Nr. 290.
Sonnabend, den 11. Dezember 1886.
3. Jahrg.
Berliner Volksblatt.
Organ für die Interessen der Arbeiter.
Das„ Berliner Volksblatt"
erscheint täglich Morgens außer nach Sonn- und Festtagen. Abonnementspreis für Berlin frei in's Haus vierteljährlich 4 Mart, monatlich 1,35 Mart, wöchentlich 35 Pf. Postabonnement 4 Mart. Einzelne Nummer 5 Pf. Sonntags- Nummer mit der illustrirten Beilage 10 Pf. ( Eingetragen in der Postzeitungspreisliste für 1886 unter Nr. 769.)
Redaktion: Benthstraße 2.
Eine Erklärung des preußischen Kriegsministers.
Unsern Lesern ist bekannt, daß vielfach Soldaten beurlaubt werden, um bei Erntearbeiten Hilfe zu leisten und daß es gerade die Großgrundbesizer sind, denen diese Hilfe zu Gute kommt. Ferner ist es bekannt, daß auch Soldaten direkt bei Privatunternehmern in den verschiedensten Arbeitszweigen beschäftigt werden.
Besonders aber sind dieselben beim Lohnkampfe der Arbeiter den in ihren Einnahmen bedrohten Kapitalisten zu Hilfe geschickt worden.
So geschah dies speziell bei den jüngsten Buch= bruckerstreifs in Wesel und bei Sittenfeld in Berlin , dann bei dem Schäfflerstreik in München . In Wesel und München wurden die abkommandirten Soldaten von dem Armeekorpskommandanten zu Münster resp. vom bayrischen Kriegsminister wieder von der Arbeit zurückgerufen und zwar unter ausdrücklicher Anerkennung des Grundsages, daß die Soldaten nicht bei Privaten als Konkurrenten den Arbeitern gegenüber beschäftigt werden dürften.
Auf Grund dieser Thatsachen interpellirten die Sozialdemokraten bei der Etatsberathung durch den Abg. Kayser im Reichstage den Kriegsminister von Preußen.
Der Kriegsminister erklärte, daß die beiden Fälle in Wesel und München ihre wünschenswerthe Erledigung gefunden hätten, die Beschäftigung von Soldaten bei Sittenfeld sei ihm nicht näher bekannt, deshalb könne er sich auch nicht weiter auf eine Besprechung dieses Falles ein lassen. Es wäre ihm lieb, wenn ihm nähere Details, wie viele Soldaten und wie lange Zeit dieselben dort gearbeitet hätten, mitgetheilt würden.
Wir glauben, daß es sich für die betreffenden Buchbruderkreise wohl empfehlen dürfte, das nöthige Material an ben preußischen Kriegsminister abzugeben.
Im übrigen aber gab der Kriegsminister die weitere Erklärung ab, daß er die Beschäftigung der Soldaten bei Privatarbeiten nur dann für zulässig erachte, wenn ein Nothstand vor= handen sei, wie z. B. bei Feuersgefahr, Schiffbruch und Waffersnoth.
Diese Erklärung halten wir für korrekt, und es ist nur zu wünschen, daß der Kriegsminister dieselbe allen Militärtommandos zukommen läßt zur strengsten Nachachtung.
Wenn nach dieser Erklärung des Kriegsministers gehandelt wird, so fällt dann auch, ganz abgesehen von der Ronkurrenz der Soldatenarbeit bei Streits, vor Allem, wie schon angedeutet, die Bevorzugung der Großgrundbefizer
[ Matbrudt verboten.]
Feuilleton.
Die Verführerin.
Novelle von D. Colonius.
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fort, denen jetzt im ausgedehntesten Maße die frische und billige Soldatenkraft bei der Ernte zur Verfügung gestellt wird, wodurch die ländlichen Arbeiter vielfach bedrückt und in ihrem Lohne beschränkt werden.
Bedenkt man dabei, daß die Militärmacht in Deutschland durchweg durch indirekte Steuern erhalten wird, daß aber gerade diese Steuern in ihrer in ihrer ganzen Schwere auf den Schultern der Arbeiter ruhen, so war eigentlich die Erklärung des Ministers selbstverständlich.
Jedoch macht sie deshalb einen guten Eindruck, weil man in den letzten Jahren nur selten aus dem Munde eines Regierungsvertreters ein ernsthaftes Wort zu Gunsten der Arbeiter vernommen hat. In unserer Zeit, wo die ganze Sozialreform im Wesentlichen durch Verbotsgesetze und Polizeimaßregeln zum Ausdruck gelangt, wo der Herr Minister des Innern des Reichs nur allerlei unbestimmte Andeutungen über die Fortführnng der Sozialreform zu machen weiß und der Herr Minister des Innern von Preußen das ganze Heil der Arbeiterklasse im Sozialistengesetz zu finden vermeint, muß es allerdings angenehm berühren, wenn gerade der Kriegsminister Erklärungen abgiebt, die dazu geeignet sind, die Arbeiter in ihren Lohnkämpfen zu schützen.
Aber eins ist nicht aus dem Auge zu lassen. Die Arbeiter müssen gegebenen Falles den Herrn Kriegsminister beim Wort halten.
Auch die Arbeiterblätter werden wohl daran thun, die Erklärung des preußischen Kriegsministers, nach der auch wahrscheinlich die Chefs der Heeresverwaltungen in den anderen deutschen Staaten sich richten werden, besonders hervorzuheben.
Wir thun dies, indem wir die Erklärung hier an hervorragender Stelle einer furzen Besprechung unterworfen haben.
Aus der Militärkommiffion.
Die gestrige Sigung der Reichstagstommission zur Berathung der Militärvorlage murde um 10 Uhr Vormittags eröffnet.
Nachdem der Kriegsminister auf speziellen Wunsch des Chefs des Generalstabs der Armee noch die Mittheilung gemacht hatte, daß die den Mitgliedern der Kommission über reichten Karten, soweit sie den Osten Deutschlands betreffen, gleichfalls als vertraulich anzusehen seien, erhielt der Abg. Richter das Wort. Derselbe schloß sich den Wünschen seiner Fraktionsfreunde an, die weitere Aufklärungen über die politische Weltlage in der geftrigen Sitzung verlangt hatten. Darauf ging er auf die Einzelheiten der Rede des Kriegsministers ein. Den Schwerpunkt der Vorlage legte er auf die dauernde Belastung des Volkes und stellte die
kommen nur dann vor, wenn die Summe der Höfe oder der im Dorfe vorhandenen Knechte und Mägde eine un [ 6 gerade ist, so daß zwei Knechte auf eine Magd, awei Mägde auf einen Knecht kommen, oder auch wenn ein Unberufener im Rausche es wagt, an ein fremdes Liebchen Hand anzuLegen.
Den Czechen ist das Lieben oder vielmehr das: einen Geliebten, eine Geliebte haben eben so sehr ein Sonntagsbedürfniß, wie ein zweites Kleid, wie Brot und Salz ein tägliches ift. Dabei ist ihnen das Lieben nicht eigenttiche Angelegenheit des Herzens, der Seele, des Geistes oder des Körpers, sondern rein Geschäftssache. In den untern Volksklassen( und höhere giebt es eigentlich nicht) betrachten sich die Liebenden etwa so, wie der Raufmann die Artikel seines Geschäfts; wenn ihm einer ausgeht, muß er burch einen andern ersetzt werden. In einem größeren Hofe find die vorhandenen Knechte und Mägde einander zugetheilt, wie wenn etwa das Loos entschieden hätte. Von einer freien Wahl ist nie die Rede. Tritt ein Knecht aus dem Dienst, so sieht sich die entsprechende Magd, seine Geliebte, durchaus nicht veranlaßt, ein Gleiches zu thun, sondern der neuaufgenommene Knecht übernimmt die Pferde, das Lager im Stalle, den Platz am Tische und auch die Beliebte des früheren, gleichviel ob dieser gestorben, in den Kriegsdienst berufen oder nur zu einem andern Herrn eingetreten ist.
wieder trennt.
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Oftmals weinen beide Theile beim Abschiede- die Gewohnheit vermag doch viel!- find aber sicherlich am nächsten Sonntag wieder vollkommen getröstet und bleiben ihrem neuen„ Schatz" so lange getreu, bis das Schicksal fie Daß eine fünfunddreißigjährige Magd oftmals einem einundzwanzigjährigen Burschen anheimfällt, ist ganz natürlich, welcher Umstand indeß das Glück Beider nicht im Geringsten stört. Bei alledem wird beiderseits fehr auf Treue, Aufrichtigkeit und Verschwiegenheit gesehen. Wehe dem Mädchen, das mit einem Andern als mit ihrem Beliebten tanzt, einem Andern die übrig gebliebenen Dalken oder Klöße übermacht, oder andern Pferden das gestohlene ober erbeutete Futter zuschiebt. Schlägereien beim Tanze
3wischen den Mädchen und Burschen der wohlhabenderen Bauern findet bis auf die durch den Standesunterschied bedingten Einzelheiten dasselbe Verhältniß statt. Der eigent liche ,, stockböhmische"( czechische) Bauernstand besteht meist aus roh sinnlichen, argliftigen, zum Diebstahl und Betrug geneigten Menschen, von welchen jedoch die Familie des Rich ters in Bechlin, wie viele andere im Lande, die wir fennen lernen Gelegenheit hatten, glänzende Ausnahmen bilden.
zu
Rosarka war durch ihren Klugen Vater zwar nicht dem gesellschaftlichen Umgange, aber vielmehr dem gefährlichen Einflusse ihrer Umgebung entzogen worden. Aeußerlich gestattete er ihr eine freie Entwickelung, so daß sie sich von ben anderen Mädchen im Dorfe in nichts unterschied; in der Bildung ihres Gemüths aber verfolgte er Schritt für Schritt seinen selbst entworfenen Plan, so daß er sie allmälig zu einer eigenen Anschauung, zu einem individuellen Urtheil führte, natürlich mußten die niedrigen Gebräuche und die Sittenlosigkeit der Bauern ein abschreckender Gegen satz zu den Ansichten Rosarka's werden.
Diese Erziehung Rofarta's hatte zwar einerseits den Vortheil, daß der Spiegel ihrer Seele von dem Dunste der sie anhauchenden Gemeinheit nicht getrübt werden konnte, andererseits aber härtete das Gefühl des Alleinseins ihren Charakter bis zu einem gewissen Grade ab. Konsequenz ist eine der schönsten Tugenden des Mannes; auch im Leben des Weibes ist sie ein schöner 3ug; weit schöner aber noch ist Nachgiebigkeit und Milde. Rosarka war unerschütterlich in ihrem Willen, unlentsam in ihren Neigungen, unerbittlich in ihren Abneigungen geworden, ja selbst in ihrer Nachgiebigfeit war sie fonfequent. Sie fannte wenige gesellschaftliche Formen und ließ diejenigen, die sie kannte, unbeachtet, sobald sie ihren Ansichten entgegentraten. In dem Wesen Rosarka's lag eine sonderbare Mischung von Ruhe und Leidenschaft,
österreichische Kriegsmacht an der Hand einer Reihe von Bahlen als viel günstiger hin, als der Kriegsminister dies Tags zuvor gethan hatte. Die Präsenzziffer sei nicht allein entscheidend für die Heerestüchtigkeit, es fomme hauptsächlich darauf an, wie viel ausgebildete Soldaten im Kriegsfall vorhanden feien. Inbezug auf die Kriegsmacht Frankreichs erklärte der Redner, daß die dort eingeführte allgemeine Wehrpflicht in Frankreich noch auf Jahre hinaus nicht diejenige günstige Wirkung auf die Kriegs tüchtigkeit der Armee ausübe, als dies in Deutschland der Fall sei, wo die allgemeine Wehrpflicht viel länger existire. Die Furcht vor der französischen Kriegsmacht müsse unter diesem Gesichtspunkt sich bedeutend vermindern. Redner theilte ver schiedene vergleichende Zahlen mit, die mit den vom Kriegsminister mitgetheilten zu Ungunsten der Heeresstärke Frankreichs in vielen Theilen abwichen. Frankreichs Truppen aber seien mehr oder minder über den Erdkreis vertheilt. In Algier und Tongling ständen bedeutende Truppentheile, die bei einem Kriege mit Deutschland nicht in Betracht täme. Die Zahl dieser Truppen betrage aber 7000 Mann. Redner versuchte den Nach weis, daß ein großer Theil der französischen Mannschaften nur 10 Monate ausgebildet würde, und daß, wenigstens nach den Anschauungen des Kriegsministers, der fest auf der dreijährigen Dienstzeit bestehe, solche Truppen feine genügende Ausbildung für den Krieg befäßen. Wenn immer auf die Reorganisation des Ministers Boulanger als auf ein Muster hingewiesen würde, so mache er darauf aufmerksam, daß um diese Reorganisation heftige Rämpfe zwischen Regierung und Kammer ausgebrochen seien, daß aber auch die Kammer jetzt schon ihr jährliches Budgetrecht in dieser Frage gewahrt habe, so daß alljährlich die 3ahl der Refruten festgesezt werde, daß aber auch die Kammer bei den zweijährigen Soldaten zu entscheiden habe, wann und wie viele derselben zu entlassen seien. Wenn dem Deutschen Reichstage solche Rechte zuständen, ließe sich viel leichter über die gegenwärtige Vorlage verhandeln. Die Franzosen hätten übrigens in derselben Zeit im vorigen Dezennium die Präsenzziffer um 17 000 Mann vermehrt, in welchem Deutschland dieselbe um ca. 60 000 Mann erhöht habe. Frank reich habe in Folge der Erhöhung der Zahl unserer Infanterie die seinige dann gleichfalls verstärkt. Noch immer hätten wir bei der Infanterie eine um 11 000 Mann höhere Präsenz als iene. Richter erbittet sich vom Kriegsminister Auskunft darüber, wann die Verhandlungen bei den Regierungen über die Mi litärvorlage Anfang und Ende gehabt hätten, und ob dieselben unterbrochen gewesen seien. Die ungemeine Beschleunigung der Berathung der Vorlage halte er gar nicht für zweckmäßig; man solle erst die Entwickelung der Dinge abwarten, dann erst fönne man fich für ein zweddienliches Gesetz entscheiden. Sonderbar erschien es auch dem Redner, daß der Kriegsminister die Ver mehrung der Artillerie als eine Konsequenz, der Vermehrung der Infanterie hingestellt habe. Der Kriegsminister habe gesagt, daß die Vermehrung der Infanterie deshalb nothwendig sei, weil dieselbe im Kriege nicht allein durch die Gefechte, sondern überhaupt die weitaus größten Verluste aufzuweisen habe, die Artillerie aber habe nur ganz geringe Verluste. Das
von jungfräulicher Schüchternheit und kühner Freiheit, von zarter Weiblichkeit und männlicher Festigkeit, von naiver Unbefangenheit und durchdringendem Scharfsinn. Nichts desto weniger aber war sie edel und liebevoll, ohne Hochmuth und Selbstsucht, hingebend und aufopfernd, wo sie liebte und Tonda war der Gegenstand ihrer ersten, einzigen und ewigen Liebe.
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Tonda war als Kind schon der einzige Gesinnungsgenosse Rosarta's gewesen; bei ihr war es die Erziehung, bei ihm ein natürlicher, gewaltsam emporstrebender Sinn für das Gute und Schöne, wodurch die beiden Kinder sich vor allen anderen im Dorfe auszeichneten.
Der Richter selbst fand an dem aufgeweckten, geistesfrischen Knaben viel Gefallen und ließ ihn an dem Unterrichte Rosarka's Theil nehmen. Sein ausgezeichnetes Gedächtniß und seine ungewöhnliche Auffassungsgabe brachten ihn bald dahin, daß er an seinen Lehrer Fragen stellte, die dieser nicht mehr zu beantworten wußte; Tonda hatte die Gelehrsamkeit des Richters schon in seinem zwölften Jahre erschöpft.
Resarka, welche sich allen anderen Kindern im Dorfe
so sehr überlegen fühlte, blickte mit einer Art Verehrung zu Tonda hinauf, den sie in keinem Stücke zu erreichen vermochte; sein freundliches und liebevolles Benehmen gegen fie ließ den hin und wieder erwachenden Neid nicht auftommen, und war überdies noch Veranlassung, daß sie sich vertrauensvoll an ihn anschmiegte.
In seinem zwölften Jahre lief Tonda, der einige Jahre hindurch den Viehhirten in seinem Geschäfte hatte unterftüßen müssen, davon; er bettelte sich von Dorf zu Dorf, bis er nach Jung- Bunzlau kam, woselbst wohlhabende Verwandte sich seiner annahmen und ihn in seiner Neigung zum Studium unterstüßten. Hier begann der arme, halb verwahrlofte Bursche seine Laufbahn. Auf dem JungBunzlauer Gymnasium erhielt er seinen ersten gründlichen Unterricht. Späterhin ging er nach Prag zur Üniversität. Aber ohne Mittel, ohne jegliche Unterstüßung, war er gezwungen, theilweise durch Unterricht, theilweise durch niedrige Dienstleistungen seinen kleinen täglichen Bedarf zu erwerben,