Beilage zum Berliner Bolksblatt.
Mr. S27.
Dienstag, den 29. September 1883.
II. Jahrg.
Politische Ueberstcht. Die Verlängerung de« kleinen Belagerungszustandes über Berlin und Umgegend sowie über Hamburg und Nmgegend wird heute im Reichsanzeiger publtzirf. — Auf Grund des Sozialistengesetzes ist die im Selbstverlag des Berfassers Bernhard Becker, Druck von Rein» hold Baist, ohne Angabc eines Wohnortes im Jahre 1865 erschienene Druckschrist:„Der große Ardeiter. Agitator Ferdinand Lassalle , Denkschrift für die Todtcnfeier des Jahres 1865" ver. boten worden. Dänemark . Die Arbeitsausschließung der Schmiede in Kopenhagen dauert fort und die Sammlungen für die Feiernden nehmen ihren Fortgang. Die Radikalen und Linkenmänner haben sich in diesem Arbeitsausschluß ganz auf Seiten der Arbeiter ge- stellt und in Folge dessen sind für letztere bereits 100 600 Kronen gesammelt worden. Zwischen der kleinen Zahl Arbeiter, welche sich den Forderungen der Fabrikanten gefügt und der großen Majorität der Schmiede, welche auf ihr Programm verharren, ist eS wiederholt zu blutigen Szenen gekommen, so daß die Polizei einschreiten mußte. Die Arbeiter gedenken nun selbst eine Fabrik zu gründen, ein Gebäude ist bereits gekauft und seit etlichen Tagen werden Aufrufe zur Aktienzeichnuna erlassen. Die Anschaffung der erforderlichen Maschinen und Werkzeuge soll mittelst dieser Gelder geschehen, während das Fabrik- gebäude selbst der belannte Linkenmann Alberti für die Arbeiter gekaust hat. Grotzbritaunie«. Gestern fand in Limehouse, einer Vorstadt Londons , eine große sozialistische Kundgebung zu dem Zwecke statt, um das Recht der öffentlichen Versammlung zu kon- statiren. Deputationen mehrerer anderer Quartiere Londons nahmen an der Kundgebung Theil. Die Gesammtzahl der Manifeslirenden wird auf 8000 geschätzt. Die Polizei hatte den Veranstaltern der Kundgebung mitgetheilt, daß sie die Versammlung gewähren lassen werde, wenn nicht Stockungen im Straßenverkehr dadurch verursacht würden. Die Kundgebung verlief ohne Störung der öffentlichen Ordnung. Mehrere so- »ialistische Redner ergriffen daS Wort; es gelangten Resolutionen zu Gunsten der Redefreiheit und der Freiheit der öffentlichen Versammlungen auf der Straße zur Annahme, worauf sich die Versammlung ohne Zwischenfall auflöste. Lokales. g. Der Markttzoltzei. welche mit großem Eifer auf die Händler mit Pferdefleisch- Würsten bczw. Fabrikanten derselben auf unseren Wochenmärsten fahndet, ist es gelungen, auf dem Wochenmarkt am Dönhoffsplatz in der vergangenen Woche einen Wurstwaarenhändler, der einen bedeutenden Umsatz macht, des Verkaufs auch von Pferdefleischwürsten zu überführen. Wie wir hören, bezog derselbe diese Waaren von einem in letzter iert bereits wiederholt genannten Schlächter aus Rixdorf . Der �all erregt unter den hiesigen Schlächtermeistern ein um so größeres Aufsehen, als der betreffende Wurstwaarenhändler sich seit einer Reihe von Jahren des guten Rufs strengster R-ellität zu erfreuen hatte. E. Die neuen patentirten Schienen, welche die Pferde- bahngesellschaft bei Anlage neuer Linien verwendet, nämlich Schienen, die unmittelbar auf dem Beton oder auf einer Un- terlage von Stein ruhen, mögen wohl nicht allein ihrer langen Dauerhaftigkeit wegen, sondern auch, weil sie auf beiden Sei- ten gebraucht werden können, sehr prattisch sein und der Ge- sellschaft trotz ihrer theuem Anlagekosten billiger zu stehen kommen, als wenn die Schienen auf hölzernem Unterbau ruhen; aber für die Nerven deS die Pferdebahnen benutzenden Publikums sind sie eine wahre Höllenqual. Man merkt sofort den Unterschied, wo diese zwei verschiedenen Schiencnsnsteme aneinander stoßen. Das ruhige geräuschlose Laufen der Wag. gons auf Schienen, welche auf Hölzemen Langschwellen liegen, geht, wenn man auf Schienen mit Stein resp. Betonunterlage gelangt, in ein permanentes Donnem über, welches die Gehör- nerven des fahrenden PuulikumS auf eine harte Probe stellt. Besonders bei trockenem Wetter, wo das Holz der Wagen aus. getrocknet ist, kann man, so zu sagen, sein eigen Wort nrcht verstehen. Den Leitern des technischen Bureaus der Gr. Berk. Pferdebahn-Gescllschaft stehen doch so bedeutende Erfahrungen im Straßenbau- Wesen zu Gebote, daß sie dafür Sorge tragen könnten, Ivcn Pferdedahnwagen nicht zum Marterkaflen werden r. Bon der Arbeit, welche die bevorstehende Volks» Zählung veranlaßt, konnte man sich gestern Morgen einen ungefähren Begriff machen, wenn man zwei vor dem Post- amte in der Zimmerstraße haltende Rollwagen näher detrachtete. Dieselben waren mit viereckigen Kolli hoch beladen, deren jeder etwa einen Kubikmeter im Umfange halten mochte, und an ein LandiathSamt adrcffirt war, während als Absender das statistische Amt angeben war. Diese Packete enthielten die für das Zählungsgeschäft erforderlichen Materialien, Listen, Zähl- karten, Formulare rc., die sämmtlich oder zum größten Theile dem statistischen Amt ausgefüllt wieder zurück zu senden sind, wonach dann das Gesammtergebniß der Zählung auS den zwei Rollwagen voll Papier ermittelt wird. Ein recht nrcdliches Stückchen Arbeit. r. Augenscheinlich um Obdach im Polizei-Gewahr- sam zu erhalten, unternahmen � drei Stammgaste von Mutter ■Grün am letzten Sonnabend in der Nahe des Kottbuser Thores musikalische Aufführungen im Umherziehen, der denen ein höheres Kunstintereffe nicht obwaltet, wie die Gewerbeord- Nung sich so finnreich in der Negative ausdrückt. Die drei, von der niedrigen Temperatur bläulich angehauchten Gestalten nahmen ihren Vorrath an musikalischen Kenntnissen zusammen und intonirten auf dem ersten besten Hofe das ganz aus der Mode gekommene„Mit dem Pfeil und Bogen", das aber ber dem betreffenden HauSwirth durchaus keinen Anklang fand, so daß sie unter den Klängen des Schlußverscs„lalaia" bereits den Hof wieder verließen. Keineswegeö entmuthigt durch den Mißerfolg, machten sie sich auf dem nächsten Hof an die Auf. führung eines Chorals, wobei einer von den Dreien mit zwei Stücken Holz das Spielen einer Violine nachahmte; auch mit dieser Ätusik-Auffllhrung hatten sie kein Glück, überall wurden fle einfach abgewiesen, ohne daß das Einschreiten eines Schutz- MannS nöthig geworden wäre und schließlich sah man sie ihren Kours gen Rixdorf nehmen: ob sie beabsichtigten, durch Ein- schlagen eines Schaufensters zu ihrem Ziele zu gelangen, oder ob sie den Insassen des Rixdorfer Hunde-Asyls ihre sangerische Huldigung darbringen wollten, haben wir nicht ermitteln können. . Wie bei der Ermittelung und Festnahme von Ber- brechern der Zufall oft fördernd mitzuwirken pflegt, dafür liefert die Vorgeschichte des Friedrichsberger Gauncrprozcffes, welcher von gestern bis übermorgen zur Verhandlung steht, ein bisher noch unbekannt gebliebenes Beispiel. Zu der Zeit, als
die Kriminalpolizei auf die ersten Mitglieder der Bande fahn dete, erhielt der Kriminalschutzmann S. den Austrag, nach Friedrichsberg in der Wohnung der Frau Markowska— in welcher man den Schlupfwinkel der Bande vermuthete— nach einem gcwiffen Taschendiebe zu forschen. Vor dem Frankfurter Thore traf der selbstverständlich Zivilkleider tragende Schutz- mann einen ihm bekannten Militär- Anwärter, welcher dem „B. T." zufolge, in Frankfurt a. O. gedient hatte und nach Berlin gekommen war, um bei einer Behörde Anstellung zu suchen.„Du kommst mir gerade recht!" rief der Beamte,„ich habe da einen Auftrag auszuführen, aber ich fürchte, die Leute kennen mich und verertcln meinen Zweck. Komme mit und gehe Du an meiner Stelle hinauf!" Der Anwärter war sofort bereit, besah sich genau die ibm vorgezeigten Photographien der Frau Markowska und ihrer Tochter. Er ging nach deren Wohnung hinauf und erhielt den Bescheid, daß der Gesuchte zwar dort gewohnt habe, aber wieder abgereist sei. Als nun der An- wärter nach dem Hausflur zurück kam, trat soeben ein Mann ins Haus, der sofort freudig ausrief:.Herr Gott ! Karle, wo kommst Du denn her?" Der also Angeredete erkannte in dem ihn Begrüßenden den Pfeffermünzküchel- Händler Wilhelmi, mit dem er in derselben Schwadron äedient hatte, und sofort stieg in ihm der Verdacht auf, daß W., der mit Pfeffermünz- kücheln die Jahrmärtte bereiste, mit zur Bande gehöre. Um jedem Mißtrauen zu begegnen, stellte er sich als Magistrats- Beamter vor und verwickelte den W- in eine jener gemüthlichcn Plaudereien, wie sie unter Regiments-Kameradcn üblich find. Inzwischen näherte sich der Kriminal-Schutzmann, der mit einem Blick die Situation übersehend, mit allen Zeichen der Freude, einen alten Bekannten wiederzusehen, hinzutrat und den Anwärter mit den Worten begrüßte:„Junge, was machst Du denn hier?" Der Anwärter stellte statt der Antwort dieselbe Frage und der Schutzmann erwiderte: „Ich habe jetzt eine Kneipe da draußen in der T.- Straße und war auf dem Viehhofe, um ein paar Schweine zu kaufen' ich will nämlich morgen ein Wurstesten arrangiren. Aber Schwcrenoth! giebt's denn hier keine Kneipe! Wir müssen doch das Wiedersehen feiern!" Wilhelmi, dem der „Regiments-Kamerad" und der joviale„Budiker" über jeden Zweifel erhaben schienen, ließ sich bewegen, mitzugehen und mitzutrinken. Als nach mehreren Seideln die Unterhaltung recht„gemüthlich" wurde, da lud der„falsche Budiker" seine beiden Kneipgenossen zu seinem Wurstessen ein, aber W. lehnte ab, er habe keine Zeit.„Ach das ist schade! Was haben Sie dcnn so Wichtiges vor?" fragte im Tone deS höchsten Bedauerns der angebliche Budiker.«Ich verreise morgen und fahre mit mehreren bekannten Händlern und Händlerinnen nach Stettin , von da nach Stargard , Stolpe und dann nach Stendal ." Der Schutzmann wußte genug. Unkenntlich durch sorgfältig kahl rastrtes Geficht bei entsprechender Verkleidung und in Gesellschaft anderer Kriminalbemten begleitete er an- deren Tages den Wilhelmi mit seinen Freunden auf die de- zeichneten Märkte. Dort wurden die Gauner bei ihrem lang« fingerigen Geschäft beobachtet und bei der Rückkehr nach Berlrn auf hiesigem Bahnhofe verhastet. So kam ein Theil der Ge- sellschaft hinter Schloß und Riegel. g. In der Angelegenheit de« Slaubmörder« Sch»nicht erfahren wird, daß Schunicht die sämmtlichen in dieser Ange- legenheit vernommenen Zeugen für verrückt erklärt hat. Er bleibt vor dem Untersuchungsrichter bei der Behauptung stehen, daß alle die gegen ihn vernommenen Personen ihn nur in's Verderben stürzen wollten; er kenne sie gar nicht. Unter diesen Zeugen, deren Bekanntsein er rundweg ableugnet, befindet sich auch eine in der Kochstr. 25 wohnhafte Frau P., welche mit Frau Schunicht seit deren Verheirathung im Hause Kochstr. 25 bekannt ist und daher auch Schunicht und seine Verhältnisse ganz genau kennt. Dasselbe ist mit einer zweiten Zeugin, einer Frau L. in der Oranienstr. 15 am Hcinrichsplatz der Fall, wo- selbst Schunicht mit seiner Familie ebenfalls gewohnt hat. Schunicht soll übrigens, was noch nicht bekannt geworden ist. von seiner Frau eines Tages beschuldigt worden sein, das vierte Kind der Ehe, ein Mädchen, durch Verabreichung falscher Medikamente vom Leben zum Tode befördert zu haben. Die noch lebenden 3 Kinder stehen unter Obhut der Waisen« Verwaltung und find bei Leuten in Pflege gegeben worden. Während Schunicht nicht das geringste Gefühl für seine Kinder besaß, diese vielmehr stets verleugnete, hing Frau Schunicht mit abgöt- tischer Liebe an denselben. Die große Sehnsucht nach ihren Kindem gab ihr vor etwa zwei Jahren Veranlassung, sich der Beaufstchtigunq ihrer Wärterin(Frau Schunicht wird be« kanntlich als Geisteskranke dehandelt) durch die Flucht zu ent- ziehen. Nachdem sie sich zwei Jahre in der städtischen Irren- anstatt zu Dalldorf befand, wohin sie von der Neuen Charitee aus überführt worden war, wurde sie in Franz.- Buchholz untergebracht, da sie als ungefährlich erkannt worden war. Hier nun fand sie Gelegenheit, eines Abends in der neunten Stunde zu entfliehen und langte nach mehreren Irrfahrten am anderen Morgen im Hause Kochstraße 25 an, wo sie bei der oben gedachten Frau P. ihre Kinder vermuthete, sich aber getäuscht fand, denn dieselben befanden sich bereits im Waisen- hause. Frau Schunicht wurde noch an demselben Vormittage durch die Revierpolizei ermittelt und wieder der Irrenanstalt zu Dalldorf zugeführt, woselbst fle sich noch gegenwärtig auf- hält. Vor der in der ersten Hülste des nächsten Monats statt« findenden Hauptverhandlung gegen Schunicht werden die Zeugen in dieser Sache noch einmal vor dem Untersuchungs- rtchter vernommen werden. Das jetzige Leugnen des Schunicht wird für denselben nutzlos sein, da er ganz unzweifelhaft der Thätcr ist. N. Neuer Unglücksfall durch ein Tefching. Unvor« fichtiges Umgehen mit einer Schießwaffe hat abermals einen sehr beklagenswerthen Unglücksfall im Gefolge gehabt. Die zwei Söhne eines in Franzöfisch Buchholz wohnenden Büdners im Alter von 9 resp. 12 Jahren belustigten sich vor einigen Tagen auf dem Grundstück ihres Vaters mit einem geladenen Tesching. Hierbei legte der Jüngere plötzlich die Waffe auf seinen älteren Bruder an und drückte, ehe der letztere aus- weichen konnte, das Gewehr ab. AuS einer Etirnwunde heftig blutend brach der Getroffene mit einem lauten Aufschrei be- wußtlos zusammen und blieb momentan regungslos liegen. Die infolge de« Geschreis herbeieilmden Eltern mußten den Knaben, nachdem demselben ein Nothverband angelegt worden, sofort in die Königliche Klinik in Berlin bring.n lassen, wo er fich augenblicklich noch Befindet. Nach Anficht der Aerzte soll Hoff- nung vorhanden sein, den schwer verwundeten KnaBen am LeBen zu erhalten. Guten Appetit! In dem Schaufenster des dem Bonbon- Fabrikanten Maria Benno v. Donath gehörigen Ladens Leip- »iaer- und Friedrichstraßen-Ecke machen allabendlich, wie unS ein Augenzeuge mittheilt, eine Anzahl Mäuse ihre Spazier- aänae. Die Thierchen lassen fich die ausgestellten Waaren trotz des zuschauenden Publikums sehr gut schmecken und sehen wohl genährt aus.
Louisenstädtische« Theater. Die„Lustigen Weiber von Windsor" hatten am Sonntag schon um 6 Uhr ein ausverkauftes Haus zur Folge. Hunderte mußten thatsächlich an der Kasse umkehren, da absolut kein Billet mehr zu erlangen war. Dabei florirte der Billethandel wie nur Bei den größten Zugstücken. Es ist damit die für die Direstion und ihr auf das wahrhaft Gute gelichtete Streben höchst erfreuliche Thatsache konstatirch daß eine zweite Oper in Berlin ein Bedürfniß war. Da« Belle- Allianee-Theater war am Sonntag bei der Aufführung des Schwankes„Die Leibrente" total auS- verlaust. Polizei-Bericht. Am 26. d. Mts. wurde im Louisen- städtischen Kanal die Leiche einer, einige zwanzig Jahre alten unbekannten Frauensperson aufgefunden und nach dem Obduktionshause geschafft.— An demselben Tage fiel der Ar- beiter Held am Garten- Ufer von seinem mit Mauersteinen be« ladenen Wagen, wurde überfahren und am linken Unter- schenke! so erheblich verletzt, daß seine Aufnahme in die Charitee nothwendig wurde.— Als an demselben Tage Nachmittags die Dachdeckerfrau Rackete, auf einem Marstwagen sitzend, die Köpenickerstraße pasfirte, wurde sie von einem Manne auS nicht bekannter Veranlassung, anscheinend jedoch absichtlich, mit einem spitzen Steine geworfen und am linken Schläfenbein schwer verletzt. Sie wurde nach ihrer Wohnung gebracht und der Thäter verhaftet.— Zu derselben Zeit fand ein in der Liebigstraße wohnhafter Arbeiter seine Ehefrau im Bette Legend todt vor. Da die Todesursache ärztlich nicht sofort festzustellen war, wurde die Leiche nach dem Odduktionshause geschafft.— Am 26. d. M. Abends brachte ein seit längerer Zeit an Geistesgestörtheit leidender Hausdiener fich in seiner Wohnung in der Oppelnerstraße in selbstmörderischer Absicht mittelst eines BrodmefferS eine Schnittwunde in den Hals bei. Er wurde nach der Charitee gebracht.— Zu derselben Zeit fiel ein Mann von der zum Schlächterladen Flottwellstr. 10 führenden Treppe und brach das Bein. Er wurde nach dem Elifabeth Kranken- hause gebracht.— In der Nacht zum 27. d. Mts. versuchte eine Frau in ihrer Wohnung, Dessauerstraße, fich dadurch daS Leben zu nehmen, daß sie sich durch Schnitte die Pulsadern öffnete. Sie wurde noch lebend nach der Charitee gebracht._ GerichtsZeiwng. Prozeß Graes. Der in künstlerischen wie juristischen Kreisen mit gleicher Spannung erwartete Prozeß gegen den Historien- und Portrait- maler Graes nahm heute im großen Schwurgerichtssaal des Landgerichts i seinen Anfang. Begreiflicher Weise hatte die Ansetzung des Termins einen wahren Sturm nach Eintritts- karten entfesselt und dem Vorsitzenden eine schwierige Aufgabe gebracht, die er nur in der Weise zu lösen vermochte, daß er die Mehrzahl der Gesuche, den Raumverhältniffen entsprechend, ablehnte. Künstler, Gelehrte, Schriftsteller, Hohe Militärs und zahlreiche Juristen bilden den Hauptbestandtheil des zuhörenden Publikums. Der Schwurgerichtsbof wird gebildet aus dem Landgencktsdireltor Müller als Vorsitzenden und den Land» gerichtsräthen Freutag und Dr. Friedenthal. Die Staats» unwaltschast vertritt Staatsanwalt Heinemann, als dessen Ersatzmann für alle Eventualfälle Staatsanwalt Dr. Otto zur Stelle ist. Auf der Anklagebank nehmen Platz: 1) der Maler Professor Gustav August Leopold Ludwig Graes. Mitglied der Akademie der Künste, Schöpfer des Bildes„Die Versöhnung Wittekinds mit Karl dem Großen" im Kuppclsaale des Neuen MuseumS , der vier Herkules- und Theseus-Bilder im Portikus des Alten Museums , des„Auszuges der ostpreußischen Land» wehr" in der Nationalgalerie, zahlreicher Porträts%. jc. Er ist am 14. Dezenber 1821 zu Königsberg i. Pr. geboren und seit dem 24. März ct. in Untersuchungshaft. Die Anklage gegen ihn lautet auf wissentlichen Meineid, Anstiftung zum Meineide und wiederholtes Verbrechen gegen die Sittlichkeit. 2) Die seit dem 16. März er. in Untersuchungshast befindliche 21jährige Bertha Franziska Klara Rother wegen Anstiftung zum Meineide. 3) Deren ebenso lange in Untersuchungshast sitzende Schwester, die 18'/: Jahre alte Anna Helene Martha Rother wegen wissentlichm Meineides. 4) Die Mutter der beiden Letztgenannten, die 43jährige Töpfergesellensrau Auguste Friederike Louise Rother geb. Jahnke, welche außer ihren beiden Mitangeklagten Kindem noch zwei Töchter befitzt. Sie ist gleichfalls seit dem 25. März er. in Untersuchungshaft, und steht unter der Anklage der schweren Kuppelei. Von den drei weiblichen Angeklagten ist Bertha Rother die unbefangenste. Ihr hübsches, pikantes Geficht zeugt kaum von der langen Dauer der überstandmen Untersuchungshaft. Ihr ganzes Austreten beweist großen Chik und fie scheint fich so sicher zu fühlen, daß fie wiederhold mit lächelnder Miene ihre sehr deprimirte Schwester und Mutter zu trösten suchte. Auch der Hauptangeklaate Graes ist vollständig ruhig und sicher in seinem Aufteten. An seinem charakteristischen Künstlertopf sucht man vergebens nach Spuren der langen Haftzeit. Di« Vertheidigung liegt in den Händen der Herren Justizrath Simson und der Rechtsanwälte Kleinholz, Holz, Cassel und Voigt.— Mit Rücksicht auf die längere Tauer der Verhand- lung wurden zwei Ersatzmänner ausgeloost: im Uebrigen wird die Oeffentlichkett ausgeschlossen. Am 6. Juni 1884 fand vor der ersten Strafkammer hiefi» gen Landgerichts l eine Erpreffungsanklage gegen eine Dach- deckersrau Hammermann und einen Agenten Krischen statt, die s. Z. einigermaßen Aufsehen, namentlich in Künstlerkreisen, erregte. cv________—"J-— rCL.r...i. r. l----"....■------"
______-...............»|— 7"-»IMl----...... Tochter Namens Helene, welche seit etwa 3 Jahren bei Berliner Künstlem Modell steht, namentlich aber auch zum„AN"» Stehen(ohne Hülle) verwandt wird. Auch Professor Graes verwandte fie zu diesem Zweck, da sie ihm vom Professor A. A. v. Heyden empfohlen war. Als sie am 17. Dezember 1883 aus dem Graf'sehen Atelier nach Hause kam, theilte fie ihrer Mutter mit, daß fich G. an ihr vergangen habe, nachdem sie etwa 4 Wochen vorher mit einer ähnlichen Behauptung be- züglich deS Professor Kretschmer hervorgetreten war. Frau Hammermann und der Agent Krischen drohten nun den beiden Künstlern mit Denunziation, forderten für ihr Schweigen je 1000 M. und da die Zahlung verweigert wurde, brachte der Vater der Hammermann die Sache zur Anzeige. Beide Künstler behaupteten, daß lein wahres Wort an dieser Beschuldigung sei und so kam es zur Anklage wegen versuchter Erpressung. Da die Professoren K. und G. in der Hauptverhandlung be- schworen haben, daß die Angaben der Helene H. unwahr seien, endete die Sache damals damit, daß Frau H. zu zwei Jahren, Kirschen zu 1'/, Jahren Gcsängniß verurtheilt wurde.— AuS der auf diese Verurlheilung folgenden Zeit hat nun die An- klagedehörde eine Reihe von Momenten gesammelt, welche den Verdacht begründen sollen, daß Graes damals einen wissent» lichen Meineid geleistet, obgleich ihm freigestellt war, seine Aussage vor Gericht zu verweigern. Nach der Verurtheilung