Beilage zum Berliner Volksblatt. Mr. 156. Mittwoch, den 8. Inli 1885. II. Jahrg. Das englische Slaubuch über die ArdeUerwohuuugssrage. Max Schippel  . I. Es ist bekannt, welch' eine allgemeine Erregung der Ge- milther vor einigen Jahren das Erscheinen desSchmer, ensschrei der ausgcstoßenen Londons  " in England hervorrief. Die Flug- schrift der Congregational Union   war eine Tendenzarbeit, aber eine Tendenzarbeit im besten Sinne des rrvrr.es: mit einer reichen Unterlage genau unters'-chtcr und wohlbeglaubigter Thatsachm, und sie konnte daher einer nachhaltigen Wirkung nicht verfehlen. Philanthropen und Politiker, alle Kreise des privaten und öffentlichen Lebens wandten ihre Aufmerksamkeit der Wohnungsfrage zu gehörte es doch eine Zeit lang zum guten Ton, daß die aristokratischen Damen des Westendes in die Slrmenviertel wie zu einer großen Schaustellung gingen und das Ergebniß der rasch m Fluß kommenden Bewegung war die Einsetzung einer königlichenKommission zur Unter- suchung der Wohnungen der arbeitenden Klassen". Zu Anfang der 1884er Session stellte Lord Salisbury   einen dahinzielenden Antrag im Oberhause, der einstimmige Annahme fand' der Prinz von Wales,der kurz vorher einige der ärmsten Stadt- thcile Londons   besucht hatte," sprach vor den Lords selber zu Gunsten des Antrages, und die Regierung beeilte sich, dem geäußerten Wunsche zu entsprechen. Der Kommission gehörten außer denr Prinzen von Wales an: Sir Charles Dilkc als Präsident, ferner Kardinal Manning, Lord Browlow, Lord Carrington, Sir Richard Croß, nach dem dieArbeitenvohnungsverbesserungs-Gesetze"(Aniz&nH D Wel­lings Improverr.enr. Acts) von 1875, 1879 und 1882 ihren Namen führen, Sir George tzarriffon, Lord Provost von Edinburgh  , Lord Salisbury  , Dr. Walsbam How, Unterbischof von Bedford, Mr. Lyulph Stanlep, Mr. Dwyer Gray, Mr. Torrens, Mr. Broadhurst, der bekannte Gewerkvereinsfübrer, der zugleich dem Unterhäuse angehört, Mr. Jcsse Collings, Mr. George Godwin, Mr. Goschen und Mr. Samuel Morley. Der erste Bericht dieser Kommission, welcher die Berhältniffe in England und Wales behandelt, ist nunmehr erschienen, und die ganze Leidensgeschichte der Entwickelung der industrw städtischen Wohnungszustände findet hierin wieder einmal eine eingehende und düstere Darstellung. Wieder einmal, denn man glaube nicht, daß England bisher von ähnlichen Zu- ständen nichts gewußt habe; frühere Untersuchungen haben ähnliche Schäden aufgedeckt, aber Gesetzgebung und Verwaltung und private Bemühungen waren zu schwach, um sie zu beseitigen. Der sich immer er- neuernde Strom des Elends ist über alle fmher errichteten Schutzdämme hinwcggcfloffen, und England steht heute wie vor einem Mcnschenalter vor dem gleichen Problem, das noch oft die Gestalt wechseln mag, aber das, wie ein Schatten, nicht von Englands Seite verschwinden wird, als bis das Prolcta- riat in i einer heutigen Gestalt überhaupt verschwunden ist. In der äußerltchen Beschaffenheit der Ärbeiterhäuser, in ihrer baulichen Anlage, ihrer Wasserversorgung, ihrer Schleusen- und Abtrittseinrichtungen mag sich seit dreißig Jahren Vieles geändert und verbessert haben, aber dafür hat sich eine um so schlimmere Ueberfüllung der Zimmer eingestellt,schlimmer als ft jemals gewesen war," wie Lord ShasieSbury, der bekannte örderer der Arbeitcrfchutzgesetzgebung urtheilte. Diese Meinung wurde von anderen Zeugen bestätigt, welche die Verhältnisse in den verschiedensten Theilen Londons   aus langjähriger An- schauung genau kannten. m Dre Thatsachen, welche uns über die zentralen Viertel Londons  , denen wir unsere Aufmerksamkeit ganz besonders widmeten, berichtet wurden, unterstützen die Aeußerung eines Zeugen, daß in dem Theil von St. Pankras, der südlich von Euston Road liegt, die Ueberfüllung einfach deshalb ntcht zugenommen habe, weil eine größere Ucber- füllung überhaupt nicht denkbar sei. Die zusammen- getragenen Thatsachen zeigen unwiderleglich, wie weit das Ein- Zimmersystem in den Familien verbreitet ist, und wenn ein Gerstucher aus dem Zentrum Londons   bemerkte, daß in seinem Distrikt rm Durchschnitt fünf Familien auf fechs Zimmer kämen, l'ßiw £} Cll P Äus den Mysterien des Uchilismus. Sie war vor einigen Jahren in der russischen Haupt- stadt aufgetaucht und hatte bald die Aufmerksamkeit der vor- nehmen Lebewelt auf sich gelenkt. In einer Stadt, die an auffallenden, an originellen, an blendenden Schönheiten keinen Mangel hat, erregte sie dennoch nicht geringes Aufsehen. Wenn sie in offenem Schlitten über den Newski Prospekt  fuhr, wenn sie im Theater erschien, richteten sich die Blicke selbst der verwöhntesten und blasirtesten Kavaliere auf sie, und in der Plauderecke der aristokratischen Klubs, wie an der Table d'hote der Offizierkasinos und auf den Bällen der haute volöe bildete sie den Gegenstand von zahlreichen Unterhaltungen, die in jenem oberflächlichen, immer stark frivolen Tone geführt wurden, der den St. Petersburger Salongesprächen eigen ist. Ihre Schönheit war allerdings von einer Art, daß sie Jeden, der sie sah, bezaubern mußte. Ueber dieses zart und edel geschnittene Gesicht war eine Anmuth, eine Lieblichkeit verbreitet, die einen Jeden bei dem ersten Anblick bestechen mußte; große, dunkelblaue, sanfte Augen sahen den Beschauer mit einem Ausdruck voll un­gekünstelter Güte und Natürlichkeit an und gewannen eine erhöhte Wirkung durch die selten weiße und merkwürdig zarte Haut, sowie durch das in üppiger Fülle das verfüh- rerische Gesicht umrahmende, goldig schimmernde blonde Haar. Verführerisch, so war wohl die ganze Erscheinung, doch nicht in der Bedeutung, daß sie sinnlich erregt hätte; im Gegentheil, der Hauch von halber Kindlichkeit, von ungetrübter Ursprünglichkeit, der über ihr lag, ließ keine» unlauteren Gedanken aufkommen, und wenn ein solcher entstand, so mußte er weichen. Vera Pawlowna brachte einen durchaus keinen Eindruck hervor, und wenn je einmal ein Kecker sich mehr erlaubte, als die gewöhnliche Galan- terie zuläßt, so wies ihn die junge Dame, welche die Zwanzig nur um wenig überschritten haben mochte, sehr entschieden in die gebührenden Schranken zurück. Wer war Vera Pawlowna und welches Leben führte sie? Ueber Beides wußte man nicht viel. Sie war noch nnvermählt und mußte über bedeutende Geldmittel verfügen, denn sie hatte in einem eleganten kleinen Hotel in einer der stilleren, feinen Straßen in der Nähe des Newski eine luxu- riös möblirte Wohnung inne, hielt eine Kammerjungfer und einen Diener, entfaltete einen beträchtlichen Toilettenluxus so wird diese Schätzung für gewisse Viertel eher zu günstig als übertrieben genannt werden müssen." In Clerkenwell, am St. Helenenplatz, enthielt ein HauS sechs Zimmer und zugleich sechs Familien, acht Personen kamen auf ein Zimmer. Am Wilmtngtonplatz Nr. 1 waren eilf Familien in elf Zimmem, fieben Personen in jedem Raum. In Northampton Court wohnten zwölf Personen in einem zweizimmerigen Haus, acht Personen in dem einen Zimmer; in Northampton Street wohnten in einem Falle gar neun Personen m dem gleichen einen Raum. In Bowling Green Lane fand man sechs Per- fönen in einem Kellerloch. In Tilney Court in St. Lucas wohnten in einem Zimmer, 10 Fuß lang und 8 Fuß breit, neun Angehörige einer Familie, fünf davon waren erwachsen. In Lion Row schliefen tn einem Zimmer von nur 7 Fuß Höhe fieben Personen. Ein Haus in Half Moon Court hatte drei Räume, darin hausten 19 Personen, 3 Erwachsene und 11 Kinder und ein Zeuge, der in derUmgebung genau bekannt war, meinte, das Haus sei kaum überfüllt zu nennen; in Robin Hood   Uard, Holborn, wohnten in einem Zimmer zwölf Personen. In Derry Street fand man ein Zimmer von einer Familie von neun Personen besetzt, dieselben hatten ein einziges Bett. Aehnlich in anderen Bezirken Londons  . In Spitalfields besaß ein Haus neun Zimmer, auf jedes Zimmer kamen fieben Ein- wohner, aber nur ein Bett! Die Verhältnisse in den Provinzstädten waren sehr ver- schieden und im Ganzen weniger ungünstig als in den ärmeren Vierteln Londons  , aber daß das Uebel der Wohnungsüber- füllung nicht auf London   beschränkt ist, zeigen folgende Bei- spiele. In Bristol   fand man öfter in einem Zimmer acht f ersonen, darunter Vater und Mutter und erwachsene Kinder. n Rewcastle-on-Tyne wohnten in Blenheim Street 140 Fa- Milien in 34 Häusern, deren jedes vier Zimmer über der Erde und zwei Keller hatte. In Alnwick   bewohnten in einem Falle 32 Personen, darunter 17 Erwachsene, fünf Zimmer, in einem Falle schliefen fünf Erwachsene und mehrere Kinder in einem Raum. In Camborne in Cornwall  , wo hauptsächtlich Berg- leute wohnen, kommt es vor, daß sieben, acht, neun, ja sogar zehn und elf Personen in demselben Zimmer essen und schlafen. Diese Beispiele beweisen, daß bisweilen die schlimmsten Formen des Hebels in den kleineren Zentren der Bevölkerung auftreten." Die Wirkungen des Einzimmcrsystems schildert Lord Shaftesbury   als die allernachtheiligsten in physischer und moralischer Beziehung.Einmal führt das Einzimmersystem, soviel ich gesehen habe, immer auch zu dem Einbettsystem. Wenn man die einzelnen Räume besucht, so findet man zwar bisweilen zwei Betten, aber im Allgemeinen liegt in einem Bette gewöhnlich die ganze Familie, die aus Vater, Mutter und Sohn, oder aus Vater und Töchtem, oder aus Brüdern und Schwestern besteht. Man kann sich die Folgen nicht schlimm genug denken; alle Wohlthatcn der Erziehung werden hiedurch zu ntchtc. Es ist noch ein wahrer Segen, daß die Kinder des TagS über in der Schule und nicht zu Hause sind." Mr. Marchant Williams sagte folgendes aus:Ich besuchte ein Haus und fragte die Frau, wie viel Zimmer ihr gehörten; sie antwortete: zwei. Dann fragte ich nach der Familien- zahl. Sie erwiderte: wir sind zehn oder elf.Wie viele Betten?" Zwei Betten.Sie schlafen doch mit Ihrem Manne in dem einen?" Ja, mit noch zwei oder drei von den jüngeren Kindern. Nun waren aber noch ein Sohn und eine Tochter da, etwa im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren. Zucke ich dann mit den Achseln, so heißt es wohl: Ja, meine Tochter, oder meine Töchter, kommen Nachts öfter nicht nach Hause, sie schlafen nicht immer Hier. Sie sind Prostituirte und werden von ihren Eltern zur Prostitution an­gehalten." In vielen Fällen, wo erwachsene Söhne und Töchter rn demselben Räume schlafen, werden oft noch fremde Schlaf- burschcn und Schlafmädchen aufgenommen. Man mag sich hiernach eine Vorstellung der Szenen machen, welche sich in solchen Wohnungen abspielen und abspielen müssen, und welche Verwilderung bei einer derartigen täglichen Umgebung zu er- warten steht.' Trotzdem versichert uns der Bericht, daßder Stand der Sittlichkeit unter den Bewohnem dieser übervölkerten Quartiere ein höherer ist als man annehmen sollte." Viele der heute überfüllten Gebäude waren ursprünglich und hatte eine Miethsequipage engagirt, in der sie beinahe täglich Ausfahrten unternahm. Gesprächsweise hatte sie ver- lauten lassen, daß sie die Tochter eines reichen Grundbesitzers in dem südlichen Rußland  , und nach dem Tode ihres Vaters die Mutter hatte sie in frühester Jugend verloren, und nach erlangter Volljährigkeit nach der Residenz gekom­men sei, um, völlig allein dastehend und unabhängig, nach Gefallen zu leben. Solche Angaben wären anderswo vielleicht mit ungläubigem Lächeln aufgenommen, in St. Petersburg   fand man nichts Außerordentliches daran. Mehr als in irgend einer andern Hauptstadt Euro- i pa's Paris   ausgenommen giebt es dort weib- liche Abenteurer und Industrie- Ritter, große Damen der Halbwelt, kurz zweideutige Existenzen von dunkler Her- kunft und nicht ganz klaren Erwerbsquellen. Daneben aber begegnet man auch Damen, und zwar jungen und schönen Damen, von unanfechtbarer Haltung, die aus einer bizarren Laune, oder durch die Verhältnisse einfach darauf hingeführt und von den freieren Sitten der Gesellschaft unterstützt, eine Einzelstellung einnehmen, sich frei in der Gesellschaft bewegen und mitunter sogar ein Haus machen, von der Gesellschaft nicht allein geduldet, sondern in aller Form zugelassen und akkreditirt. Dieser Kategorie nun wurde Vera Pawlowna zugezählt, und sie beschäftigte bald um so weniger die Jetmesse doröe, als sie der Skandalchronik auch nicht den mindesten Stoff darbot. Abgesehen von ihren Ausfahrten, bei denen man sie stets ohne Begleitung sah, von ihrem Erscheinen in Theatern und Konzerten, führte das schöne und sympathische Mädchen ein durchaus einge- zogenes Leben. Niemals sah man sie auf Soireen und Bällen, weder öffentlichen noch privaten: Annäherungen, die von unternehmenden Vertretern der lebelustigen Herren- weit gemacht worden waren, hatte sie in einer Weise zu- rückgewiesen, daß eine Wiederholung nicht versucht wurde; Einladungen, die sie von unbekannten Verehrern erhielt, hatte sie unbeachtet gelassen, und das Gerücht, welches den Ruf alleinstehender junger Damen nicht zu schonen pflegt, mußte an ihr vorübergehen. Ihr Ruf blieb unversehrt, und da sie der geschwätzigen Fama keinen Anhalt bot und jeder näheren Berührung, wie es schien, absichtlich auswich, so konnte es am Ende nicht ausbleiben, daß man ste immer weniger beachtete und immer seltener von ihr sprach. Aber die Welt täuschte sich. Vera Pawlowna war mit nur für eine vielleicht besser sttuirte Familie bestimmt und find erst später in Abtheilungen vermiether worden, womöglich erst dann, wenn ihr baulicher Zustand beits anfing, bedenklich zu werden. Die Verhältnisse in solchen Häusern sind gewöhnlich keine günstigen, weil alle Einrichtungen nicht für mehrere Familien berechnet waren, z. B. sehr oft nur ein Äasserausfluß und ein Abtritt für die ganze Bewohnerschaft vorhanden ist. Aber auch andere Arbeiterhäuser zeigen die schwersten Mängel in ihrer Anlage und Einrichtung. In Clerkenwell kommt es vor, daß nicht mehr als ein Kloset für sechszehn Häuser ausreichen muß. In einer Straße in Westminster war überhaupt ein einziger Abtritt zu finden, während in jedem Hause 30 bis 40 Personen wohnen* der eine Abtritt stand noch dazu immer offen und wurde auch von den Vorübergehenden benützt. Aus anderen Theilen Londons   kamen ähnliche Berichte, so daß ein Äbtritt für ein mehrfach bewohntes Haus noch gar nicht ungünstig erscheint. In St. Lukas kommen Klosets im Keller vor, schmutzig und stinkend und dicht neben der Wasserleitung; in derselben Ge- meinde findet man Klosets oft während ganzer Monate ver­stopft und überfließend. In manchen Theilen der Weltstadt werden die Abtritte von Obdachlosen gar als Schlafstätten benützt. Dasselbe gilt bekanntlich auch von den Treppengängen. Die Thüren nach der Straße zu, wenn überhaupt Thüren da sind, werden kaum jemals in manchen Häusern der ärmsten Viertel geschlossen. Die Folge ist, daß Stiegen und Fluren vielfach von Leuten belegt sind, die keine Unterkunft haben, wo sie schlafen." Dieser Gebrauch ist so verbreitet, daß in den schlechtesten Theilen Londons   ein eigener Spitzname('»PP? dossers) für diese Pennbrüder existirt. Verbaute, finstere und ungesunde Höfe find ebenfalls in London   und der Provinz keine Seltenheit, und auch Keller- Wohnungen der schlimmsten Art sind trotz alles scharfen gesetzlichen Vorgehens noch lange nicht verschwunden. In St. Pankras wurde ein Keller beschrieben, dessen Decke noch unter dem Niveau der Straße lag, der nur 6'/- Fuß hoch und doch von neun Personen bewohnt war. In Whitechapcl wurde konstatirt, daß, wenn ein Gesundheitsinspektor die Leute aus einem Keller vertrieb, sie gewöhnlich in einen anderen Keller gingen, während ihre alte Wohnung ebenfalls nicht leer blieb. In der Nähe von Grosvenor Square befinden sich feuchte und ganz finstere und ventilationslose Kellerwohnungen, in denen die Bewohner beständig kränkeln. In Rewkastle-on-Tyne find bewohnte Keller sehr zahlreich; in einer ausgedehnten Gemeinde, meist aus Arbeitem bestehend, waren sämmtliche Kcllerräum- lichkeitcn ohne Ausnahme als Wohnungen vermiethet,und ihr Zustand ist der Gesundheit höchst schädlich". Viele Hausbesitzer nehmen keinerlei Reparatur oder Ver- bessemng an ihren Häusern vor.In Southwark verfallen die Häuser förmlich, einige hatten Sprünge und Löcher in den Mauern, daß ein Mann hindurchschlüpfen konnte.' In Liverpool  , wo große Reformen durchgeführt worden sind, wo aber trotzdem die Sterblichkeit noch immer eine sehr hohe ist, waren manche Häuser im letzten Stadium des Zerfalles. In den Fenstem waren keine Scheiben mehr, wenige Dächer waren regendicht, an den Wänden wimmelte es von Insekten. Bisweilen zerbröckelten die Wände und schwitzten einen grünen Schleim aus." Leider sind auch die Neubauten oft von An- fang an nichts nütze.Die alten Häuser sind hinfällig von der Zeit und durch Nachlässigkeit, die neuen Häuser sangen gleich so an, wie die alten aufhören, sie sind baufällig vom ersten Tage an." In all' den Arbeitervierteln ist die Sterblichkeit eine be- dauernswerth hohe. In einem Distrikt von St. Pankras er- reichte im Jahre 1882 die Sterblichkeitsrate die unglaubliche Höhe von 70,1 pro Mille, in Wellington Square 53,7, in Derry   Street 44,4 pro Mille, in den besten Theilen Londons  kommt sie über 10 pro Mille nicht hinaus. In Liverpool  sollen in einen. Fünftel der schmutzigen Häuser der überfüllte- sten Viertel die ansteckenden Krankheiten niemals auslöschen. Welche Gefahren birgtein solcher Zustand, und wie sehr müssen sich diese Gefahren noch steigern, wenn es, wie in London  , an Leichenhäusern fehlt und die Leichen, vielleicht acht oder zehn Tage, in demselben einen Zimmer liegen, in dem die ganze Familie locht, ißt und schläft! nichten der weibliche Sonderling mit einsiedlerischen und männerfeindlichen Neigungen, für die man sie hielt. Sie brachte auch keineswegs ihre Tage mit süßem Nichtsthun, mit Lektüre und Toilettemachen zu. Sie führte eine ausge- dehnte Korrespondenz, die seltsamerweise nicht durch die Post vermittelt wurde. Boten, die sehr eilfertig und geräuschlos die Treppen auf- und abhuschten, brachten ihr häusig volu- minöse Briefschaften, während die junge Dame ihre eigenen Episteln durch den Diener austragen ließ oder gar selbst mitnahm. Hätte man sie auf ihren Ausfahrten verfolgt, so hätte man oft die Wahrnehmung machen können, daß sie in einer entlegenen Straße ausstieg und den Kutscher nach Hause fahren hieß, worauf sie dann tiefverschleiert sich zu Fuß entfernte und nach mancherlei Kreuz- und Ouerzügen und mehrmaligem Umsichblicken bald hier bald dort in einem Gebäude verschwand. Hätte man sie jedoch des Abends ver- folgt, so würde man oft noch größeren Grund zur Verwun- derung gehabt haben. Tief in den Mantel gehüllt, das Haupt mit der Kapuze bedeckt, das Gesicht unter dem Schleier ver« borgen, so eilte Vera Pawlowna beflügelten Fußes durch die Straßen. Dann trat sie in ein Haus, bald im Zentrum der Stadt, bald an der äußersten Peripherie derselben, durchschritt düstere Höfe und enge Gänge, erstieg hohe Treppen und klopfte in geheimnißvoller Weise, wie nach einem verabredeten Modus, an die Thür, worauf ihr geöffnet wurde und die junge Dame sich in einem Kreise von jungen Männern mit kühnen, trotzigen Gesichtern sah, von denen sie mit freudigem Zuruf begrüßt wurde. Was das zu bedeuten hatte? Eine sehr einfache Sache: Vera Pawlowna, das liebreizende junge Mädchen mit den dunkelblauen Kinderauqen war Nihilistin. Ja, sie war Nihilistin  . Und mehr, sie war eine leiden- schaftliche, unermüdlich thätige, vor nichts zurückschreckende Vorkämpserin der revolutionären Armee. Kein Plan war ihr zu kühn, kein Unternehmen zu schwierig, es gab kein Opfer, das zu bringen sie nicht unverzüglich bereit war. Und wie wußte sie zu reden, zu entflammen, hinzureißen und zu begeistern! Wenn sie inmitten ihrer Genossen und Genossinnen das Wort ergriff, um mit merkwürdiger Klar- heit und Präzision einen neuen Plan zu entwickeln, oder die Gefährten anzufeuern, so schien sie wie umgewandelt. Ihr sonst so sanftes Gesicht nahm einen düstern, herben Aus- druck an, die unschuldsvollen Veilchenaugen schoflen Blitze,