Nr. 274.

Dienstag, den 23. November 1886.

3. Jahrg.

Berliner Volksblatt.

Organ für die Intereffen der Arbeiter.

Das Berliner Volksblatt"

erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin   frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit der illustrirten Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.)

Redaktion: Beuthstraße 2.

Die Arbeiterbewegung in Nordamerika  .

Die letzten Wahlen in der großen Union   dürfen wohl als ein Beichen betrachtet werden, daß die Arbeiterbewegung in eine neue Phase eintritt. An einer Menge von Plägen, namentlich in New- York  , sind die Arbeiter plötzlich in Masse selbstständig aufgetreten, haben ihre eigenen Kandidaten nominirt und auch gewaltige Stimmenzahlen auf dieselben vereinigt.

Bisher war man gewohnt, die große Masse der nord­amerikanischen Arbeiter bei den Wahlen im Schlepptau anderer Parteien zu sehen. Sowohl die republikanische als die demokratische Partei besaßen eine gewisse Geschicklichkeit in demagogischen Kniffen, mit denen sie die Stimmen der Arbeiter für sich einzufangen wußten. Die Republikaner  priesen ihnen die Schutzollpolitik und die 3entralisation an, während die Demokraten ihnen vorposaunten, alles Glück täme von der Handelsfreiheit und die politische Freiheit des Landes läge im Föderalismus  . Beide übertrafen sich bei der Wahl­agitation in Schmeicheleien den Arbeitern gegenüber; man fonnte fast glauben, sie wären deren Untergebene. Dabei wurden die schwindelhaftesten Versprechungen gemacht und oft die schmußigsten Bestechungsmittel angewendet. Wenn die Wahlen glücklich vorüber waren, dann warf sich der ge­wählte Yankeee wieder plöglich in die Brust und kannte die Arbeiter nicht mehr, die er soeben noch Brüder" titulirt hatte. Die gegebenen Versprechungen zu halten, daran dachte Niemand; fast alle waren eifrig bestrebt, die er­haltenen Mandate zu ihrem persönlichen und pekuniären Bortheil auszunuzen. Ein Theil jener Korruption, die leider ist auch auf die Wahlen übergegangen. wie ein Pfahl im Fleische jenes großen Staatswesens stedt,

Das war und ist doppelt zu bedauern. Denn in der großen Union   bedeutet die Volksvertretung thatsächlich weit mehr als bei uns; fiefann dort wirklich einen gestaltenden Einfluß auf die inneren Verhältnisse des Landes ausüben. Wenn sie so zusammengesett wäre, daß sie ehrlich durchgreifende sozial­politische Steformen erstrebte, so könnte sie leicht ihren Willen durchseßen, leichter als die französische   Deputirtenkammer. So lange die Yankee's dominiren, wird sie freilich niemals einen solchen aufrichtigen Willen zeigen; sie wird vielmehr stets bemüht sein, der gegenwärtigen Klassenherrschaft eine

Stüße zu bilden.

Die verschiedenen Wahlsysteme, die in der Union   be­stehen, sind allerdings nicht so demokratisch, wie man in einer demokratischen Republik erwarten sollte. Die berühm­ten Säge von der Gleichberechtigung Aller, die in der Ver­fassungsurkunde enthalten sind, erscheinen dadurch in einem

[ Rachbruc verboten.]

Feuilleton.

Im Hause des Verderbens.

Kriminalroman.

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Von Reinhold Ortmann. Nichts hielt ihn auf seinem Wege auf; alles schien rings umher im tiefsten Schlummer zu liegen und ohne jede Behelligung fam er in das Parterregeschoß. Hier überlegte er noch einige Sekunden, ob er es nicht doch wagen sollte, durch die Thür das Freie zu gewinnen; aber er verwarf den Gedanken wieder und wendete sich nach rechts, da er genau wußte, daß die in dieser Richtung liegende Zimmer­flucht völlig unbenutzt war. Der Griff der Thür gab dem Druck seiner Hand nach, aber die rostigen Angeln drehten

hielt er inne, um zu horchen; aber auch jezt noch regte sich nichts, und so trat er denn vollends in das Zimmer, die Thür hinter sich offen lassend, um nicht noch einmal un­nöthigen Lärm zu verursachen. Es herrschte eine fast un­durchdringliche Finsterniß in den Räumen, die er durchschritt; aber die Einfachheit und Dede der Ausstattung, die er sonst so oft verwünscht hatte, tam ihm jetzt vortrefflich zu statten. Nirgends stand ihm ein Möbelstück im Wege, gegen das er polternd hätte stoßen müssen und die Thüren lagen in einer leicht wurde, die Griffe zu finden.

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Insertionsgebühr

beträgt für die 4 gespaltete Petitzeile oder deren Raum 40 Pf. Arbeitsmarkt 10 Pf. Bei größeren Aufträgen hoher Rabatt nach Uebereinkunft. Inserate werden bis 4 Uhr Nachmittags in der Expedition, Berlin   SW., Bimmerstraße 44, sowie von allen Annoncen- Bureaur, ohne Erhöhung des Preises, angenommen.

Expedition: Bimmerstraße 44.

eigenthümlichen Licht; fie mußten noch eigenthümlicher er­scheinen, so lange noch die Sklaverei bestand. Doch sind die Wahlsysteme nicht so, daß sie, wie in so manchen europäi­schen Staaten, die Arbeiter von allen Erfolgen ausschließen, wenn sie selbstständig auftreten; im Gegentheil haben die Arbeiter mächtige Chanzen. Man kann sich nur wundern, daß sie dies nicht früher eingesehen haben. Es mag sein, daß die hastige Jagd nach Gewinn und Er­werb, die das hervorragendste Merkmal des sozialen Lebens in den Vereinigten Staaten   bildet, sich theilweise auf alle Klassen übertragen und so auch die große Masse des arbeitenden Volkes gewöhnt hat, ihr Augenmerk auf den Erwerb zu richten. Das ist jetzt offenbar anders geworden, denn die Masse beginnt sich mit den politischen und ökonomischen Tagesfragen zu beschäftigen. Wenn sie er­kennt, welche Macht ihr durch die demokratischen Ein­richtungen verliehen ist, so wird es ihr leicht sein, auf dem friedlichsten Wege von der Welt eine Gesetzgebung zu erwirken, die wenigstens einen großen Theil der ökonomi­schen Kalamitäten zu beseitigen und eine gesunde Basis zur Fortentwicklung zu beschaffen geeignet wäre.

Die amerikanischen   Arbeiter werden damit leichter fahren, als die europäischen. Ihnen ſteht nicht eine gebildete Bourgeoisie gegenüber, deren Existenzberechti­gung von einem wohlgeschulten Gelehrtenthum wissenschaftlich verfochten wird. Ueber solche Dinge zerbricht sich der Yankee wenig den Kopf. Man sah beim Auftreten von Henry George   in New- York  , wie wenig die Yankees diesem wissen­schaftlich befähigten Manne gewachsen waren.

Die alten Parteien der Union   sind im Niedergang be­griffen. Sie sind zu wenig mit der Zeit vorwärts ge­fchritten; sie stehen im Wesentlichen noch auf demselben Boden, den sie zur Zeit des großen Sezeffionsfrieges inne hatten. Sie find unfähig, gesunde positive Reformen zu schaffen, denn ihre politische Weisheit hat sich längst aus­gelebt. Und wo sollte eine neue herkommen?

Die Arbeiter der großen Union haben eine schöne und großartige Aufgabe zu erfüllen; sie haben in das poli­fische Leben, das von den Yankee's mit deren Brutalität fische Leben, das von den Yankee's mit deren Brutalität oft so sehr herabgewürdigt worden ist, wirklich demokratische Formen und demokratisches Wesen einzuführen. Die Ar­beiter werden die große moralische Reform herbeiführen, daß

bei den Wahlen die Gesinnung und nicht mehr der Dollar entscheidet. Ihr Masseneintritt in die politische Arena wird reinigend und flärend auf die ganze politische Atmosphäre

wirken. im Sinne der Damit werden sie auch Stifter jener großen Republik   handeln, denn jene wahrhaft edeln Männer wie Washington, Franklin und Thomas Paine   haben sich niemals träumen

sobald er nur erst den Sandboden des Parkes unter seinen Füßen hatte.

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Das Glück ist mir doch noch nicht ganz untreu und ich werde es zu mir zurück zu zwingen wissen," murmelte er mit einem flüchtigen Wiederaufleben seiner alten Zu­versicht, indem er sich mit einem Bein auf die Fensterbank schwang. In demselben Augenblick aber, als er sich anschickte, vollends hinauf zu springen, fühlte er sich von zwei mensch­lichen Armen wie von eisernen Klammern umschlungen, und eine Stimme, deren Klang ihm nur zu bekannt war, rief mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft nach Hilfe.

Sie, die er suchen wollte, hatte ihn selbst gesucht und nur zu rasch hatte sie ihn gefunden. Auf seinem ganzen Wege durch die dunklen 3immer mußte fie ihm nach­geschlichen sein, um diesen letzten Augenblick für die Aus­

führung ihrer Abficht zu benußen. Jetzt hielt sie ihn mit der Kraft einer Verzweifelten fest und wenn auch Ramfelb die ganze, keineswegs geringe Kraft seiner sehnigen Arme aufbot, um sich aus der unerwünschten Umschlingung zu befreien, so gab der heiße Durst nach Rache seiner Feindin doch eine nahezu übermenschliche Stärke. Budem brachte ihn seine halb sigende Lage in einem Nachtheil, der ihn einige unschäzbare Sekunden verlieren ließ.

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Juanita," zischte er, Juanita, das ist Dein Tod! Auf der Stelle läßt Du mich los, oder bei Gott-" Bu Hilfe! Bu Hilfe!" war ihre einzige, mit voller Lungenkraft hervorgefstoßene Antwort, und Ramfeld. mußte

wohl einsehen, daß hier auf ein Nachgeben und auf Mitleid nicht zu rechnen sei. Aber loskommen mußte er um jeden Preis. So machte er denn mit einem gewaltigen Rud seinen

Bier over fünf 3immer hatte er so durchschlichen und er glaubte sich jetzt meit genug von der Thür entfernt, um von einem dort etwa postirten Wächter nicht bemerkt zu werden. Mit äußerster Vorsicht machte er sich nun daran, Juanita's Hals  . Ihr Hilfegeschrei verstummte und machte und wenn auch die vielleicht seit Monaten nicht zurüdge­eines der nach dem Park hinausführenden Fenster zu öffnen, schobenen Riegel feinen Bemühungen eine gute Weile einen

einem dumpfen Stöhnen Play, aber ihre Arme schienen sich nur desto fester um seinen Leib zu schließen.

Und wenn ich Dich erwürgen soll, ich lasse Dich

hartnäckigen passiven Widerstand entgegenseßten, so gelang nicht!" zischte er ihr in's Ohr, seine Finger noch krampfiger es ihm doch endlich, einen Flügel ohne nennenswerthes Ge- zusammendrückend.

Juanita fühlte, daß ihre Sinne zu schwinden begannen.

war fast unmöglich, daß man ihn noch wahrnehmen sollte, niß rings erfüllte sich plötzlich für sie mit allerlei treifenden Draußen war alles in tiefste Finsterniß eingehüllt. Es Ihre keuchende Bruſt rang umsonst nach Athem, die Finster­

| lassen, daß ihr stolzes Werk die Beute einer Dollar­Oligarchie werden könne.

Der Anfang, den die amerikanischen   Arbeiter bei den legten Wahlen gemacht haben, war gut. Wir denken, daß das Verlangen nach einer selbständigen Arbeiterbewegung allerwärts die Massen ergreift. Nur so kann das von den Yankee's forrumpirte politische Leben der Union   wieder ge= sunden.

Politische Uebersicht.

Der Reichstag   wird am Donnerstag Mittag 12 Uhr im weißen Saale des föniglichen Schloffes eröffnet werden, wahr­scheinlich durch den Staatssekretär von Bötticher. Eine der ersten Vorlagen dürfte das Militärseptennat betreffen. Der Bundesrath gedachte gestern die Berathung darüber zu be­endigen.

Zum Kampf gegen die Fachvereine. Wir lesen in der Nordd. Allg. 3tg." aus Liegnig, 19. November: ,, Seit einigen Jahren besteht zu Liegniß ein Fachverein der Tischler und Instrumentenbauer, dessen Bestrebungen ausschließlich darauf gerichtet sein sollten, die Lage der Tischlergesellen zu verbessern, insbesondere durch Erhöhung der Löhne und Beseitigung der Affordarbeiten. Das Auftreten des Vereins war aber, wie der ,, Schles. 3tg." berichtet wird, mit der Zeit ein so kühnes ge­worden, daß die Arbeitgeber beinahe unter der errschaft der einzelnen Vereinsmitglieder standen. Dies und die Wahrnehmungen, daß der Fachverein der Tischler von seiner eigentlichen Tendenz abwich, indem er hauptsächlich einen Versammlungspunkt politischer und sozialisti­scher Gesinnungsgenossen bildete, gab Veranlassung zu einem energischen Vorgehen gegen denselben. Durch umfangreiche Recherchen wurde zunächst festgestellt, daß der betreffende Ver­ein mit dem Bentralverein in Stuttgart   in schriftlichem Ver­tehr stand, sowie daß die vorgefundenen Korrespenzen gegen feitige Unterſtügungen bei Arbeitseinstellungen und im legteren Falle auch Fernhaltung des Zuzuges zusicherten. Aus allen diesen Feststellungen schloß man, daß der Verein ein polis tischer sei. Es ist deshalb die Untersuchung gegen die Vorstandsmitglieder und zugleich die Schließung des Vereins beantragt worden." Diese Korrespondenz plau=

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dert sehr unüberlegt aus der Schule. Daß es den Unternehmern recht unangenehm ist, wenn ein Fachverein großen Einfluß ge­winnt, das glauben wir gern, aber was geht es die Be hörden an, daß die Arbeitgeber beinahe unter die Herrschaft des Vereins" geriethen. Wir haben noch nie davon gehört, nehmerverbände eingeschritten wären, auch dann nicht, wenn die Arbeiter ganz nach deren Pfeife tanzen mußten. Ferner müssen wir ganz erstaunt fragen: seit wann denn ein Verein, wie die Korrespondenz andeutet, dadurch zu einem politischen" wird, daß er mit einem Zentralverein im vorliegenden Falle mit dem in Stuttgart   Briefe wechselt und andere Vereine bet Streits unterstüßt? Die Nordd. Allg. 3tg." glaubt offenbar, fich den Arbeitern gegenüber einen gewissen 3ynismus gestatten

daß die Behörden in ähnlicher Weise gegen einflußreiche Unter­

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und tanzenden Figuren, mit Feuerrädern und bunten, phantastisch gestalteten Flecken. Die Kraft ihrer Muskeln ließ nach, ein dumpfes Summen und Brausen tönte ihr in den Ohren, und willenlos sank sie endlich zurück.

In demselben Moment, wo sich ihre Arme löften, löften sich auch die eiskalten Finger von ihrem Halse und mit einem einzigen Sprunge war Ramfeld unten in dem Park.

Aber Juanita's Hilfegeschrei hatte den Gendarmen und den Portier alarmirt, und wenn sie zuerst auch nach falscher Richtung gelaufen waren, so famen sie doch rechtzeitig, um den aus dem Fenster Springenden förmlich in ihren Armen aufzufangen. Ramfeld wehrte sich wie ein Verzweifelter, allein er fühlte bald die Ueberlegenheit der beiden starken Mäaner, und als er plößlich die blanke Waffe des Gendarmen vor seinem Gesicht fah, ergab er sich in sein Schicksal.

Die beiden Männer hatten ihn in seiner Verkleidung noch nicht erkannt, aber er wußte ja, daß eine Entdeckung unausbleiblich war und so entschloß er sich zu einem letzten verzweifelten Mittel. Mit einem Ruck den falschen Bart und die Brille entfernend, zeigte er ihnen sein wahres Ge­sicht und sagte in brüskem Tone:

Werden Sie mich jetzt unbehelligt lassen?- Sie sehen, daß es sich um einen Scherz handelt und Ihr allzu großer Diensteifer wird Ihnen sicherlich keine angenehmen

Früchte tragen!"

des

,, Ueber diesen Scherz werden Sie mir wohl einige nähere Mittheilungen machen!" sagte die falte Stimme beg Polizeikommissars hinter ihnen und eine feste Hand legte sich auf Ramfeld's Schulter. Doktor Ramfeld, ich verhafte Sie! Gendarm, legen Sie diesem Manne Hand­schellen an!"

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Herr!" fnhr Ramfeld empor. Doch man nahm auf seine zornige Aufwallung keine Rücksicht mehr. Mit gefessel­ten Händen wurde er vor den Untersuchungsrichter geführt und der erste Gegenstand, auf welchen seine Blicke fielen, war seine vor dem Beamten liegende Brieftasche. Nun war sein Schicksal besiegelt. An Leugnen war nicht mehr zu denken und so hüllte er sich denn in ein düsteres, hart­