten

dort den Wählern die angenehme Aussicht zu machen, daß

Staatsmänner, welche die ,, Heidelbergerei" einfädelten, so naiv ge­wesen, zu glauben, daß das Bibelwort: ,, Liebet eure Feinde!" eine Richtschnur für ultramontane à la Windthorst abgeben könne? Man fann es freilich den Ultramontanen nicht verdenken, daß fie den Kulturkampf noch nicht vergessen haben. Sie find für die ausgestandenen Verfolgungen zwar überreichlich be­lohnt worden, allein sie haben es eben noch zu hübsch im Gedächtniß, wie sehr die Nationalliberalen einst ihre Macht ausgenügt haben und sie schicken sich an, nunmehr das Gleiche zu thun.

befunden, wie jetzt die nationalliberale. Aus ihrer parlamen Selten hat sich eine Partei in solch unangenehmer Lage tarischen Position geworfen, von ihren hervorragendsten Führern verlassen, sucht die Partei Schutz und Unterstüßung bei einer Regierung, die ihrer nicht mehr bedarf und die ihren Bemüh­ungen mit derfelben Geringschäßigkeit zusieht, wie der Mann im besten Alter den schmachtenden Koketterien einer verliebten aber verlebten und abgelebten Schönen. Umsonst hat der Nationalliberalismus sich mit seiner ganzen Vergangenheit in Widerspruch gesetzt und die ihm so widerstrebenden sozial­

politischen Tendenzen der Regierung acceptirt; umsonst hat

er sich den veralteten Anschauungen der Konservativen anbe Regierung zu erwerben, sich selbst mit dem Ultramontanis­quemt. Er hätte, nur um ein gnädiges Wohlgefallen der

seinem Tobfeind, vertragen; da aber schallt ihm aus

Amberg das unerbittliche Quod non! des alten Fuchses Windt­ohnehin auf wadeligen Füßen steht, wird nach diesem Pro­horst, entgegen. horst, entgegen. Die ultramontan- konservative Allianz, die nunciamento den Nationalliberalismus, so realtionär er fich als Dritten in den Bund aufnehmen, das

Der Nationalliberalismus wird und muß zu Grunde gehen, das ist, wie man sieht, im Rathe der Götter beschlossen.

Politische Uebersicht.

Eine direkte Fälschung begeht das Blatt des Herrn Mosse, indem es schreibt:

,, Aus der neuesten Nummer der ,, Politischen Wochen­schrift" erfährt man, daß die sozialdemokrati­schen Abgeordneten seit Jahren die liberalen Abgeordneten ausgehorcht und jede ihrer Aeußerungen sorgfältig notirt haben, um fte zu gelegener Zeit gegen den einen und anderen Abgeordneten zu verwenden. Das haben diejenigen Leute gethan, welche nicht oft und nicht laut genug ihren Ab­Scheu gegen Alles, was Spionage heißt, bekräftigen konn ten! Sie haben sich selbst zu Spionen gemacht! Wenigstens versichert es die Politische Wochenschrift" des Herrn Viere, der es als hervorragendes Mitglied der sozialdemokratischen Partei doch wohl wissen muß."

Nun ist aber das Blatt des Herrn Mosse naiv genug, Diese Fälschung selbst einzugestehen, indem es den be treffenden Baffus der Politischen Wochenschrift" gleich unter den obigen Satz stellt. Dieser Paffus lautet:

Wir( das ist der Schreiber des Artikels in der Pol. Wochenschrift") wollen hier nicht die Indiskretion begehen, dasjenige auszuframen, was wir uns- aus psychologischem Interesse an den Vorkommnissen natürlich! im Laufe der Jahre aus den Ge sprächen notirt haben, die verschiedene mehr oder minder hervorragende Parlamentarier im Foyer des Reichstags, in der Fraktion Müller", im Eisenbahn­waggon und sonstigen Begegnungspläßen mit Mitglie dern der sozialdemokratischen Fraktion geführt haben. Bei diesen Gesprächen, die mit den Vorgängen im Sigungssaale oft in denkbar drastischer Weise kontra­firten, find häufig genug Aeußerungen gefallen, die auf gleicher Stufe mit den Rickert untergelegten Wendungen stehen."

Also nicht die sozial- demokratischen Abgeordneten haben, wie aus der Politischen Wochenschrift" hervorgeht, sich die

gang des Nationalliberalismus ein ungemein tröstliches Zeichen. Artikelschreiber der Bolitischen Wochenschrift, hat das not,

Sie zeigt uns, daß die Selbstständigkeit im Volksbewußtsein vor­geschritten ist. Das Volk verlangt heute Rechenschaft von den Barteien; es bulbet nicht mehr, daß die Grund­

binden, sondern immer mit der Regierung gehen werde. Hier steht nunmehr fest. liebäugelt der Nationalliberalismus mit den Freisinnigen, bort mit den Konservativen. Man sieht, diese Partei ist desorganisirt, ihr innerer Zusammenhalt ist aus den Fugen gegangen und die noch übrig gebliebenen Führer, die die geeigneten Leute, um diese Schäden zu heilen. Der Ver­man nur die verzweiflungsvolle Hartnäckigkeit bedauern fann, mit welcher die nationalliberalen Führer die alberne Mähr faglosigkeit triumphirt. fun ber und Bureaufrater den Mund noch so sehr voll nehmen von dem glänzenden Bei allebem, und in dieser jammervollen Lage ist noch Aufschwung" des Nationalliberalismus, die Masse des Boltes kehrt ihnen doch den Rücken und damit sind sie gerichtet. Die Wahlen werden hoffentlich dieser Partei den fakti­Heidelbergerei" selbst schon gegeben.

eine Kriegserklärung gegen die nationalliberale Partei er­gangen, die in ihren Wirkungen einem wohlgezielten Dolch floße gleicht. Herr Windthorst hat diese Gelegenheit schen Todesstoß geben. Den moralischen hat sie sich mit der Amberg zu erklären, daß seine Partei die Nationalliberalen abgewartet, um auf dem Parteitage der Ultramontanen zu ohne Gnade befämpfen werde. Sind die nationalliberalen Feuilleton.

Radbrnd verboten.]

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Das Kind des Proletariers.

Sensationsroman von U. Rosen.

( Fortsetzung)

Als die Gräfin wieder zu sich fam, war sie allein. Sie lag zu Tode erschöpft da und beobachtete das langsam vers schwindende Licht durch die Ladenausschnitte. Es war schon lange ganz finster, als Frau Betigrew mit ihrem Theebrett und einem kleinen Tischchen zurückkehrte. Die Gräfin war so schwach, daß fie fich faum bewegen konnte.

boshaftes Geschöpf, gefühlloses Ungeheuer! Wo ist mein Nicht ohne ihre Mutter! Führen Sie mich zu ihr, Betigrew besorgt, und effen Sie nur einen Biffen und

Kind

,, nädige Frau, wollen Sie nicht etwas effen?"

,, Kommen Sie, kommen Sie, gnädige Frau," bat Frau trinken Sie eine Taffee Thee. Sie werden Ihre Tochter schon wieder sehen. Und Sie thun ihr nichts Gutes, wenn Sie versuchen, Hungers zu sterben. Sie müssen essen, sonst werden Sie zu schwach sein fortzugehen, wenn man Ihnen diese Thür öffnen wird. Kommen Sie, trinken Sie eine

Mutter von ihrem Kinde trennen, wird Sie der schwerste Fluch Rein, ich fann nicht. Weib, Weib, wenn Sie eine des Allmächtigen treffen. Befigen Sie denn gar keine Mensch Taffe Thee." lichfeit, gar fein Erbarmen? Fürchten Sie denn nicht den Born des Himmels über Ihren Frevel? Haben Sie keine Kinder? Haben Sie gar kein Gefühl?"

nicht, ob ich mich so um ihn grämen fönnte. Ich halte es recht a wohl, ich habe ein Kind, einen Sohn, aber ich weiß gut ohne ihn aus und zum Gefühl bin ich niemals erzogen worden, das ist nur für reiche und vornehme Leute, nicht für

getrennt

Schügen."

Leide gethan habe!" Richt? Und Sie haben mich doch von meiner Tochter Die junge Dame ist alt genug, um fich selbst zu zu bringen? War es Rupert Barth?" Sagen Sie mir, Elende, wer befahl Ihnen, uns hierher Meinen Sie den, der früher bei Lady Bide war?"

a, ja; war er es?" Rein, er war es nicht. Wo ist er?"

mich zu meiner Tochter führen." würde ich Ihnen jeden Dienst dafür erwiesen haben, wenn Sie Sehen Sie, gnädige Frau," seufzte Frau Petigrew ,,, einft mir gefagt hätten, wo der junge Herr zu finden ist. Aber ich babe tein Glück gehabt und jetzt ist es mir gleichgiltig, wo er ift. Mein Vortheil verlangt es, daß ich Denen gehorche, die mich hierher gebracht haben. So viel ist gewiß, es wird weder

Ich will es Shnen fagen, wenn Sie mich hinauslassen, oder

geldbeben.

Die Gräfin war bereit zu gehorchen, als ihr einfiel, daß fie vergiftet werden könnte. Sie saß auf dem Ruhebett, das fleine Tischchen stand vor ihr. Argwöhnisch betrachtete ste ihre Gefangenwärterin.

Wollen Sie nicht eine Taffe von diesem Thee trinken?" fragte fie. Sie meinen, ich wolle Sie vers Frau Petigrew lachte. giften. Wenn es weiter nichts ift, was Ihr Gemüth bedrückt, follen Sie bald zufrieden sein. Da schenken Sie mir eine Taffe Thee ein und geben Sie mir recht viel Zucker dazu, Und da ist ein Ei. Mit und welches Brödchen sie wollen. einem Ei tann man doch nicht vergiftet werden. Sagen Sie nur, was Sie gern effen. Ich foche Ihnen Alles, was ich im Hause auftreiben kann. Ich mag nicht, daß Sie frant werden, denn ich liebe es nicht, Kranke zu pflegen."

Die Gräfin trant den Thee, und da sie selbst einsah, wie wenig fie ihrer Tochter damit diente, wenn sie fich Speise und Trank versagte, fie etwas von dem für sie bereiteten Abendbrot.

" Frau," sagte fte wieder, ich weiß, ich habe Ihnen niemals etwas Böses gethan, warum find fie meine erbitterte Feindin? Geben Sie mir meine Freiheit wieder, bringen Sie mir meine Tochter, und führen Sie uns auf den Weg nach London . Sehen Sie, hier ist meine Uhr, sie ist mit Diamanten besetzt, und auch dieser Ring ist sehr werthvoll. Ich gebe Ihren Beides, und wenn Sie mir einen Drf bes zeichnen, wo wir uns treffen können, gebe ich Ihnen noch hundert Pfund und mein Ehrenwort darauf, daß Sie nicht

Frau Betigrer hob fie auf, leerte ein Glas Waffer über weiter belästigt, daß keine verfängliche Frage an Sie gestellt

ihr Geficht, nahm ihr Theebrett auf und verschwand. Die Gräfin schwankte plöglich und fant ohnmächtig nieder.

werden soll."

-

notirt, was ihm von derartigen Gesprächen zu Ohren gekommen ist. Ob dies hübsch ist, fann man billigerweise bezweifeln, da es fich doch jedenfalls und zwar in doppelter Hinsicht lediglich um Privatgespräche gehandelt hat, die vor jeglicher Jndis­fretion ficher sein sollten. Wäre es übrigens so wie das Blatt des Herrn Mosse behauptet, daß die Politische Wochen schrift" die sozialdemokratischen Abgeordneten beschuldigt hätte, liberale Abgeordnete ausgehorcht und die Aeußerungen der felben notirt zu haben, dann find wir der festen Ueberzeugung, daß längst schon seitens der sozial- demokratischen Abgeordneten ein en ergischer Protest dagegen erhoben worden wäre. -Aber so beruht die ganze Heulmeierei des Blattes des Herrn Moffe lediglich auf einer direkten Fälschung, die allerdings wohl nicht aus Bosheit gemacht sein dürfte. Männiglich ist ja bekannt, daß die Redaktion des Blattes des Herrn Moffe

Frau Petigrew blickte verlangend auf die Schmuckgegen­ftände. Für Unsereins ist wenig Aussicht so etwas zu Gelde zu machen," erwiderte fte. Wir werden des Diebstahls beschul­digt, und die Pfandleiher und Trödler wollen und fast gar nichts dafür geben."

,, Gut, aber das Geld, die hundert Pfund. Ich will Ihnen sogar zweihundert Pfund bewilligen, und Sie dürfen nur be­stimmen, von wo Sie es innerhalb einer Woche abholen wollen, wenn Sie mich und meine Tochter freigeben."

"

Aber gnädige Frau, wo wollen Sie das Geld herbe­tommen? Ich habe gehört, daß Sie Ihr ganzes Vermögen verloren haben?"

Sch fann es mir verschaffen; Fräulein Barth wird es mir mit Bergnügen geben," rief fie, von ihrem Eifer fortges riffen, unvorsichtiger Weise aus.

Der bloße Name Barth, der für Frau Petigrew die Ge­rechtigkeit selbst verkörperte, genügte, um ihr das volle Bewußt­sein des Verbrechens wachzurufen, an dem sie sich betheiligte. Gefängnißstrafe oder Bwangsarbeit für Lebenszeit mochte für fie aus der Befreiung der Gräfin folgen.

Frau Petigrew handelte niemals ehrlich, und Wort­halten war ihr ein unverständlicher Begriff, und deshalb Sie fraute sie auch den Versprechungen Anderer niemals. zögerte und überlegte nicht mehr, sondern wich entschieden

zurüd.

Es ist unmöglich," sagte fie. Ich habe nichts damit zu schaffen und gehorche nur dem empfangenen Auftrag. Mich geht die Sache nichts an, und ich prüfe nicht, was Recht oder Ünrecht ist."

Sie nahm ihr Licht und eilte aus dem Zimmer.

Die Gräfin sant auf ihr Ruhebett zurück. Trotz der barschen Abweisung bewahrte sie die Hoffnung, ihre grimme Gefängnißwärterin bestechen zu können, und sie begann zu erwägen, wie fie das anstellen sollte. Sie fühlte sich un fäglich matt. Das Abendessen hatte Schläfrigkeit bei ihr ber­vorgerufen, der fie nicht lange zu widerstehen vermochte, nach wenigen Minuten verfiel fte in einen fieberhaften Schlummer.

Frau Betigrew fand fte am nächsten Morgen noch schlafend, aber leise ächzend und fich unruhig auf ihrem Lager hin- und herwerfend. Sie weckte die Unglückliche nicht, aber sie berich­fete Tony, daß die Gräfin offenbar schwer erkrankt set, und ihnen wahrscheinlich unter der Hand sterben werde. Die Sachen