Ar. 13. Sonnabend, den 16. Januar 1886. Hl. Jahrg. SMMldsdla» Brgan für die Interessen der Arbeiter. Das„Berliner Vulksülatt" Schewt täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei ß Haus vierteljährlich 4 Mark, monatlich 1,35 Mark, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mark. Einzelne Nummer 5 Pfa. Sonntags- Nummer mit illustrirter Beilage 10 Pfg. (Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.) Jnsertionsgebühr beträgt für die 4 gespaltete Petitzeile oder deren Raum 40 Pfg. Arbeitsmarkt 10 Pfennige. Bei größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunst. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin SW., Zimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaux, ohne Erhöhung des Preises, angenommen. Redaktion: Keuthstraße 2.— Expedition: Zimmerstraße 44. Im Flmsbiinjtt lllaht. Der Reichstagsbeschluß vom verflossenen Mittwoch, dmch den die Wahl des in Flensburg gewählten national- liberale» Abgeordnete» Tottburgsen für ungiltig er- klärt wurde, ist von so weittragender Bedeutung, daß wir heute nochmals auf denselben zurückkommen müsse». Der Reichstag hatte bekanntlich dem Sozialistengesetz in Bezug auf daß Verbot von Wahlversammlunge« eine nachträgliche Interpretation gegeben und hatte erklärt, daß, wenn eine Wahlversammlung von einem Sozialdemokraten einberufen oder anzunehmen sei, daß ein Sozialdemokrat in der» selben als Redner auftreten werde, dieß keineswegs genügend sei. um ein Verbot dieser Versammlung zu begründen. Dieser Beschluß sollte für die Behörde« in Bezug auf die Handhabung des Sozialistengesetzes maßgebend fein. Eine ganze Reche von Behörden hatte indessen diese« Brschluß nicht beachtet, worauf schon einige Tage zuvor der Abgeordnete Liebknecht bei Besprechung der deanstan» deten Wahl in Kiel ausmeiksam gemacht hatte. Die Kon» servativen und Nationalliberalen machten nun bei der Ber- Handlung über die Wahl in Flensburg den Versuch, den R-ichStag von den in seinem erwähnten Beschluß enthaltene» Anschauungen abzudrängen. Es war ergötzlich, sie darin wetteifern zu sehen. Der Abgeordnete Francke von de» Nationalliberale» stellte sich völlig auf den Staad » punkt der Polizei und meinte, waß einmal eine höhere Polizei. Behörde festgestellt habe, müsse auch für den Reichstag völlig unanfechtbar sein. Daß ging sogar den Konservativen zu weit und Herr von K ö l l e r, der pommersche L a n d r a t h, erklärte sich mit dem «ationallibkralea Polizeianwalt nicht einverstanden. Di« Thatsachen, um die eß sich handelte, waren kurz folgende: Gottburgsen hatte bei der Wahl in Flensburg mit geringer Majorität— 428 Stimmen— über feine Gegner, einen Dänen und einen Sozialisten, gesiegt. Die Sozialisten hatten nur wenige Stimmen erhalten; allein eß waren ihnen zwei Versammfungen von der Behörde ver- boten worden, weil der Einberufer, resp. der in Aussicht f;enommene Redner als Sozialvemokcaten bekannte Persön» ichkeiten waren. Der Reichstag nahm nun an, es hätte ohne die Verbote, die in Widerspruch zu seinem Be- schlusse stehe«, die sozialdemokratische» Stimme» sich vermehren und dadurch eine Stichwahl herbeigeführt werden können, die wahrscheinlich zu einem anderen Resultat, als zu der Wahl des Abgeordneten Gottburglen geführt habe« würde. Deshalb wurde die Wahl des Herrn Gottburgsen gegen die Stimmen der Konservativen und Nationalliberalen für ungiltig erklärt, zum großen Aerger der National» liberale», für welche dieser Beschluß ein Wink mit dem Zaunpfahl ist. Ä)er Reichstag hat sich also von seinem in Bezug auf die Verbote von Wahlversammlungen gefaßte« Beschlüsse i JeuillNon- Dunkle Gestalten. Erzählung auß dem sozialen Leben der Gegenwart von *****«rtot».] Karl Zielte. 16 »Behalte ihn nur für Dich, ich habe Deine Rathschläge »»cht nithig." "Mir auch recht, heute Abend singst Du uns wohl auch nichts vor?" .Rein." »Also bei gänzlich unbrauchbarer Stimmung." Er drehte ihr kurz den Rücke« und begab sich nach seinem Platz zurück, wo»och mehrere gleichalnige junge Leute saßen, denen man aber trotz ihrer ausgesucht modernen Kleidung sofort ansah, daß sie sich nicht wegen der Zer» streuung allein in dem elegante« Cafs aufhielte». . Sie führte« ihre Unterhaltung in flüsterndem Ton und de« Gegenstand derselben bildeten die in dem Cafe anweserr» de« Damen. ,,»Sie will vo« uns nichts wissen, wie es mir scheint," sagte der junge Mensch zu seinen Genosse«.„Schade drum," meinte er bedauernd,„sie kann famoß fingen, wenn sie will. Lerder hat sie zu viel Launen" »Run, wenn sie«ich» will, will sie nicht." sagte ei» Anderer, den ein Paar dicke, muskulöse Hände auszeichneten, »ndem er fern Glaß ergriff, meinetwegen mag sie zum Kuckuck laufen." „Singt die Dame wirklich so gut, wie sie sage«, meine Herren?" fragte plötzlich ein Herr, der an einem Nebentische yemlich im Fmstern saß.„Ich bitte Sie übrigens um Ent- Ichuldiaung, wenn ich mich unberufen in ihr Gespräch mische." »Wenn ich Ihnen sage, sie singt famos, dann singt sie famos,« sagte der junge Man», der mit dem Mädchen ge- sprochm harze. nicht abdrängen lassen. Dies mag zur Beruhigung dienen für Diejenigen, welche Anhänger einer vollen und unver- kümmerte« Wahlfreiheit sind. Wenn die Wahle» ent- spitchend den Wünschen der Nationalliberalen und Konservative« vor sich gingen, wer weiß, was da herauskäme! Der! Reichstag selbst aber hat das Mittel in der Hand, behördliche Anordnungen, die seinem Beschlüsse widersprechen, aufzuheben, indem er einfach die ganze Wahl aufhebt. Daß dies gewissen Leuten nicht i» ihren Kram paßt, glauben wir recht gerne. Herr Marquardfen hat sich denn auch bei dieser Affaire als„Warner" aufgespielt und hat behauptet, es fei eine gefährliche Bahn, die der Reichstag betrete» habe. Nun, s o klug wie Herr Marquardfen sind andere Leute wahrlich auch. Wenn eine Gefahr darin läge, daß man an jenem Beschlüsse festhält, so würde» auch andere Leute das einsehen. Aber worin soll die Gefahr denn bestehen? ES ist höchstens die„Gefahr" vorbanden, daß bei striktem Fest- halten an jenem Beschlüsse eine Reihe von nationailiberale« und anderen reaktionären Wahlen in Zukunft tassirt werden wird. Diese„Gefahr" können die nicht reaktionären Par- teien ohne sonderlichen Kummer ertrage«. Die Herre« ernten jetzt, wa« sie gesät habe». Als bei Beralhung des Sozialistengesetzes beantragt wurde, wengstenß für die Zeit der Wahlbewegung volle Versammlungsfreiheit besteh,» zu lassen, wandten sich die Nationalliberalen fana- tisch dagegen. Sie sagten damals, wenn man die Wahl» Versammlungen freigebe, so sei daß ganze Sozialistengesetz unwirksam. Man that ihnen damals auch den Willen und es gab keine Ausnahme für die Wahlversammlungen. Nun ist der Rückschlag eingetreten und die National- liberale» bestreiten mit ihren eigenen Mandaten die Kosten für den Feuereifer, mit dem fie damals für die schärfsten Bestimmungen des Sozialistengesetzes einsprangen. U»S kann's so schon recht sein und wrr verstehen diese„Ironie de« Schicksal«" rech, gut. Bei dieser Gelegenheit sei auch darauf hingewiesen, daß sich im Schooße de« Reichstages Anträge vorbereiten, die eine Verbesserung des Versahrens bei den Wahlprü« funge« bezwecken. Es habe« sich dabei eine Menge von Unzuträglichkeiten herausgestellt, auf die namentlich die sozial» demokratischen Mitglieder der WahlpiüfungS Kommission ihr Augenmerk gerichtet haben. Die WahlprüsungS Kommission wird allzusehr mit Arbeiten überhäuft und kaa« nur langsam mit ihre» Untersuchung«« vorwärts komme»;«S wird sich also darum handeln, ob sich für die Wahlprüfunge» nicht ein Modus finde» läßt, der die Kommission entlastet und doch rascher zum Ziele führt. Darüber ein andermal. Hoffentlich wird der Reichstag auch in Zukunft an seinem Beschluß, die Verbote von Wahl» Versammlungen betreffend, festhalten und so wenigstens einigermaßen garantireo, daß die Wahlbewegung sich ftei Die Anderen schwiegen, eS war ihnen offenbar nicht angenehm, daß Jemand sie beobachtet und belauscht hatte. Sie beruhigten sich erst, als der Man« aufstand und sich»ach dem Tisch de» junge» Mädchen« begab. Er sah sehr anständig, fast würdevoll aus. Und doch war es Nie- mand anders, als der Schaubudenbesitzer Weber. Mit dem Manne war eine merkwürdige Veränderung vor sich gegangen. Er trug einen langen Gehrock, sein Haar war wohl- geordnet und gescheitelt, er mackite auf de« erste« Blick den Eindruck eine« besser gestellte» Beamten. Langsam trat er auf den Tisch zu, an welchem daß junge Mädche» saß. Er ergriff mit der linken Hand den freien Stuhl und ftagte, indem er sich höflich verbeugte: „Sie gestatten, mein Fräulein, daß ich Ihne» eine» Augenblick Gesellschaft leiste?" Sie musterte rbn mit einem schnellen Bück vom Scheitel biß zur Sohle, und da daß Ergebniß ihrer Prüfung wohl ei« beftiedigende« sein mußte, so lud sie ihn freundlich ein, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Sie scheinen heute Abend nicht bei guter Laune zu sein, wenn ich fragen darf." sagte er, nachdem er für sie Beide eine Bestellung bei dem Kellner gemacht �,Ma« ist nicht jeden Tag gleich fröhlich," erwiderte sie zerstreut.� � vollkommen Recht, man ist in der That nicht jede« Tag gleich gut gelaunt." Ach was," sagte er plötzlich,„weshalb sollen wir de« Kopf'hängen lassen, kommen Sie, wir wollen uns amüfiren. Trinken wir, Profit!" Sie stießen an. „Sie müssen doch im Allgemeinen«in recht ange« nehme« Leben führen," fragte er, und sein lauernde« Auas flog mit einem spöttischen Auid.uck über ihre reiche Toilette.„Alle Abende vergnüg«, für den Tag keine Sorge, entwickeln kann. Den» die Kassation der Gottburgsen'schea Wahl wird für sehr viele Leute lehrreich siin. NotitischeUeberflöft. Die Polendebatte, d. h. die Dukusston der wegen der Polenausweisungen eingebrachten Anträge und Reso» lutionen, hatte heute wenigstens für die Tribünen de» Reichs» tages eine bedeutende Zugkraft ausgeübt, es war ein nahezu „ausverkaustes Haus" erzielt. Die Besetzung des Hause« selbst war zwar erheblich stärker als in den letzten Tagen, doch zeig- ten stch immerhin gewaltige Lücken, namentlich auf den Plätzen der Konservativen und Nationalliberalen, die es wahrscheinlich nicht über ihre respeftiven„loyalen Herzen" bringen konnten. eine Debatte, die ihrem„Halbgott" unangenehm ist, auch nur anzuwohnen. Wie ausgekehrt war eß aber auf den Minister» bänken! Nicht eine„Seele" war da; die Mäus che» konnten ruhig auf Tischen und Sitzen, auf denen sonst die gewichtigsten Personen der Gegenwart„Weltgeschichte machen". herum spazieren, ohne Gefahr zu laufen, daß Mißfallen irgend eines großen Herrn zu erregen. Dieses demonstrative Fernbleiben der im Dienste des Volkes stehenden Beamten be- wie« wieder einmal so recht, welchen hohen Respekt diese Herren vor dem deutschen Parlament haben. Es wurde auch von dem ersten Redner, der zur Sache das Wort erhielt, Ab- geordneten Domprobst Dr. v. Jazdzewßki, gebührend gewürdigt. Dieser Redner verwies darauf, daß eine Frage, welche die ganze zivtlistrte Welt bewege, hier vor leeren Ministertischen verhandelt werden müsse; daß, obwohl die völkerrechtlichen Angelegenheiten, die herbei in Frage komm cn. Reichs fache find, der verantwortliche Minister deS Reich», der Reichskanzler, fich weigere, auch nur Auskunft über derartige Maßregeln zu geben, wie die MassenauSweisun« gen von Personen polnischer Nation und vorwiegend katholi- scherlKonfesston auS Preußen find. Das Material, das der polnische Redner anführte, war zum Theil äußerst interessant, einzelne Fälle, auf welche er hin« wieS, von erschütternder Tragik, namentlich bezüglich der Behandlung, welche verschiedene Ausgewiesene erfahren haben. Die Zahl der Ausgewiesenen, ausschließlich derjenigen» welche stch zwar noch in Deutschland befinden, aber die Aus- weisungsordre erhalten haben, schätzt Redner auf zirka 40000! Obwohl im Tone sehr maßvoll, erwies Jazdzerrski fich doch keineswegs als„Waschlappcky", sondem ging der preußischen Regierung energisch zu Leibe, und berief fich zur Begründung seiner Anfichten auf wohl ein Dutzend hervorragender Staatsrechtslehrer und außer derjenigen, wie Sie sich für den Abend recht pikant und geschmackvoll ankleiden werden." Sie schien seine Worte nicht ernst zu nehme«. „Sie wollen sich wohl über mich lustig machen, mein Herr," entgegnete fie. Sie gab sich keine Mühe, den Aerger, den sie empfand, irgendwie zu uniermückcn. „Glauben Sie da« ja nicht, Fräulein, mir liegt eine solche Absicht vollkommen fern. Ader sehen Sie, wenn man alle diese Damen hier beobachtet, wie sie lächeln, wie ihre Auge» glänzen, wie lebhaft ihr Geplauder ist, und wie wenia sie vo» den Sorgen der Alltäglichkeit gedrückt zu sei« scheinen, so kommt man unwilllürlich auf d.n Gedanken. daß eß kaum noch glücklichere Geschöpfe geben kann." .Sie sind wohl au« der Provinz, mein Herr?" ftagte fie. „Inwiefern?" „Nun, mir kommen Ihre Fragen etwa» sonderbar vor." „Und wenn ich nun au« der Provinz wäre, würde» Ihne» meine Fragen dann noch sonderbar vorkomme«?" ,Jn gewissem Sinne immer. Denn ich kann mir nicht denken," fuhr sie mit Wärme fort,„daß es heute noch über« Haupt einen Mann geben kann, der irgendw e auf Bildung Anspruch macht, der nicht wissen sollte, daß Alles das, was sie hier sehe«, nur geborgter Flitterkram, glänzend, s Elend ist. Gestehen Sie es mir, mein Herr, Sie wollten mich zum Besten haben. Sie dürfen es mir ganz ruhig sagen. denn schließlich habe» Sie ja daß Recht dazu, sich hier zu unterhalten, wie es Ihnen beliebt! Die Charaktere sind ja vei schieden, Sie wollen sich eben über mich und über uns Alle hier belustigen!' „Ganz gewiß nicht, Fräulein, ich frage nur, weil ich mich gern über Alle« informire. Sie sah ihn zweifelnd an. Der Direkter Weber sah nämlich eher»ach allem anderen, nur nicht nach Uner- fahrenheit au«. Sein scharf markirteß mageres Gesicht mit den gefühllosen kalte« Augen, mit den tausend Fallen und Fältchen erzählte auch dem Unkundigen, daß über diesen
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