Nr. 162.
Donnerstag, den 15. I«U 1886.
III Jahrg.
SnlmrWdsbkll Brgan für die Interessen der Arbeiter.
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Ausflchtkii.
Im Ganze« wird von Zölle« eigentlich we«ig mehr gesprochen. Ma« hat de«« doch ei«gesehea, wie wenig die neuen Zölle und die ih«en folgende» Erhöhungen im Stande gewesen find, die a« diese Neuerung geknüpfte« Versprechu«- ge» und Erwartuvge« zu erfülle». Die enragirtkste« Schutz« zöllaer schweige« lieber refig»irt, we»« sie höre«, daß da» @«.treibe trotz der hohe» Einfuhrzölle«och billiger ge- worden ist als zuvor, all daß sie e« wagten, die alten ab- genutzten Redensarten vom.Schutz der nationale, Arbeit" wieder vorzubringen. Aber auch die absolute» Freihändler wisse« nicht mehr viel zu sage», den» die von rhnen prophezeste Erhöhung der Preise der mit Zöllen belegten Lebensmittel ist auch nicht eingetreten. Beide Theorien, der absolute Freihandel und auch der absolute .Schutz der nationale« Arbeit", find bankerott. Ihre Ver- fechter habe« nie begriffe», daß die allgemeine Le- b e»» h a l t u n g de« Volkes auf die LebenSmsttelpreife von west größerem Einfluß ist, als alle künstlichen Zollschranken. In gewiffen RegiemngSkreisea aber scheint ma« fich dieser Erkevntniß hartnäckig zu verschließen. Dort hat man offenbar d,e wirthschaft, politischen Theorien in einfache For- mein gebracht,«ach denen ma« ohne«eitere Rücksichten handelt. Eine solche Formel lautet:.Wenn ein Zoll nicht hilft, so muß er e, h ö h t werden l" Diese Weisheit ist {war ebenso wenig neu al» tief; wir hörte» fie bei der ctzten Erhöhung der Kornzölle im Reichstage au« dem Munde einer sonst wenig bekannten Persönlichkeit, des sogenannte« Butterpfarrers S ch e l b e r t, des Abgeordneten für Kempten  . Diese, geistliche Herr beschäftigt sich außer mit dem Seelen« heil seiner Gemeinde auch mit Butter« und Käsebereitung und beurtheilt den Weltmarkt«ach de» volkSwirthschastlichen Gesichtspunkten der Landbevölkerung im Allgäu. Er ließ damals eine förmliche Kapuzinade zu Gunsten der Korn» zölle lo  « und meinte, ma» müsse dieselben so hoch mache», daß gar kein fremde« Kor  » mehr über die Grenze kommen könne: dann sei der Landwirthschaft geholfen. Der HerrButterpfarrer' erregte damals im Reichstage keine geringe Hesterkeit. Dieser Tage aber kam die.Nord- deutsche AllgemeineZeitnng' und spielte ganz denselben Trumpf au». ES war bei Gelegenheit einer Be- sprechung de« Zollkriege« mit Rußland  . Die russische Elsenindustrie im Ural   hat an Absatz verloren und nun beabsichtigt»an in Rußland   elne Erhöhung der Eisen« zölle; de« fich beschwerende» deutsche» Elsenindustrielle« erklärt nun dieNorddeutsche Allgemeine Zeitung", daß man Rußland   an der Erhöhung seiner Eisenzölle nicht hindern könne. Die Hauptsache in Deutschland   aber sei gegenwärtig die Beseitigung de« Nothstande» in der Land-
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Ileuilleton. Gi«e Mutter.
Roman von Ksrtedrtch Serftäcker. (Fortsetzung.) .Zch bin schon ruhig, Felix," sagte sie, unter Thräne» lächelnd, al« ihr Gatte zu ihr trat und ,hr fteundl,ch zu, rede» wollte.Fürchte auch nicht, daß mich oben eine solche Schwäche übermannen wird. Du kennst mich ja, vertraue mir nur. und jetzt,' rief sie, indem sie«st ihrem Tuch die letzte« Thränenspure« entfernte,.laß mich gehen." Damit wandte sie sich entschlossen ab, schritt der Thür zu und die kleine, enge Treppe hinauf. Nur der Arzt be« gleitete fie, und Rottack und Zeremia« bliebe» unten in der dumpfigen wüste« Wirthsstube allein mit ihre» peinliche» Gedanken zurück. Helene hatte fich auch nicht zu viel zugetraut. Sie fühlte recht gut, wie viel jetzt gerade von ihrer Haltung, der Kranken gegenüber abhing, und leise und geräuschlos wohl, aber mit feste« Schritten stieg sie hinauf und öffnete selber die Thür, welche zu der arme« Verlaffene» führte. Ei» Glück, daß ihr der Anblick erspart worden, wie Jeremias fie gefunden, den» so ärmlich da« Zimmer auch aussehen mochte, so wäre« doch reinlich gehalten und durch« wärmt, und da« Bett dabei so gut, al« es nur in einer so flwinae« Schenke sein konnte. Die Wärterin saß am Bett, al« Helene eintrat, und ?a»d schüchtern auf, die Kranke aber lag, die Augen ge- schloffen, da« bleiche, abgemagerte Antlitz der Thür zugedreht, al- ob sie schliß Helene« ,og sich da« Herz zusammen. Allmächtiger Gott, wie sah die Arme au»? Wohin war da« fröhliche Lächeln der sonst so liebe» Lippe» verschwunden, wohin da« Roth der Wange«, das schelmische Grübchen im Kinn? Und ol« sie die großen, dunkel» Auge« aufschlug und erstaunt, fast erschreckt die Eintretende anstarrte, da hätte Helene thr um de« Ha!« fliege» und an ihrem Herzen de» Gram au«-
w i r t h s ch a f t und ma» wolleder Frage desvoll- ständige« Ausschlusses fremder land- wirthfchaftlicher Produkte" eher näher trete«, al» der Frage der Eisenzölle. Da habe» wir'« also kurz und rund, wa« das Ziel einer Zollpolitik nach dem Herze« der Hintermänner der Norddeutschen Allgemeinen" ist. Der Pfaner Schelbert wird fich freue», daß da« Kanzlerblatt in seine Fußtapfen tritt; vielleicht beklagt er sich gar darüber, daß ma« seine große Zdee von ihm geborgt hat, ohne ihn um Erlaubniß zu fragen. DieNorddeutsche Allgemeine' und derButter- pfarrer täuschen sich indeffen alle beide. Die Nothlage der Landwirthschaft, soweit einesolchevorhanden, entspringt nichtauS dem Mangel an hohen Zöllen, sonder«, wa« wir schon so oft betont haben, aus der sinkende« KousumtionSkraft der Massen. Es werden heute immer»och Löhne gedrückt und Hände überflüssig gemacht. Diese Tendenz der Industrie drückt unmittelbar die Lebenthaltung der Arbeiter herab und ihr folgt das Ueberwiegen de» Angebots von Lebensmitteln und Gebrauchsgegenstände» über die Nachftage. Das Sinke« der LebenSmsttelpreife, soweit e« vorhanden, nützt dem Ar- beiter aber nichts, weil sein Verdienst weit rascher gesunken ist; Landwirthschaft und Kleingewerbe aber haben die Nach« theile, die au« diesem Verhältniß entstehen, mit zu tragen. Ma» kann beim kleine» Bauer, dessen Grundstück mit Hypotheken belastet ist und der für sein Korn, sein Vieh und sein Gemüse nur niedrige Preise erziele« oder e« gar nicht absetzen kann, von einem Nothstand reden; nur mögen stch nicht die Herren Agrarier zu AnwSlte» de» kleinen Grundbesitze« aufwerfe«. Was diese Herren wolle», wisse» wir sehr gut; ma« hat beim Branntweinmonopol ge- sehe«, wa« fie vom Staate verlange». Ihne» aber wird die Norddeutsche Allgemeine" wohl au« der Seele gesprochen habe». Wenn ma» de« durch die Schutzzölle entstandene» Zollkrieg betrachtet, der fich nun beinahe überall an unsere» Grenzen abspielt, so sollte ma« meinen, schon dieser Zoll- krieg müßte Jedermann gründlich bekehren, der von unserem gegenwärtige« Prohibitivsystem eine Besserung unserer wirthschaftltche« Lage erwartet. Nu« stellt da«freiwillige" Regierungsorga» als Ziel der Zollpolitik eine vollständig mittelalterliche Abspenung der Grenzen gegen alle ftemden landwirthschaftliche» Produkte hin! Schöne Aussichten! Und da» soll im 19. Jahrhundert einer ganzen Nation auf- erlegt»erde»im Interesse der Landwirthschaft!' Mau muß wirklich fürchte«, die alte Mutter Erde, die genug giebt, um alle zu ernähre», könnte einmal boshaft und ärgerlich werde«, wen» fie so zusieht, wie die Menschen bemüht find, die Spende» der Natur einander abzuschneiden und sich das Leben zu erschwere«. Wenn fie einmal sage«
weinen möge», der ihr die Seele zusammenschnürte. Aber fie bezwang sich. Meine liebe Paula,' sagte fie, indem fie mit lautlosem Schritt dem Bett zuglstt und die herabhangende, fast durch- fichttge Hand erfaßte,mein liebe», süße» Herz, wie geht e« Dir?' Paula antwortete ihr nicht. Mit immer wachsendem Staune« betrachtete fie die bekannte« Züge, lauschte sie den zättlichea, liebevolle« Laute». Kennst Du mich nicht mehr, Paula?" Doch, doch," flüsterte die Kranke,Du bist der Engel, de» ich herbeigesehnt und der mich dorthin führe« soll, wo kein Schmerz und Kummer, kein Haß, keine Falschheit mehr ist o. ich danke Dir, Gott, danke Dir recht au« voller Seele, daß meine Leide« jetzt ein Ende nehme»! O, wie leicht wirtf mir, wie wohl, wie froh, o, nimm mich zu Dir I Dew arme«, armes Kind o laß mich scheiden!" Sie fiel zurück, Todtenbläffe deckte ihre Züge, fie war ohnmächtig geworden. Helene sprach kein Wort, nur ihr Tuch tauchte sie in kalte« Wasser und legte e» der Kranke« um die Schläfe, hielt ihr ei« mitgebrachte« Flacon unter die Nase und that Alle« still und geräuschlos, um sie ins Lebe« zurück- zurufe«. Der Arzt hatte fie dabei unterstützt. Es wird vorübergehe»,' flüsterte er leise,bleiben Sie stark, gnädige Frau vielleicht geht doch«och Alles gut." Nach einer langen Weile schlug Paula die Auge« wieder auf. Helene war über fie gebeugt und ihre Blicke begegnete« fich. So Hab' ich nicht geträumt," sagte Paula leise,der Engel ist bei mir geblieben." Meine Paula, mein süße», liebe« Herz, kennst Du mich den« nicht mehr? Kennst Du Deine Helene nicht?" Helene? Helene Rottack?' flüsterte die Kranke. Aber wie kommen Sie denn hieher, Frau Gräfin? Wie ist mir den«? Bin ich den« nicht...?" Ich habe Dich gesucht und gefunden, Herz!" rief Helene, die nur mit Gewalt die vorquellende« Thränen zu-
würde: Da fich Alle fortwährend streite», so kriegt Keiner mehr etwa«!»o bliebe» da die schönen Theorien der Herren mit dem Schutz der«attonale« Arbeit? Der Fall wird wohl kaum eintrete«, aber die Weisheit des Herrn Butterpfarrers und derNorddeutschen Allge- meinen" steigt deshalb doch nicht im Kur«.
Politische Urberstcht. Die diesjährige Geveralversammlung des Verein« für Sozialpolitik wird am 24. und 25. September in Frank' surt a. M. abgehalten werden. Auf der Tagesordnung befin» den fich: WohnungSnoth und innere Kolonrsation. Am ersten Tage wird Herr Oberbürgermeister Dr. Uiquel(Frankfurt   a. M.) überDie WohnungSverhältniffe der ärmeren Klaffen in deut. schen Großstädten" refettren; daS Korreferat hat Herr Pastor v. Bodelschwingh  (Bielefeld  ) übernommen. An zweiter Stelle sollDie innere Kolonisation mit Rückstcht auf die Erkaltung und Vermehrung deS mittleren und kleineren ländlichen Grund» befitzeS" von den Herren RittergutSdefitzer Sombart(Lerlin) und Profeffor Dr. Schmoller(Berlin  ) eingeleitet und erörtert werden. Der Verein für Sozialpolitik wurde bekanntlich im Anfang der fiebziger Jahre gegründet, um die Opposttion der deutschen  Wiffenschafl" gegen da« Manchestetihum zusammen. zufassen. Die rückgratlosen deutschen   Professoren wagten von Anfang an nicht, energisch aufzutreten, und seit nun gar Bti. marck offen dem Manchefierthum den Krieg erklärt hat, haben dieKathedersozialisten" von selber auf jede führende Rolle verzichtet und stch mehr und mehr damit begnügt, zu allen Einfällen Seiner Durchlaucht, selbst zu den agrarischen und schutzzöllnerischen, eine wiffenschaftliche Sauce zu bereiten, ohne die der gründliche Deutsche   auch die gewöhnlichste Jntereffen. polttik nun einmal nicht goutiren mag. Wie die englischen f arlammtl» und Regierungsenqueten, stnd die Leistungm dieser lite der zukünftigen deutschm Nationalölonomen von Jahr zu Jahr schwächer geworden; ei hält schwer, auf denjährltchen Versammlungen überhaupt noch eine Diskusston zu Stande zu bringen wie lange wird e« dauern, daß der Verein vollends aufgehött haben wird zu vegetirm? Herr Miquel spielt j'tzt eine führende Rolle unter dm Sozialpolitikern und kein Mann wäre au» besser dazu geeignet. al« dieser Leisetreter und nacgfaftcn ♦Qtxtt» _ Die Zollkämpfe gestalten fich namentlich zwischen Deutschland   und Rußland   recht unerfreulich. Seitdem im Deutschen   Reiche die Zollerhöhungen stattgefunden haben, ist die Ausfuhr nach Rußland   der dortigen Represstvmaßregeln halber von 228 Millionm auf 169 Millionen Mark zurückge» aangen. Diese Antwott ist allzu deutlich und zeigt, welche ver. kehrten Wege wir mit unserer gegenwärtigen Zoll- und Wirth. schaftSpolitik wandeln. Wenn ei nun osstziösm Schreibern ge« fällt, die Hauptschuld an dieser Situation auf Rußland   ,u schieben, indem man von der unersättlichen Habsucht der rufst- schm Fabttkanten nnd den schlechten rusfischen Finanzen redet, rückdränge« mußte.Jetzt bleib' ich bei Dir, ich gehe nicht wieder von Dir fort, bis Du auf's Neue wohl und gesund und kräftig bist. Darf ich bei Dir bleibe«?' Bei mir?' flüsterte Paula, während ihr Blick scheu im Zimmer umherflog.Bei mir, der Ausgestoßene«, die ihre» Bruder und Vater gemordet hat? Bei mir?" Und dabei suchte sie Helmen« Hand von fich fottzudrücken. Geh', geh' fort, daß Dich nicht auch der Fluch trifft, der auf mir ruht I" Aber wa» sprichst Du Paula?" Ich weiß Alle«,' flüsterte die Arme,in dm Zkiw». m stand e«, die ich draußm gelesen Alles Alle« I ), daß ich gestorbm wäre, um nicht da» da« zu er- trage« I Hüten Sie die Kranke vor Auftegung I" flüsterte der Arzt. Nicht Alle« ist wahr, was in dm Zeitungen steht, mein Herz," suchte Helme sie zu beruhigm;Der« Vater ist wohl krank, aber er lebt." Er lebt ja," sagte Paula düsteraber wie? O, Helme, und Du hast Dich nicht von mir gewandt, wo mich Alle», Alle« verlaffm?" Nie, nie, mein arme« Kind," rief die junge Gräfin, ich bleibe bei Dir; Du darfst mich nicht von Dir weism; e* wird«och Alle« gut werdm hoffe nur, Paula!' Alle« gut werde»? Ja," sagte die Arme leise, wmn ich im Grabe liege o, daß ich auSruhm könnte von oll' dem Herzeleid!' Sie lag wieder still und ruhig. Helene suchte fie zu trösten, aber fie antwortete nicht mehr, bis ihr Geist auf's Neue an zu wander« begann und wilde, erschreckmde Bilder vor die Seele heraufbeschwor. Sie jammerte dabei«ach ihrem Kinde, das man ihr weggenommm hätte, u»d wollte von ihrem Lager aufspringm, so daß sie nur mit ZJlühe ge- Ktm werdm konnte; dann lag fie wieder halbe Stunde» g still und wie tobt. Der Arzt schüttelte de« Kopf, die Erregung war zu viel für die Kranke gewesen: aber mit eines Engels Ge- duld saß Helme an ihre« Lager die ganze Nacht hindurch, und kein Schlaf kam i« ihre Äugm.
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